Eine bewegte Reise

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Die Luxemburgerin Anne-Mareike Hess lernt Australien von seiner tänzerischen Seite kennen.

Vor etwa drei Jahren lernte die luxemburgische Choreografin Anne-Mareike Hess die künstlerische Leiterin des Dancehouse Melbourne, Angela Conquet, kennen. Der Plan entstand, gemeinsam mit dem Trois C-L („Centre de création chorégraphique luxembourgeois“) ein Residenz-Austauschprogramm auf die Beine zu stellen. Vergangenen Dezember war nun der australische Choreograf James Batchelor in Luxemburg zu Gast und Anne-Mareike Hess verbringt derweil nach einem spannenden Schaffensprozess ihre letzten Tage in der inoffiziellen Hauptstadt Australiens.

Tageblatt: Wie dürfen wir uns Ihre Zeit in der Residenz im Dancehouse Melbourne vorstellen?
Anne-Mareike Hess: Einen Monat lang hatte ich die Möglichkeit, die Arbeit an meiner neuen Produktion zu beginnen und die australische Kultur sowie die Tanzszene zu entdecken. Während zwei Wochen wurde mir Zugang zu einem Tanzstudio im Dancehouse gewährt. Darüber hinaus hatte ich das Glück, dass während dieser Zeit der „Keir Choreographic Award“ – ein choreografischer Wettbewerb mit einem ausgedehnten Begleitprogramm in Form von Showings, Diskussionen und Begegnungen – stattfand, sodass ich einen breitgefächerten Einblick in den hiesigen zeitgenössischen Tanz bekommen und lokalen Künstlern begegnen konnte.

Welchen Mehrwert stellen Ihrer Meinung nach Residenzen dar? Geht es dabei eher darum, sich als Künstlerin förmlich zu isolieren, um produktiv sein zu können, oder spielen hier gerade das Kollektiv und der Austausch die wichtigste Rolle?
Die Motivation, sich in eine Residenz zu begeben, kann je nach Ort und Kontext ganz unterschiedlich sein: Networking, Erarbeitung einer neuen Produktion, Recherche, Zusammenarbeit mit lokalen Künstlern, technische Unterstützung … oder eben Inspiration. Man muss sich wohl jedes Mal auf ein Neues den Kontext bewusst machen, sich einen Fokus setzen und auch verstehen lernen, was man gerade braucht. Das Arbeiten in Residenzen ist eine gängige Praxis im zeitgenössischen Tanz, die Situation spitzt sich in den letzten Jahren jedoch aus ökonomischen Gründen immer mehr zu.
Ich arbeite regelmäßig in Residenzen in Stockholm, Göteborg und Berlin. Mittlerweile kenne ich den Kontext dort sehr gut und lasse mich natürlich von dem jeweiligen Umfeld beeinflussen, hole mir Feedback von mittlerweile befreundeten Künstlern, fokussiere mich aber hauptsächlich auf meine Arbeit im Studio.

Und was trifft nun auf die Reise nach Australien zu?
Meine Entscheidung, nach Melbourne zu kommen, war eine Entscheidung für den Austausch und das Kennenlernen einer anderen Kultur. Ich wollte mich ganz bewusst beeinflussen, verwirren und inspirieren lassen, eintauchen, lernen, bis mir der Kopf schwirrt. Ich bin in der guten Situation, dass ich bis zu meiner nächsten Premiere noch einige Monate Zeit habe und ich es mir deshalb erlauben kann, weit aufzumachen und neue Gedanken hineinzulassen.

Welche Schwerpunkte haben Sie gesetzt?
Mein Fokus für meine Zeit hier liegt vor allem bei den Menschen und den Umständen, in denen sie leben. Australien befindet sich mit seiner blutigen kolonialen Vergangenheit und Gegenwart in einer ganz komplexen und verzwickten Situation.
Es war sehr interessant für mich, zu sehen, welche Themen die Menschen (im wahrsten Sinne des Wortes) bewegen, wie die Gesellschaft strukturiert ist, wie das künstlerische Schaffen davon beeinflusst wird und wie die Tanzszene organisiert ist. Das erweitert meinen Horizont und lässt mich im Gegenzug kritisch über meine eigene Arbeit und die Tanzszene in Luxemburg und Europa nachdenken. All dies schlägt sich auf Umwegen im Studio nieder.

Variiert Körpersprache stark von einem Kontinent zum anderen? Gibt es essenzielle Unterschiede, die Sie zwischen Europa und Australien ausmachen konnten?
Um über Unterschiede sprechen zu können, muss man erstmal den spezifischen Kontext an einem bestimmten Ort verstehen: Die weiße australische Geschichtsschreibung beginnt mit der Kolonialisierung des Landes 1788. Dabei wurde die indigene Bevölkerung, die schon vor über 50.000 Jahren nach Australien kam, systematisch verdrängt, getötet oder versklavt. Darauf wurde das heutige Australien aufgebaut. Die Wunden sind tief und kompliziert. Die weißen Siedler beanspruchen immer noch die Vormacht („white male supremacy“). Auch der menschenrechtlich völlig unverantwortliche Umgang (oder Nicht-Umgang) mit Flüchtlingen in Australien sorgt für viele Diskussionen.
Neben diesen spezifisch australischen Themen haben, wie in vielen europäischen Ländern auch, die Themen Diskriminierung, Frauenfeindlichkeit, Gender und Transgender eine große Dringlichkeit. Dies sind grob zusammengefasst die Umstände, in denen viele Künstler und politische Aktivisten hier leben.
Ich würde also nicht sagen, dass es so sehr die Körpersprache ist, besonders wegen der eurozentrischen Ausrichtung Australiens und des zeitgenössischen Tanzes, sondern das, was die Menschen hier beschäftigt. Kunst und zeitgenössischer Tanz sind ein Spiegel der Gesellschaft und darin liegen aus meiner Sicht die größten Unterschiede.

Wie politisch war die Kunst vor Ort?
Ich erhielt einen Einblick in die Tanzszene in Melbourne und Sydney und war überrascht von den öffentlichen Diskussionen über die Verantwortung von Kunst in der Politik und ich habe gerade bei den jungen Künstlern ein starkes Engagement gespürt. Ich habe den Eindruck bekommen, dass es viel mehr kritische Diskussionen und einen stärkeren künstlerischen Diskurs gibt als z.B. in Luxemburg. Dies mag an der Größe liegen, aber auch an einem Mangel an politischem Bewusstsein in der luxemburgischen Kultur.

Wie kombinieren Sie das neu Erfahrene mit bereits Bekanntem?
Die Vielzahl an Themen, die hier in Melbourne aktuell Relevanz haben und die Wucht, mit der sie mich getroffen haben, hat mich sehr verwirrt, viele Fragen aufgeworfen und mich schlussendlich auch inspiriert. Ich habe meine Motivation als Choreografin reflektiert und wollte eruieren, was mich antreibt. Ich habe über meine Privilegien nachgedacht und darüber, wer Zugang zu Bühnen hat und welche Stimmen gehört werden.
Ich musste oft an die luxemburgische Tanzszene denken und ich habe mich gefragt, was dort die vorherrschenden Themen sind und wo dort die inhaltlichen Diskussionen stattfinden. Ich weiß nicht, ob ich eine Antwort darauf habe, aber inspiriert von der Auseinandersetzung in Melbourne weiß ich jetzt, dass ich gerne mal darüber sprechen würde. Denn mir scheint es so, als würden solche Diskussionen nicht wirklich stattfinden oder gar gefördert werden. Politik und Tanz berühren sich meist nur kulturpolitisch, nicht aber auf der Bühne.

Wie empfanden Sie den „Bewegungsspielraum“ als Mensch und als Künstlerin in Melbourne?
Ich habe mich in keinster Weise eingeschränkt gefühlt. Melbourne wurde zum x-ten Mal in Folge zur „most livable city“ gewählt und das kann ich gut nachvollziehen. Und auch als Künstlerin kann ich keine Restriktionen feststellen.
Ein interessanter Aspekt ist aber die räumliche Isolation von Australien vom Rest der Welt. Das Land ist zwar riesig, jedoch eben eine Insel. Ich musste oft schmunzeln, wenn sich die Künstler in Melbourne darüber beschwerten, wie klein ihre Tanzszene sei und wie wenig Aufführungsmöglichkeiten es im Land gebe … Aus luxemburgischer Perspektive kann ich da nur sagen: Die haben ja keine Ahnung, was „klein“ bedeutet!
Verständlich trotzdem, dass australische Künstler, wie eben auch viele luxemburgische Künstler, große Anstrengungen unternehmen, um im Ausland ihre Arbeit präsentieren zu können, Residenzen zu bekommen und viele noch einen zweiten Wohnsitz in einem anderen Land haben und auch die jeweiligen Regierungen dies stark fördern.

Das Dancehouse bezeichnet sich als Förderer des „socially engaged moving art“. Wird diese bekannte Institution ihrer Selbstbezeichnung gerecht?
Ich habe das Dancehouse als einen sehr lebendigen Ort erlebt, an dem die kritische Auseinandersetzung mit Tanz und das politische Bewusstsein von Künstlern aktiv gefördert werden. Die künstlerische Leiterin Angela Conquet schöpft alle Möglichkeiten aus, um Diskussionen anzustoßen und kritischen Input aus dem In- oder Ausland zu bekommen.

Wie wichtig sind für Sie als Choreografin und Tänzerin derartige Auslandsreisen?
Insgesamt kann ich sagen, dass Auslandsresidenzen sehr wichtig für meine persönliche Entwicklung und meine Arbeit sind. Je nach Fokus und Grund der Residenz kann die Erfahrung extrem variieren, aber ich lerne jedes Mal sehr viel, knüpfe neue Kontakte, erweitere mein Netzwerk und werde mit mir selber konfrontiert. Für mein Schaffen ist das essenziell. Alles, was ich erfahre und erlebe, erlebe ich durch meinen Körper und es ist auch dieser Körper, der sich schlussendlich auf der Bühne ausdrückt.