„Nichts tun war keine Option“: Sara Vispi, die Luxemburgerin, die nach Athen zog, um Flüchtlingen zu helfen

„Nichts tun war keine Option“: Sara Vispi, die Luxemburgerin, die nach Athen zog, um Flüchtlingen zu helfen

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Es ist vier Jahre her, dass sich Abertausende Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machten. Auch wenn die Aufmerksamkeit von Medien und Gesellschaft scheinbar nachgelassen hat, hat sich die Situation für viele noch nicht gebessert. Eine Luxemburgerin konnte nicht länger zusehen. Sie hat ihr Leben in ihrem Heimatland aufgegeben und ist nach Athen gezogen.

Lesen Sie zu diesem Thema auch den Kommentar von Nicolas Wildschutz

Das Gebäude, in dem sich das Projekt niedergelassen hat, liegt westwärts in einem Gewerbegebiet etwas außerhalb des Stadtzentrums. Die Dimiraki-Straße ist ziemlich eng, sodass sogar Fußgänger sich gegen die Wände drücken müssen, wenn wieder einmal ein Lastwagen vorbeifahren will. Hinter dem Eingangstor, in dem Hof mit den Bänken, prangt ein Schild an der Mauer. Auf dem steht der Name des Projekts: Ankaa, der Stern, der früher den Seefahrern den Weg wies.

Das Projekt soll Flüchtlingen in Griechenland helfen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Im Hauptgebäude werden beispielsweise Sprachkurse angeboten: Griechisch und Englisch. Im hinteren Teil, einer Art Lagerhalle, sind Ateliers, in denen sich die Teilnehmenden handwerkliche Fertigkeiten aneignen. Die Kurse werden von Freiwilligen gehalten. Mitbegründet und geleitet wird das Projekt von einer Luxemburgerin, die nach Griechenland zog, um sich ganz den Flüchtlingen zu widmen.

Aufgewachsen in Beles

Sara Vispi hat ein eigentlich ziemlich normales Leben in Luxemburg geführt. Sie ist aufgewachsen in Beles, im Süden des Landes. Wenn sie als Kind auf die Terrasse lief, sah sie die Hochöfen der Arbed. „Heute steht da die Universität Luxemburg“, sagt sie. Vispi wusste schon sehr früh, dass sie später im sozialen Bereich arbeiten wird. Ihr erster Plan nach dem Abitur: Sozialarbeiterin werden. Doch schnell merkte sie, dass das Studium nichts für sie war. Also wurde sie Grundschullehrerin. Ihr Leben wäre wohl weiter so verlaufen, wenn die Politik nicht dazwischengefunkt hätte.

Sara Vispi ist eine Frau mit Ausstrahlung. Eine, die man wahrnimmt, wenn sie im Raum ist. Im Ankaa-Haus läuft sie ständig von einer Person zur nächsten, gibt Anweisungen oder unterhält sich kurz. Sie ist dabei nicht distanziert, sondern freundlich und offen. Ihre Mitarbeiter schätzen Vispi, sie machen sich allerdings auch Sorgen. Die Projektleiterin sei ein Workaholic, sagen einige, die nicht wisse, wann sie mal einen Gang zurückschalten und auf sich achten soll. Es ist genau diese Charakter-Eigenschaft, die vor vier Jahren ihr Leben verändert.

Chios, die Insel des Elends

Im Sommer 2015 machen sich Abertausende Menschen vor allem aus Syrien und dem Irak auf den Weg nach Europa. Bis zum Frühjahr 2016 nutzen viele Flüchtlinge die Balkanroute für ihren Weg nach Mitteleuropa: Griechenland, Mazedonien, Serbien und Österreich werden zu den wichtigsten Transit-Ländern. Die meisten wollen nach Deutschland. Aber dann eskaliert die Situation. Ein Land nach dem anderen schließt die Grenzen – und plötzlich hängen die Flüchtlinge in Griechenland fest.

Vispi will nicht nur zusehen. Sie will helfen. Sie meldet sich als Volontärin beim Roten Kreuz. Als Lehrerin gibt sie den Flüchtlingen in Düdelingen Nachhilfe. Aber sie wird trotzdem das Gefühl nicht los, dass sie mehr tun könnte. Also trifft sie eine Entscheidung. Mit ein paar Gleichgesinnten sammelt sie Güter, die den Flüchtlingen in den griechischen Lagern nützen könnten. Zwei Vans packen sie voll, dann fahren sie los. Die Gruppe landet in Idomeni, einer Grenzstadt zu Mazedonien. Im dortigen Lager leben zeitweise über 10.000 Menschen. Vispi bleibt eine Woche, um auszuhelfen. Danach hätte sie beschließen können, dass es genügt. Dass sie wieder zu ihrem Leben in Luxemburg zurückkehrt. Aber erneut entschied sie sich dagegen – und machte weiter. Die Entscheidung, die sie damals trifft, sei auch eine politische gewesen, sagt sie heute. „Ich will nicht irgendwann sagen müssen, dass ich wusste, was vor sich ging und nichts unternommen habe.“ Dass Vispi einen Satz benutzt, der eigentlich mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht wird, ist kein Zufall. „Ich habe in den vergangenen Jahren so oft an den Zweiten Weltkrieg gedacht.“

Direkt helfen in Griechenland

In den folgenden Monaten nutzt sie immer wieder die Schulferien, um Flüchtlingen zu helfen. Sie reist unter anderem in die griechische Stadt Thessaloniki und nach Serbien. Dann landet sie auf der griechischen Insel Chios. Dort verändert sich ihr Leben definitiv.
Die Insel liegt nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt. Für die Flüchtlinge ist es eine der einfachsten Möglichkeiten, die EU zu erreichen. Vispi koordiniert die Helfer, steht in Kontakt mit der Küstenwache und empfängt die Schiffe, die ankommen. Sie bleibt lange auf der Insel. „Zu lange“, sagt sie heute. „Es ist destruktiv, wenn man diesen Alltag miterlebt.“ Sie sieht und macht Dinge, die sie nicht in einer Zeitung lesen will. Und sie weiß, dass es nicht so weitergehen kann.

Auf der Insel lernt sie vier weitere Flüchtlingshelfer kennen. Unter anderem die Luxemburgerin Line Didelot, die zur Weggefährtin und Freundin wird.
Am Anfang der Flüchtlingskrise ist Griechenland ein Transit-Land. Aber als die Grenzen geschlossen werden, ändert sich die Situation. Es wird immer klarer, dass die Menschen nicht weiterziehen, sondern bleiben werden. „Das Land war nicht bereit dafür“, sagt Vispi. Es sind keine Integrationsmaßnahmen vorgesehen und niemand scheint die Sache in die Hand zu nehmen. Also beschließen Vispi und ihre Mitstreiter, einen Schritt weiterzudenken. Die Helfer ziehen nach Athen.

Zweieinhalb Kilometer

Die griechische Kapitale ist nicht die ordentlichste Stadt. Vor allem das Viertel, in dem sich Ankaa befindet. Doch das Areal selbst wirkt wie eine Oase. Alles ist sauber, aufgeräumt und organisiert. Auf einer Tafel in der hinteren Lagerhalle werden Wochentag und Uhrzeit der Kurse aufgelistet. „Natürlich geht es darum, den Menschen etwas beizubringen“, sagt Vispi. Doch ihr pädagogisches Konzept geht weiter als das. Die Flüchtlinge sollen auch Disziplin zeigen. Vispi erwartet von ihnen Pünktlichkeit und Fleiß.

Das Ankaa-Areal sah nicht immer so aus wie jetzt. Als das fünfköpfige Team das Gebäude im Herbst 2017 findet, steht es vor einem einzigen Chaos. Es dauert zwei Monate, um alles auszuräumen und zu reinigen. Dann erst kann die Renovierung beginnen. Erst nach einem Jahr, im September 2018, läuft das Projekt an. Vispi gibt ihr Leben in Luxemburg auf, um sich ganz Ankaa zu widmen. Ihr Job als Lehrerin liegt auf Eis. Die Entscheidung trifft sie, weil ihr klar wird, dass sich die Probleme nicht von selbst lösen werden. „Man kommt, man sieht das Elend und will etwas ändern“, sagt Vispi. Also nimmt sie es selbst in die Hand. „Ich wäre nicht damit klargekommen, wenn ich in mein Luxusleben nach Luxemburg zurückgekehrt wäre und mir selbst gesagt hätte, dass ich meinen Beitrag geleistet habe“, sagt sie. „Ich will noch weiter versuchen, etwas zu bewirken.“

Im Schatten der Akropolis

Ihr Engagement und das ihres Teams hat sich gelohnt. Ankaa ist stetig gewachsen, seit es vor anderthalb Jahren an den Start ging. Mittlerweile werden mehr Kurse angeboten als am Anfang. Das Projekt konnte auch schon erste Erfolge feiern. „Einige unserer Leute haben schon eine Arbeit gefunden“, sagt Vispi. Aber die Endphase ist noch nicht erreicht. Die Luxemburgerin hat bereits eine Idee für die nächste Etappe: Aus dem Projekt soll eine Art soziales Unternehmen werden. Die Teilnehmer der Kurse werden immer besser und Vispi kann sich vorstellen, dass sie ihre Waren und Dienste demnächst verkaufen könnten. Dafür soll ein weiterer Raum renoviert werden.

Immer mehr Menschen kennen und interessieren sich für Ankaa. Sogar der Luxemburger Außenminister Jean Asselborn besucht das Areal in der Dimiraki-Straße. In der Küche im zweiten Stock isst er gemeinsam mit Helfern und Flüchtlingen Hummus, Salat und Teigtaschen. Vispi sitzt neben ihm. Hinter den beiden ist ein Fenster, das eine uneingeschränkte Sicht auf die Akropolis bietet. Durch die Scheibe kann man den Hügel deutlich sehen, der für viele den Anfang der europäischen Zivilisation verkörpert. Er ist zweieinhalb Kilometer entfernt.

Danielle
23. Juni 2019 - 15.15

Bravo! Eis Gesellschaft brauch méi sou couragéiert Leit!