Klangwelten: Zweimal Klassik und einmal fliegende Fetzen

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In unserer Rubrik Klangwelten rezensieren unsere Kulturjournalisten die Alben, über die gesprochen wird. Diesesmal geht es um Klassik und eine Sängerin, die nicht wirklich zu überzeugen weiß.

Von Alain Steffen und Oliver Seifert


François Dumont

Pictures At An Exhibition & Other Works

Nicht die Suche nach Effekten, sondern die Suche nach dem richtigen Klang, den richtigen Farben und den richtigen Atmosphären zeichnet die Neuaufnahme von „Bilder einer Ausstellung“ durch François Dumont aus. Sie dürfte dem Original, wie Modest Mussorgski es sich wohl vorstellte, ziemlich nahe kommen.

Mussorgskis „Bilder einer Austellung“ sind den meisten Hörern in der orchestrierten Fassung bekannt, die allerdings nicht vom Komponisten selbst, sondern von Maurice Ravel stammt. In der Zwischenzeit gibt es rund 30 verschiedene Bearbeitungen dieses Werkes. In der Tat schreien Mussorgskis Bilder, die ursprünglich für Klavier komponiert wurden, nach einem Symphonieorchester, doch es geht trotzdem nichts über die Originalfassung. Leider versuchen viele Pianisten, sich an den Effekten von Ravels Orchestrierung zu orientieren, um diese dann möglichst glanzvoll auf dem Klavier umzusetzen.

Dumonts Spiel lebt von z.T. schnellen, aber nie zu virtuosen Tempi, denen er dann plötzlich Bilder entgegenstellt, wo die Musik selbst stillzustehen scheint. Ein Beispiel hierfür wäre „The Old Castle Bydlo“ oder auch „Catacombs“. Hier lässt Dumont die Musik lange ausschwingen und führt sie manchmal quasi zur Auflösung.

Dann gibt es die sehr modern, fast atonal gespielten „Gnomus“, „Samuel Goldenberg and Schmuyle“ sowie „Baby Yaga“. Das finale „The Bogatyr Gates“, bei dem sich die meisten Orchester und Pianisten in einen wahren Klangrausch spielen, wird von François Dumont sehr zurückgenommen und äußerst kammermusikalisch gespielt. Die Interpretation des französischen Pianisten ist dabei sehr intelligent konzipiert und sucht in jedem Bild, jeder variierten Promenade die (in anderen Aufnahmen oft) ungehörten Zwischentöne.

Somit erlebt der Hörer mit François Dumont eine ganz neue Konzeption der „Bilder einer Ausstellung“ und eine Interpretation, wie er sie vorher wohl noch nie gehört hat. Für mich persönlich gehört diese Aufnahme zu den allerbesten und darf unweigerlich als Referenz angesehen werden. Vervollständigt wird das Programm mit selten gehörten Klavierwerken Mussorgskis, die in Dumonts wunderbaren Interpretationen zu wahren Kostbarkeiten werden. Ein absolutes Must!


Anna Loos

Werkzeugkasten

Nun also das Solodebüt von Anna Loos als Sängerin, nachdem bei der Band Silly für ihr Selbstverständnis, ihre Ausstrahlung und ihre Textbeiträge nicht mehr viel Platz blieb. Es geht um das private Leben als sehr emotionale Angelegenheit, um Momentaufnahmen aus Gedanken und Gefühlen, die sich vor allem um die Liebe drehen. Von Beginn und Abschied, Lust und Frust, Kampf und Aufgabe, Mut und Wut singt sie, im Hauptberuf Schauspielerin und Ehefrau von Jan Josef Liefers, mit aller Leidenschaft zwischen Ich, Du und Wir. Wenn nicht die Titel wie „Echt und für immer“ oder „Wie beim ersten Mal“ gleich selbst die rührigen Botschaften aussprechen, dann Sätze wie „Ich navigiere dich in deine Mitte“, „Ich bin für dich da“ oder „Ich will dich zurück“.

Wer immer gut aufpasst, wird mit jeder Menge Sentiment aus der Metaphernfabrik beschenkt. Dann führt die Reise von der „Straße ohne Ziel“ durch den „Ozean des Schweigens“ direkt ins „Labyrinth der Gedanken“. Der Höhepunkt ist leider schon im verflixten siebten Song erreicht: „Wenn Wortfetzen fliegen, bringen Scherben kein Glück.“ Als Handgepäck fürs Reisen durch derlei poetische Turbulenzen ist immerhin der „Werkzeugkasten“ dabei, mit seiner Hilfe können kleine Reparaturen sofort vorgenommen werden. Muss ja optimal funktionieren, so ein Album, bei Ecken und Kanten im Produkt meckert schließlich die Kundschaft.

Doch keine Sorge: Hier sind Profis am Werk. Die 48-Jährige singt, wie es sich eben gehört in bester Deutschpop-Gesellschaft eskalierender Stimmen und Stimmungen – und die sie begleitende Musik steht da nicht zurück. Sie holt aus den üblichen Verdächtigen Piano, Akustikgitarre oder Streichern heraus, was möglich ist an sensitiver Dramatik. Die Konfektionsware, variabel von Pop-Ballade bis Pop-Schlager, funktioniert in Strophe und Refrain nach zwei überschaubaren Modi: leise-laut und langsam-schnell, oft auch kombiniert. Ist das wenigstens noch Kunsthandwerk? Ach, wenn wir schon einmal bei wichtigen Fragen sind: Ist das immer derselbe Oohoohooh-Backgroundchor? Und warum in aller Welt muss David Bowie heranzitiert werden?


Hélène Boulègue & François Dumont

Jolivet: Complete Works for Flute, Vol. 1

Vor kurzem stellten die Flötistin Hélène Boulègue und der Pianist François Dumont anlässlich eines Release-Konzertes im Bartringer ARCA ihre gemeinsame CD mit Werken von André Jolivet (1905-1974) vor. Diese für Naxos aufgenommene CD ist das Vol. 1 einer Gesamteinspielung der Werke für Flöte des französischen Komponisten. André Jolivet war Schüler von Paul Le Flem und Edgar Varèse und zählt mit Olivier Messiaen zu den Gründern der Avantgarde-Gruppe Jeune France. Trotzdem blieb seine Musik gerade in späten Jahren sehr zugänglich und verständlich für den Hörer.

Humanismus, Esoterik und Emotionen bilden das eigentliche Rückgrat von Jolivets Kompositionen. Diese kommen in den Einspielungen mit Hélène Boulègue und François Dumont sehr klar zum Tragen. Boulègues Zauberflöte lässt die verschiedenen Werke in einem wunderschönen und tief empfundenen Spiel erklingen und nimmt den Hörer mit auf eine Reise in ein musikalisches Paradies. Sowohl in den Solostücken „Ascèses“, „Incantation ‚Pour que l’image devienne symbole'“ und „Cinq incatations“ wie auch in den Werken mit Klavier „Fantaisie-Caprice“, „Cabrioles“, „Flute Sonata“ und „Chant de Linos“ verzaubert Hélène Boulègue den Hörer.

Ihr Partner François Dumont, von dem wir bereits eine absolute Referenzaufnahme des Klavierwerks von Maurice Ravel sowie eine sehr gelungene Doppel-CD mit Klavierkonzerten von Mozart besitzen, erweist sich hier nicht nur als ein einfühlsamer Begleiter, sondern übernimmt die Rolle eines gleichwertigen Duopartners und Gestalters.

Das Zusammenspiel zwischen den beiden Interpreten ist einfach hinreißend und von einer atemberaubenden Intensität und Schönheit. Marco Battistella und Maurice Barnich fungierten bei dieser Einspielung als Produzent bzw. Toningenieur. Das Ergebnis ist eine sehr dynamische, klare und natürlich klingende Aufnahme, in der die Musik richtig atmen und ausschwingen kann. Fazit: Eine erste, in allen Punkten überzeugende Aufnahme der Werke für Flöte von André Jolivet, die hinsichtlich programmatischer, interpretatorischer und aufnahmetechnischer Qualität einen sehr hohen Repertoirewert besitzt.