„Fuck you MTV!“: Emir Kusturica heizt die Luft auf

„Fuck you MTV!“: Emir Kusturica heizt die Luft auf

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Beginnen tut die Show mit einer unnötigen patriotischen Hymne, ehe die Musiker auf die Bühne treten. Doch von Beginn an legen alle furios los. Ein näselndes  Geigensolo erzeugt intensive Melancholie, bevor fortwährende Rhythmuswechsel den „Commandante“-Song ungebändigt vorantreiben. Doch nach dieser „Zigeuner“-Hektik wie auch nach jedem darauffolgenden Song geht der Rosarote Panther mit seinem unverkennbaren Thema um.

Danach stimmt Kusturica das gesamte Publikum darauf ein, ihn mit einem „Fuck you MTV!“ auf Kommando zu beglücken. Er nennt das Ganze eine Englisch-Lehrstunde und benutzt den Pawlow’schen Reflex, um die Zuschauer hörig zu machen. Obwohl dies eher unkonventionell und vulgär ist, funktioniert es tadellos: Die gute Laune, die jedes Bandmitglied an den Tag legt, springt total über. Dank dieser Weltklasse-Stimmungsmacher amüsieren sich die Besucher köstlich. Doch inmitten dieses hektischen Durcheinanders stechen besonders die hervorragenden Soli-Qualitäten der Musiker hervor. Und mehr noch: Es handelt sich allesamt um Virtuosen, die ihr Instrument perfekt beherrschen.

Fundgrube für musikalische Überraschungen

Dies erlaubt zum Beispiel der Band, ein kurzes Motiv oder ein längeres Thema anzuspielen, um Letztere während demselben Song mehrmals verschwinden zu lassen, ehe sie variiert wieder auftauchen. Und jede Umschreibung  wird ständig weiterentwickelt, so dass sie manchmal sogar in einem anderen Song wieder auftaucht. Dabei wirkt trotz der schnellen Tempi und der andauernden Rhythmuswechsel alles locker und selbstverständlich. Mit fortwährenden Improvisationen bespickt ist jeder Song eine Fundgrube für musikalische Überraschungen und klanglichen Reizen.

Und überhaupt geizen die Musiker in keiner Weise mit unerwarteten Einlagen: Auf orientalisch angehauchte Noten tanzen mehrere Mädchen auf der Bühne, während der Geigenspieler mit dunkler und rauer Stimme eine Art Operngesang mimt. Man verfolgt dieses bunte und  verrückte Treiben während dem die Noten unaufhaltsam aufs Publikum eindreschen. Und schon ist der Rosarote Panther wieder da … Es folgen gedudelte Saxofonnoten, ein fetziges Trompetengetöse und effiziente Schlagzeugeinlagen, die  im Dialog mit den Blasinstrumenten stehen. Für dieses einschneidend Phrasierte gibt es nur Händeklatschen-Orgien als logische Konsequenz. Die Tanzenden werden nun von einem Orgelkaraoke begleitet, das den Bubamara-Song in eine Stimmungskanone verwandelt.

Jazz mit Slapstick-Charakter

Dann redet Kusturica von der Black Bird Nation, in anderen Worten von Albanien, ohne sich jedoch lobend über das Land zu äußern. Wie gut nur, dass ansonsten kaum politische Anspielungen oder Provokationen in die Welt gesetzt werden. In der Tat gibt der charismatische Bandleader regelmäßig solche nationalistische Anspielungen zum Besten, welche ihm im Gegenzug auch immer wieder heftige Kritik einbringen. Hier lässt er nur die Instrumente sprechen und schon haucht das Saxofon eine tiefe Hafentristesse mit grellem Notengeschrei ins Publikum. Dank einiger atonaler Ansätze fließen die Noten wie schwelgerisch traurige Tränen. Grandios!

Ein Pink-Floyd-Zitat wird Polka-artig fortgesetzt, der Mann an der Ziehharmonika lässt es gewaltig krachen und erschafft mit seinem energischen Gesang zugleich ein schräges Karneval-Tamtam und einen schmetternden Balkan-Jazz mit Slapstick-Charakter. Dabei destilliert die Geige „Saitenhiebe“ wie Rasierklingen-Einschnittstellen, ehe  ein ruhiges Poltern mit Swing-Qualität sich in einem Sprintfinale rasant steigert, um den Höhepunkt der Apotheose zu erreichen.

Ein Delirium mit Charme 

Serbische Brass-Musik trifft auf Zigeuner-Polka oder ein exzentrisches Hochzeitsorchester auf  brillante Improvisationen, das Ganze verbleibt scheinbar ohne Ende. Die extreme Lebensfreude verwandelt sich in ein Delirium mit Charme, welches die durchschwitzten Musiker überraschenderweise durchs Publikum marschieren lässt. Zurück auf der Bühne gibt es „Cerveza“ im Überschuss in diesem mit  Flamenco-Kriegern gefüllten Tollhaus.  Alles pulsiert, es dröhnt und die Musiker hüpfen wie Kängurus im Ecstasy-Rausch. Ja, diese spiralförmige Geigensoli, dieses Klapperschlangen-Gitarrengerassel, diese taumelerregende Notenwirbel  mit ihren synkopischen Rhythmen machen in der Tat süchtig.

In diesem lustig chaotischen Treiben zischt und flitzt es aus in allen Ecken. Diese rastlose Notenlokomotive aus dem Balkan pustet dabei Kraft und Notensaft ins Publikum.  Eine Julia wird inmitten der Zuschauer auf die  Bühne gelockt und steigt symbolisch vom Balkon ab. Sinnlich schmiegt die Frau sich ans Licht, um lasziv die Romeo-und-Julia-Noten in die Welt hinaus zu tanzen. Dieser Song klingt, als hätte Django Reinhardt zu viele Push-ups gemacht, ehe er diesen mit Kerosin abgemischten Notenpunch kreierte. Weiter entstehen Reminiszenzen einer deutsch-kanadischen Polka, die mit schrillen Paganini-Zitaten aus den Vier Jahreszeiten gewürzt wurde. Ständig speien die Instrumente Noteneruptionen wie Feuer und Lava in den Saal, ehe die Stimmung komplett überkocht.

Der Saal steht kopf

Der Gesang ist vielleicht von der Qualität her zweitrangig, doch tut er diesem Fegefeuer der Klänge keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Die turbulente Rhythmen verwachsen miteinander und lösen sich wieder los, es gibt ein Hin und Her, ein Auf und Ab der Herzrhythmusfrequenz, die rekordverdächtige Ausmaßen annimmt. Die niederschmetternd in die Luft geworfenen Notenbündel wüten wie eine Amphetaminen-Suppe in der Mikrowelle. Keine Feuerwehr der Welt kann dieses brennende Pulverfass löschen, bevor es in einer Endlosschleife explodiert. Der Saal steht kopf, die Zuschauer erleben ihren  Faustschlag auf die Ohren mit heilender Wirkung. Überall gibt es tanzende Paare, die nicht genug von dieser geballten Ladung Notenserum bekommen können. Und eigentlich sieht es so aus, als könne niemand genug davon bekommen …

Gegen diese musikalische Urgewalt ist echt kein Kraut gewachsen! Seid umschlungen von diesen wuchernden Noten-Lianen aus dem Balkanland. Der Begeisterungsfähigkeit der Musik wurden hier neue Grenzen gesetzt. Wie ein umwerfend ansteckendes  Virus lösen Emir und seine Freunde einen anhaltenden Heilungsprozess aus. Schade nur, dass derselbe Kusturica immer wieder mit seinen Aussagen klaffende Wunden vor dem Heilen abhält.

Von unserem Korrespondenten Christian Schaack