Freiwillige aus Luxemburg erzählen vom Alltag in den Flüchtlingscamps: „Das ist nichts für jedermann“

Freiwillige aus Luxemburg erzählen vom Alltag in den Flüchtlingscamps: „Das ist nichts für jedermann“

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Eine Woche lang waren Fabienne und Marc von der luxemburgischen NGO „Catch a Smile“ zusammen mit Dylan aus Irland in den bosnischen Flüchtlingscamps unterwegs. Das Tageblatt traf die drei freiwilligen Helfer nach ihrer Rückkehr zu einem Gespräch.

Sie können das System nicht ändern. Aber sie wollen jenen Menschen, die dem System zum Opfer gefallen sind, helfen. Mit einem Lieferwagen, der ihnen diesmal von der Gemeinde Sanem zur Verfügung gestellt wurde, haben sie unter anderem Kleider, Schuhe und Rucksäcke in die beiden Flüchtlingscamps nach Bihac und Velika Kladusa gebracht. Beide Städte sind etwa eine Stunde und 20 Minuten voneinander entfernt. Beide befinden sich an der bosnisch-kroatischen Grenze.

Fabienne und Marc gehören „Catch a Smile“ an, Marc war zum ersten Mal in einem solchen Camp. Dylan ist so etwas wie ein „long-term volunteer“, der sich die meiste Zeit in Flüchtlingscamps aufhält. Er hat sich über die Jahre ein großes Netzwerk aufgebaut, auf das auch Fabienne mit ihrer NGO zurückgreifen kann. Beide haben sich im Januar 2016 im Camp von Dunkerque, unweit des „Dschungels“ von Calais, wo Dylan fünf Monate als Helfer gelebt hat, kennengelernt.

„Dylan ist stets einer der ersten, der in den sogenannten Flüchtlingshotspots landet. Denn Camps sind keine starren Orte. Sie ändern sich ständig. Camps verschwinden, neue kommen hinzu oder sie wandern weiter. Vor Ort checkt Dylan die Lage, spricht mit den richtigen Leuten und organisiert die Logistik“, erklärt Fabienne. „Für ‚Catch a Smile‘ ist das sehr wichtig, weil wir nebenher noch andere Jobs haben und uns nicht lange in den Camps aufhalten können. Ich kontaktiere dann Dylan. Er weiß, wo was fehlt. Und wir können dann in Luxemburg alles bereitstellen und zu gegebener Zeit für einige Tage, maximal eine Woche, dorthin fahren.“

„They go in the game“

Auch im Vorfeld zur Bosnien-Reise hatte Fabienne Dylan kontaktiert. „Anfang Juni habe ich sämtliche Sportvereine angeschrieben. Denn jetzt beginnt eine neue Saison, die Sportler bekommen neue Sporttaschen. Ein guter Zeitpunkt, um die alten Taschen zu erwerben“, so die Helferin.

Bei den Spendensammlungen begrenzt sich „Catch a Smile“ auf bestimmte Gegenstände. Diesmal wurden nur Schlafsäcke, Rucksäcke, Decken, Sneakers, Wanderschuhe, bestimmte Esswaren, Hygieneartikel und Zelte mitgenommen. „Wenn Kleider, dann nur Männerkleidung in den Größen S und M sowie Strümpfe und Unterwäsche. Denn für Frauen und Kinder wird überall massiv gespendet, auch in Bosnien“, sagt Fabienne.

Spenden für Männer seien seltener, denn Männer haben meist weniger Kleidung und tragen diese auch länger. „Das andere Problem ist, dass die luxemburgischen Männer zu groß sind. Die Qualität der luxemburgischen Spenden ist allerdings sehr gut. Die 150 Paar Schuhe, die wir mitgebracht haben, waren noch neuwertig.“ Der Zeitpunkt war gut gewählt, dank Dylan. Denn die Lager in Bosnien waren leer. Und die Flüchtlinge dementsprechend dankbar, als sie wieder gefüllt wurden.

Fabienne hatte Dylan zuvor im Flüchtlingscamp von Sarajewo besucht. Sie hatte Geldspenden in Luxemburg gesammelt und war für mehrere Tage dorthin geflogen. Was dort gebraucht wurde, war eine Küche. Die haben sie dort aufgebaut. Mit den Spenden haben sie Essen vor Ort gekauft. „Zurzeit finanzieren wir die Küche in Sarajewo mit 1.000 Euro im Monat“, erzählt Fabienne. „Daneben unterstützen wir Küchen wie diese in Griechenland und in Serbien. Und wir zahlen monatlich die Miete für eine Schule für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Chios. Wenn die Helfer vor Ort wissen, dass sie regelmäßige Einnahmen von uns bekommen, können sie besser planen. Und das kommt den Flüchtlingen zugute.“

Fabienne und Dylan waren im Jahr zuvor im Camp von Idomeni in Griechenland. „Die Flüchtlingscamps ähneln sich alle“, sagt Fabienne. „Anfangs lassen sich einige Flüchtlinge in einem Camp nieder. Irgendwann kommen immer mehr dazu. Idomeni hatte schlussendlich 11.000 Leute. Wieso? Weil die Grenze mit hohem Stacheldraht geschlossen wurde. Die Menschen waren blockiert.“ Dadurch sei das Camp gewachsen.

Dunkerque hatte im Sommer 2015 rund 70 Asylsuchende, im Februar 2016 dann 3.600. Das Maximum. „Camps wachsen. In Kladusa waren rund 450 Flüchtlinge. Aber das wechselt ständig. Jeden Tag. Wenn Menschen sich nahe an der Grenze befinden, versuchen sie diese zu überqueren“, so Fabienne.

„‚They go in the game‘ nennt man das“, fügt Dylan hinzu. An einem bestimmten Tag versuchen sie ihr Glück, kommen dann zwei Tage später wieder im Camp an. Sie haben es nicht geschafft. Andere kommen hingegen durch.

Wir finanzieren die Brutalität der Polizei

In Kladusa gibt es aber noch kleinere Camps um das eigentliche herum. Die großen Camps wie in Calais, Dunkerque oder Idomeni wird es wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr geben, weil es nicht mehr erlaubt sein wird. „Solche Camps werden zerstört, bevor sie zu groß werden“, erklärt Fabienne. „Wir wissen jetzt schon, dass Kladusa nicht so bleiben wird. In einigen Wochen wird das Camp mit Überflutung zu kämpfen haben und sich wahrscheinlich ein paar Kilometer entlang der Grenze weiterbewegen. Aber es wird sich nicht auflösen.“

Die Lage an der Grenze wird sich damit aber nicht ändern. Die Situation kann sich überall ändern, aber nicht an den Grenzen. Weil die Menschen diese unbedingt überqueren wollen.
„An der Grenze zu Großbritannien gibt es beispielsweise schon jetzt keine großen ‚Dschungel‘ mehr“, so Dylan. Aber die Menschen harren immer noch dort aus und versuchen rüberzukommen. Nun hat sich das Ganze in eine Art Versteckspiel verwandelt. Die Leute verstecken sich, die Polizei kommt mit Spürhunden, ausgestattet mit Tränengas und Schlagstöcken.“ Und Fabienne ergänzt: „Das ist das eine. Das andere ist, dass immer mehr freiwillige Helfer durch neu erlassene Gesetze kriminalisiert werden. In Calais beispielsweise geht die Polizei auch gegen die Helfer vor. Die Polizei will es den Freiwilligen so schwer wie möglich machen. Helfer werden eingeschüchtert. Smartphones, mit denen sie die Situation vor Ort gefilmt haben, werden zerstört. Das ist die Situation in Frankreich.“

Aber in Bosnien sei dies anders. „Die Polizei dort ist in Ordnung“, sagt Fabienne. „Nicht so auf der kroatischen Seite. Die dortige Polizei ist sehr brutal. Sie bekommt viel Geld von der EU zur Überwachung der Grenzen (Frontex), genauso wie die ungarische Polizei. Dieses ‚Game‘ wird von der EU finanziert. Das macht viele Helfer in den Lagern wütend. Weil dieses brutale und unmenschliche Vorgehen der kroatischen Polizei ja von unserem Geld finanziert wird. Die schrecklichen Camps in Libyen werden auch von EU-Geldern bezahlt.

Jeder schaut zu und denkt, Hauptsache, es ist nicht in meinem Garten. Wir Europäer sind verantwortlich für die ganze Misere. Die größten Milliardengeschäfte sind in den vergangenen drei Jahren von Deutschland, Italien, Großbritannien, Frankreich und Belgien gemacht worden: die Waffenindustrie. Das hinterfragt niemand. Deutschland verkauft Waffen einfach mal an beide Parteien. Und Deutschlands Innenminister Seehofer reißt Witze über 69 abgeschobene Flüchtlinge an seinem 69. Geburtstag. Er ist aber weiterhin Innenminister. Das heißt also, dass das extrem Braune normal geworden ist.“

Bei jenen, die die bosnisch-kroatische Grenze überqueren und von der kroatischen Polizei erwischt werden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass sie geschlagen werden. Haben sie ein altes Handy dabei, wird dieses zerstört. Ein neueres Modell oder Geld wird ihnen weggenommen. Die Polizei nimmt alles, sogar Schuhe, wenn diese noch einigermaßen ok sind. Schwangere Frauen haben ihr Kind verloren, weil sie derart heftig von den Polizisten geschlagen wurden. Auch Kinder werden geschlagen.

Dylan hat ähnliche Szenen in Ungarn beobachtet. Dort habe die Polizei Flüchtlinge misshandelt, Rippen und Finger gebrochen und die Menschen dann im Winter im Schnee einfach in Unterhosen dort stehen gelassen. Teils wurden die Flüchtlinge auch mit Wasser genässt, damit sie noch mehr froren.

Karim stammt aus dem Maghreb und wollte vor einigen Tagen die Grenze von Bosnien nach Kroatien überqueren. Dort wurde er auf übelste Weise zugerichtet. Am Rücken hatte er tiefe Verletzungen, die ihm mit einem Riemen oder Ähnlichem zugetragen wurden. Die Polizei hat ihn dann über die Grenze „zurückgeschlagen“. Davor haben sie ihm alles weggenommen: Handy, Geld usw. Al Jazeera kam ins Camp und interviewte Karim, der immer wieder in Tränen ausbrach. „Manche Leute schaffen es, die Grenze zu überqueren“, sagt Dylan. „Deswegen heißt es ‚The Game‘. Es ist lächerlich. Es ist ein sadistisches Spiel.“
„Karim ist 34“, sagt Marc. „Im Al-Jazeera-Interview meinte er, dass er es nicht mehr versuchen würde. Er ist am Ende.“

Können sich die Flüchtlinge in Bosnien überhaupt noch eine Zukunft vorstellen? „Karim wollte eigentlich nach Paris. Ein anderer will auch nach Frankreich, weil er dort Familie hat. Die meisten haben einen Zielort im Kopf, wo sie hinwollen“, erklärt Marc. „Manche sagen allerdings auch: Wir bleiben in Bosnien.“ Und Fabienne fügt hinzu: „Die Bosnier sind vielleicht die hilfsbereiteste Nation, die ich bisher kennengelernt habe. In Bosnien wird wahnsinnig viel gespendet. Denn die Bosnier erinnern sich noch an den Jugoslawienkrieg.“
Die Hälfte der Bosnier waren damals Flüchtlinge. Aber Bosnien hat bislang noch keinen Status herausgegeben. Das Land hat in den letzten drei Jahren niemandem Asyl gewährt. Vielleicht ändert sich das jetzt. Es gibt immer mehr bosnische Organisationen, die sagen, dass mehr Menschen dort gebraucht werden.

„Bosnien ist ein wunderschönes Land, das man gut aufbauen könnte“, meint Fabienne. „Wenn einer der Flüchtlinge mich fragt, ob er nicht vielleicht nach Luxemburg kommen könnte, sage ich immer: ‚Nein, komm ja nicht nach Luxemburg‘.“

Marc stimmt dem zu: „Der hat hier nachher mehr Misere am Hals als vorher. Die haben oft eine falsche Vorstellung eines Landes. Sie sehen ein schönes, sauberes Land. Aber sie werden hier nicht weiterkommen. Sie werden keine Zukunftsmöglichkeiten haben.“
Fabienne erklärt: „Viele, die jetzt in Bosnien festsitzen, wollen auch nach Spanien oder Portugal gehen. Schnell durch Kroatien, dann Slowenien, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal. Auch diese Sachen sprechen sich unter den Flüchtlingen herum. Portugal braucht Arbeitskräfte. Die Wirtschaft boomt. Ich habe fast niemanden getroffen, der sagte, er will nach Deutschland. Also Klischee widerlegt.“

Bürgermeister wurde in Den Haag verurteilt

In Bosnien kümmern sich weder die EU noch große Hilfsorganisationen um die Flüchtlinge. Der Bürgermeister von Kladusa wurde in Den Haag als Kriegsverbrecher verurteilt. Er ist ein Bosnier aus Kladusa, der im Jugoslawienkrieg mit den Serben Deals gemacht hat. Er hat seine 20-jährige Strafe abgesessen und wurde dann zum Bürgermeister gewählt. „Dieser Bürgermeister macht nichts“, kritisiert Fabienne und bezeichnet Kladusa deswegen als ein „Shithole“. „Und die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR ist inexistent. Die haben in Sarajewo nur ein schönes Büro.“ Gut, dass es andere, kleinere NGOs und viele freiwillige Helfer wie jene von „SOS Team Kladusa“ oder das lokale Rote Kreuz Bihac gibt, die die Situation vor Ort erträglicher gestalten.

Ghafoor, einem Pakistani, der mit sieben Jahren nach Großbritannien ausgewandert ist, gehören mehrere Busse, die er zu mobile Küchen umgebaut hat. Ein solcher Bus stand bislang auf der griechischen Insel Lesbos. Da das Gefährt dort nun nicht mehr gebraucht wird, hat Ghafoor zusammen mit Dylan alles Nötige in die Wege geleitet, um den Bus über mehrere Grenzen nach Bihac zu bringen. Auf diese Weise haben sie 70 Kilogramm Gewürze mitgebracht. Denn Gewürze sind auf dem Balkan schwer zu finden, da sie nicht oft eingesetzt werden.

„Man kann die Menschen mit Essen bekochen, das sie mögen, oder mit Essen, das sie nicht mögen“, erklärt Dylan. „Es macht einen riesengroßen Unterschied, wenn die Menschen Essen bekommen, das sie auch mögen. Ein bisschen Geschmack von Zuhause macht es einfacher. Dann sind sie froh, in der Schlange zu warten. Stell dir vor, die bist ausgehungert und musst dich anstellen und auf Essen warten, das du nicht magst. Jeden Tag. Das gute Essen ist genauso schnell gekocht wie das nicht so gute. Es ist eigentlich kein Mehraufwand. Man muss es nur tun.“ An jenem Tag gab es Kartoffeln, Zwiebeln und Bohnencurry, auch Alu Matar genannt. „Es ist eigentlich das günstigste Essen, das man zubereiten kann“, meint Dylan.

Mit den Spendengeldern wurde eine Kartoffelschälmaschine gekauft. „Die ist zwar teuer, aber wenn man bedenkt, dass jeden Tag zehn Leute stundenlang Kartoffeln schälen müssen, ist es eine gute Investition“, sagt Fabienne. Jeden Tag werden 200 Kilogramm Kartoffeln geschält. „Mit dem Roten Kreuz Bihac und dem IOM hatten wir eine gute Zusammenarbeit vor Ort. Sie betreiben neben dem Küchenbus auch mobile Duschen, Sanitäranlagen und sogar einen Bereich mit Waschmaschinen. Sie servieren den Menschen im Lager Frühstück, Mittagessen und – bevor der Küchenbus organisiert wurde – abends eine kalte Mahlzeit.“

Die Flüchtlinge in den Camps sind dazu verdammt, zu warten. „Manche waren davor als Arzt oder Astrophysiker tätig, um nur zwei Beispiele zu nennen“, so Fabienne. „Und dann wird dem Astrophysiker im Camp gesagt: Setz dich hin, sei still und warte. Das geht doch nicht. Und der sagt: Bis wann soll ich warten? Einen Monat, zwei Monate, ein Jahr, fünf Jahre? Das nennt man die Leute für dumm verkaufen.“

Im Camp gibt es keine Deadline

„Die Leute bekommen falsche Versprechungen aus Europa“, gibt Dylan zu bedenken. „Manche Kinder wurden in den Camps geboren und sind jetzt drei, vier Jahre alt. Sie leben in Zelten, im Dreck und kennen nichts anderes. Die Eltern würden gerne ein normales Leben führen, arbeiten, sich um die Zukunft sorgen, Steuern bezahlen.“

„Im Camp gibt es keine Deadline“, sagt Fabienne. Marc fügt hinzu: „Es ist wie ein Gerichtsprozess. Der wird derart in die Länge gezogen, dass irgendwann der Angeklagte sagt: ‚Ich kann nicht mehr, ich ergebe mich.‘ Das ist ein Teil der Strategie, die von oben kommt, und das wird bewusst so gemacht.“

Marc bezeichnet das Ganze als Sisyphusarbeit. Wenn das Camp gut funktioniert, wird es aufgelöst. Woanders fängt man dann wieder von vorne an. „Wir reparieren ein wenig und versuchen es den Menschen so angenehm wie möglich zu machen. Aber das System können wir damit nicht ändern“, erklärt Fabienne.

„Wir machen Symptombehandlung, keine Ursachenbekämpfung“, sagt Marc. „Aber dafür haben wir mehr als ein Lächeln (‚Catch a smile‘) bekommen. Vor allem nach der Kochaktion.“

„Das ist nichts für jedermann“, ergänzt Fabienne. „Man muss mit den Geschichten, die die Leute erzählen, klarkommen. Man muss wissen, was man ertragen kann.“ „In meinen Augen, musst man psychisch fit sein, um dort helfen zu können“, so Marc abschließend. „Man muss seinen Weg bereits getan haben. Es ist keine schöne Zeit, die man dort verbringt. Es ist kein Urlaub. Man muss den Leuten dort vor allem etwas geben. Aber dann bekommt man auch ein Lächeln zurück.“