Europa findet im Flüchtlingsstreit keine gemeinsame Linie

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Die Portugiesen wollen Flüchtlinge, bekommen aber keine. Andere setzen auf komplette Abschottung. Luxemburg will eine gesamteuropäische Lösung, Deutschland glaubt an bilaterale Abkommen. Einige Staaten wollen Lager in Afrika. Frankreich und Spanien wollen solche in Europa selber sehen, aber auf keinen Fall in ihren eigenen Ländern. Eine Lösung im Flüchtlingsstreit scheint entfernter denn je.

In Deutschland musste Kanzlerin Angela Merkel nach einem Streit mit Innenminister Seehofer im Frühsommer Zugeständnisse machen. Merkel plädiert aber weiterhin für eine europäische Lösung, notfalls mit bilateralen Abkommen. Ein solches hat Deutschland zuletzt mit Spanien geschlossen, dessen Effizienz aber sogleich von Kritikern bemängelt wurde. Andere Abkommen dieser Art sollen folgen. Sie sollen es einfacher machen, Asylbewerber, die in diesen Staaten bereits registriert sind, dorthin zurückzuschicken. Das Dublin-System hat Merkel im August bei ihrem Besuch beim spanischen Premier Sanchez für „nicht funktionsfähig“ erklärt.

Ein Teil des Erfolges von Kanzler Kurz liegt in seiner Gegnerschaft zu Merkels Linie in Flüchtlings- und Asylfragen. Der konservative Politiker brüstet sich damit, die Balkan-Route geschlossen zu haben. Österreich ist unter der jetzigen Regierung aus ÖVP und rechtsextremer FPÖ entschiedener Gegner eines europäischen Verteilungsschlüssels für Geflüchtete. Kurz tritt für Auffanglager außerhalb der EU ein, etwa in Nordafrika oder am Westbalkan. Österreich, das momentan den EU-Ratsvorsitz innehat, macht sich stark für harte Kontrollen der EU-Außengrenzen. Sein Vize Strache (FPÖ) bezeichnete im Frühling die EU-Grenzschutzagentur Frontex als „Schlepperorganisation“.

Spanien hat vor kurzem infolge eines Regierungswechsels hin zu den Sozialisten unter Premier Sanchez einen radikalen Dreher in seiner Flüchtlingspolitik vollzogen. So erklärte sich das Land bereit, das in Italien abgelehnte Schiff „Aquarius“ in Valencia anlegen zu lassen. Gleichwohl bleibt die Asylprüfung in Spanien streng. Das Land steht bei anderen EU-Staaten wie Frankreich oder Deutschland in der Kritik, Migranten und Flüchtlinge einfach durchreisen zu lassen. Zuletzt wurde auch von Expressabschiebungen aus der spanischen Exklave Ceuta nach Marokko berichtet, was teilweise als Ende der neuen spanischen Menschlichkeit gedeutet wurde. Sanchez ist wie Macron für Sammellager innerhalb der EU, will sie aber ebenfalls – aus Sorge vor einer Sogwirkung – nicht bei sich haben. Sanchez will die EU-Außengrenzen besser sichern (auch unter Mithilfe afrikanischer Staaten wie Marokko) und gleichzeitig eine EU-solidarische Verteilung der Ankommenden.

Malta ist der kleinste EU-Staat und kein Freund des Dublin-Abkommens. Zuletzt geriet Malta wieder vermehrt in die Schlagzeilen, als in Italiens Häfen abgelehnte Flüchtlingsrettungsschiffe auf der Mittelmeerinsel anlegen wollten. Zuvor kamen lange Zeit nur noch wenige Flüchtlinge in Malta an. Bei der Aufnahme von Geflüchteten will sich Maltas Regierung trotzdem an die internationalen Abkommen halten.

Griechenland trug lange Zeit zusammen mit Italien die Hauptlast bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Der linke Premier Tsipras plädiert für eine europäische Linie. In Griechenland leben weiterhin Zehntausende Geflüchtete unter extrem prekären Bedingungen. Auch Griechenland will ein neues Dublin-Abkommen und fordert die Solidarität der anderen EU-Staaten ein.

Die Slowakei ist wie die anderen Visegrad-Staaten Polen, Tschechien und Ungarn strikt gegen Umverteilungsquoten in der EU (siehe auch Kasten zu Polen). Auch Bratislava setzt sich für Maßnahmen ein, die Geflüchtete von der EU fernhalten und hat kaum Menschen aufgenommen.

Frankreich tritt ebenfalls für eine gesamteuropäische Lösung ein. Präsident Macron ist für die Verteilungsquoten für Geflüchtete innerhalb der EU, sein Land hat die eigene Quote allerdings bislang nicht erfüllt. Ein neues Gesetz soll das Zurückschicken nach Dublin-Regeln noch einmal vereinfachen. Außerdem soll so effizienter gegen illegale Immigration vorgegangen werden können, auch die Bearbeitung der Asylanträge soll schneller vonstatten gehen. Frankreich plädiert für Zentren innerhalb der EU, die als Zweigstellen von Asylbehörden funktionieren. In Frankreich selber sollen diese Zentren aber nicht errichtet werden.

Ungarn ist wie die anderen Visegrad-Staaten Polen, Tschechien und Slowakei strikt gegen Umverteilungsquoten in der EU (siehe auch Kasten zu Polen). Premier Orban ist zu einem der vehementesten Vorkämpfer gegen die Umverteilung geworden. Die Grenzen zu Serbien und Kroatien sind mit Zäunen versehen. Ungarn fing zuletzt an, Hunger als Abschreckung einzusetzen, indem Flüchtlingen, die sich gegen einen negativen Asylbescheid wehren, die Nahrung verwehrt wird.

Die Niederlande unter Premier Rutte treten für Asylzentren außerhalb der EU ein. In den Niederlanden müssen Asylbewerber das Land nach einem Monat verlassen, falls sie einen negativen Asylbescheid bekommen haben. Das ist einerseits eine der strengsten Herangehensweisen innerhalb der EU, andererseits sind die Verfahren in keinem anderen Land so schnell – sie dauern im Durchschnitt nur sechs Wochen und haben den Ruf, fair zu sein.

Polen ist wie die anderen Visegrad-Staaten Tschechien, Slowakei und Ungarn strikt gegen Umverteilungsquoten in der EU. Die vier Länder bildeten von Anfang an den großen Gegenblock zu den Vorschlägen der EU-Kommission und gelten seitdem als „Solidaritätsverweigerer“. Mit dem Rückenwind durch die neue Regierung in Italien und die relativ neue Regierung in Österreich könnten sie die gesamteuropäische Lösung unmöglich machen. Polen lehnt es ab, dass Menschen, die aus Weißrussland oder der Ukraine einreisen, einen Asylantrag stellen können. Dabei handelt es sich mehrheitlich um tschetschenische Frauen und ihre Kinder.

Belgien ist zwiegespalten, zumindest was seine Spitzenpolitiker angeht. Während der Staatssekretär für Migration, Francken, die Umverteilung in der EU strikt ablehnt und eigentlich alle am liebsten an den EU-Außengrenzen abgewiesen sähe, tritt Premier Michel moderater auf. Doch auch Michel spricht sich für Auffanglager außerhalb der EU aus, etwa in Nordafrika. Gleichzeitig tritt Michel aber dafür ein, dass die EU Wege für legale Immigration schafft.

Tschechien ist wie die anderen Visegrad-Staaten Polen, Slowakei und Ungarn strikt gegen Umverteilungsquoten in der EU (siehe auch Kasten zu Polen). Tschechiens populistischer und milliardenschwerer Unternehmer-Premier Babis kritisierte am Montag Spanien dafür, Flüchtlingsrettungsschiffe anlegen zu lassen. Babis hob hervor, dass sein Land „keinen einzigen illegalen Migranten“ aufnehme, sei nicht gegen Italien gerichtet, sondern eine „grundlegende Strategie“ seines Landes zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung. Tschechien hat seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 kaum Migranten aufgenommen.

In Italien bläst ein rauer Wind für Flüchtlinge und Migranten, seit die neue Regierung aus der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsextremen Lega an der Macht ist. Lega-Innenminister Salvini hat die Häfen des Landes für Flüchtlingsrettungsschiffe schließen lassen. Die Menschen auf diesen Schiffen bezeichnete Salvini als „Menschenfleisch“. Zusammen mit Deutschland und Österreich würde Salvini gerne eine „Achse der Willigen“ Berlin-Wien-Rom bilden. Italien, als einer der Hauptbetroffenen, will eine Änderung des Dubliner Abkommens und fordert seit Jahren eine solidarische Umverteilung innerhalb der EU.

Auch Bulgarien möchte Auffanglager außerhalb der EU, dazu einen strengen Schutz der Außengrenzen und der Binnengrenzen. Premier Borissov macht sich stark für EU-Hilfen an die südeuropäischen Länder, die am meisten betroffen sind. Dazu soll die Grenzschutzagentur Frontex gestärkt werden.

Bei der Brexit-Abstimmung im Vereinigten Königreich im Juni 2016 spielte die Immigrationsfrage eine wichtige Rolle. Regierungschefin May pocht weiterhin auf ein Einhalten der Dublin-Regeln, was dem Land aufgrund seiner geografischen Lage die Aufnahme Geflüchteter ersparen würde. Dazu setzt May auf das Türkei-Abkommen. Auf der Insel wird ein sehr hoher Anteil der Asylanträge abgelehnt. Das britische Asylsystem macht es sogar anerkannten Flüchtlingen schwer, in dem Land Fuß zu fassen.

Dänemark will abgewiesene Asylbewerber außerhalb des Landes unterbringen. Wo das geschehen soll, ist bislang nicht bekannt. Es soll aber laut Premier Rasmussen „ein nicht sonderlich attraktiver Ort werden“. Das ist ein Weg, wie Dänemark sich als Asylland für Antragssteller unattraktiv machen will. Rasmussen tritt ebenfalls dafür ein, Asylzentren außerhalb der EU einzurichten. In Dänemark wurde auch das sogenannte „Schmuckgesetz“ eingeführt. Dieses erlaubt es den Behörden, bei den Ankommenden Schmuck und Bargeld zu konfiszieren. Damit soll ihr Aufenthalt in Dänemark mitfinanziert werden.

Zu Beginn der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hat sich Schweden für die Willkommenskultur ausgesprochen. Mit dem Ergebnis, dass das Land gemessen an der Bevölkerungszahl die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. In der Zwischenzeit hat auch Schweden seine Asylgesetze verschärft und Grenzkontrollen eingeführt. Am 9. September sind Wahlen in Schweden, ein Rechtsruck ist nicht ausgeschlossen.

Irland hat nur sehr wenige Flüchtlinge aufgenommen. Diese werden dazu noch meist in entlegenen Zentren untergebracht und dürfen nicht arbeiten, bevor sie eingebürgert sind. Nur in Litauen ist das ebenfalls der Fall. Laut irischem Gesetz sollten Asylanträge innerhalb eines halben Jahres entschieden werden. Oft dauert die Bearbeitung aber Jahre. Demnach leben viele der Antragssteller oft jahrelang in diesen abgelegenen Heimen.

Portugal zeigte sich parteienübergreifend immer bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, nur kamen bislang nicht sehr viele. Dadurch, dass es mehrheitlich an den Atlantik grenzt, ist ein Übersetzen mit Booten zu gefährlich. Der sozialistische Außenminister Santos Silva sagte, in Portugal sei „jeder willkommen, Flüchtlinge wie Migranten“. Grund ist auch, dass Portugal viel mit Abwanderung und einer negativen Geburtenquote zu kämpfen hat und sich einige ländliche Regionen zu schnell entvölkern.

Luxemburg kann als einer der eifrigsten Verfechter einer gesamteuropäischen Lösung gesehen werden. Dies ist auch auf den Einsatz von Außenminister Jean Asselborn zurückzuführen, der selten eine Konfrontation mit den sogenannten „Solidaritätsverweigerern“ auslässt. Asselborn ist resolut gegen Grenzschließungen, er sieht sie als „Populismus“, da sie faktisch nicht durchführbar seien. Asselborn will legale Wege der Immigration und sieht in einer gesamteuropäischen Herangehensweise den einzigen Ausweg aus der Krise.

In Finnland herrschte erst eine Willkommenskultur. Premier Sipilä wollte sogar Flüchtlinge bei sich zu Hause unterbringen. Die Gesetze wurden aber mittlerweile verschärft. So wurden der Familiennachzug schwieriger gemacht und Abschiebungen einfacher. Das Land kontrolliert vor allem seine Grenze zu Russland stark.

Zypern weist Menschen, die es per Boot auf die Insel schaffen, zwar nicht ab, bietet ihnen aber auch kaum Perspektiven. Die Insel ist darüber hinaus wenig attraktiv als Fluchtort, da es nicht dem Schengen-Raum angehört. Geflüchtete bekommen hier keine finanziellen Zuwendungen des Staates und werden teilweise vor der endgültigen Entscheidung über ihren Asylantrag wieder abgeschoben.

Litauen untersagt es Geflüchteten, einer Arbeit nachzugehen (als einziges EU-Land neben Irland). Das mindert die Integrationsmöglichkeiten. Litauen gilt wie auch Lettland eher als Durchreiseland denn als Endstation für Flüchtlinge.

Kroatien ist zuletzt stark kritisiert worden wegen der Polizeigewalt gegenüber Flüchtlingen. Auch sollen immer wieder Geflüchtete zurück nach Serbien geschickt werden, ohne die Chance auf das Stellen eines Asylantrags gehabt zu haben. Der Westbalkan-Staat macht an all seinen Grenzen Kontrollen.

Durch Lettland reisten die meisten Schutzsuchenden einfach weiter. Das baltische Land hat auch deswegen nur sehr wenige Menschen aufgenommen. Hinzu kommt, dass Lettland kein sehr reiches Land und die Bevölkerung eher migrationskritisch eingestellt ist. Die Sozialleistungen in dem Land liegen weit unter dem EU-Durchschnitt.

In Estland wurde vor rund anderthalb Jahren gefordert, illegale Migranten aus der EU strikt abzuschieben. Premier Ratas steht aber gleichzeitig auf der Seite der Befürworter einer EU-weiten Verteilungsquote. Das Land selber hat nur sehr wenige Flüchtlinge aufgenommen und bevorzugt Christen oder Frauen mit Kindern.

Rumänien liegt auf der sogenannten Schwarzmeer-Route und lehnt die Umverteilungsquote der EU strikt ab. Daneben kontrolliert es seine Grenzen stark. Auch wegen des niedrigen Sozialstandards in dem Land wird Rumänien von Flüchtenden meist als Durchreisestation angesehen.

Slowenien ist nie zimperlich mit Geflüchteten umgegangen. Die Stimmung im Land ist eher migrationskritisch, obwohl in Slowenien nicht viele Flüchtlinge sind. Das belegten auch die Wahlen im Juni. Im Wahlkampf hatte sich Favorit Jansa von der migrationsfeindlichen SDS-Partei dafür ausgesprochen, sein Land auf Ungarn-Linie zu bringen, es also durchgehend abriegeln. Jansa bekam die meisten Stimmen, wurde aber wegen Korruptionsvorwürfen vom Parlament blockiert. Premier wurde der ehemalige Schauspieler Sarec dank einer Fünf-Parteien-Koalition. Anti-Establishment-Politiker Sarec sprach in seiner Antrittsrede vor dem Parlament Mitte August davon, Slowenien europapolitisch im Mainstream halten zu wollen und sich dafür einzusetzen, „dass Slowenien in der Gruppe der sogenannten Kernstaaten bleibt“, betonte der 40-Jährige.