Eritrea und sein Profit aus der Flucht: Ein Experte über das Land, das Asselborn gerade besucht

Eritrea und sein Profit aus der Flucht: Ein Experte über das Land, das Asselborn gerade besucht

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Aus keinem anderen Staat haben vergangenes Jahr mehr Menschen in Luxemburg um Asyl angesucht als aus Eritrea. 392 Anträge gab es aus dem Staat in Ostafrika, aus Syrien, das an zweiter Stelle folgt, waren es 227. Dabei hat Eritrea vergangenes Jahr Frieden geschlossen mit seinem Nachbarn Äthiopien. Da muss also einiges im Argen liegen. Jean Asselborn besuchte diese Woche Äthiopien, heute ist Luxemburgs Außenminister in Eritrea. Im Gespräch mit dem Tageblatt erklärt Prof. Dr. Magnus Treiber, Ethnologe an der Uni München, wie es zu diesem Frieden kam, was das für die Diktatur Eritrea bedeutet, wieso die Menschen weiter fliehen werden – und wieso das Land trotzdem eine Reise wert ist.

Tageblatt: Herr Treiber, erklären Sie uns kurz, was für ein Staat ist Eritrea?

Magnus Treiber: Eritrea ist eine Diktatur in maoistischem Format, in der Tradition des Befreiungskrieges um den ehemaligen Guerillaführer und jetzigen Präsidenten Isayas Afewerki aufgebaut. Afewerki, in China an der Militärakademie in Nanjing ausgebildet, hat dieses Führungsprinzip aus dem Guerillakrieg auf den Staat übersetzt. Konkurrenten innerhalb der Führungsspitze der Befreiungsbewegung wurden nach und nach ausgebootet, alles ist auf ihn eingerichtet. Und bereits im Grenzkrieg mit Äthiopien in den Jahren 1998 bis 2000 hat Afewerki gezeigt, dass er sehr schnell Entscheidungen fällen konnte, auch gegen den Willen anderer.

Afewerki hat seine Herrschaft durch den Konflikt mit Äthiopien legitimiert. Auch sein Wehr- und Arbeitsdienst genannter „National Service“, in den quasi jeder Eritreer, ob Mann oder Frau, eingezogen wird und der oft Jahrzehnte dauert, entstammt diesen Spannungen. Wieso hat Afewerki trotzdem eingelenkt und dem Friedensangebot aus Äthiopien zugestimmt?

Regional gesehen war es erst einmal ein guter Schachzug des äthiopischen Premierministers Abiy Ahmed, auf Afewerki zuzugehen. Das hat auch für Äthiopien viel bedeutet. Immerhin hieß dies, dass die Vorgängerregierung, der er angehörte, als Verlierer gilt und entfernt werden muss. Ahmed hat Afewerki den Frieden auf Augenhöhe angeboten. Für Afewerki hieß das: Er ist der Sieger. Bei aller Kritik am „National Service“, an der Politik des Gürtel-enger-Schnallens, am Opferbringen für die Nation, obwohl keine Entwicklung erkennbar ist – auf einmal hatte er trotzdem recht. Dann, und hier kommt der psychologische Faktor ins Spiel, ist er eingeladen worden nach Äthiopien. Da hat er ausgesehen wie ein Kind an Weihnachten: Es gab Geschenke, Konzerte, er wurde gelobt und umarmt. In Eritrea war er das nicht mehr gewohnt.

Dort wurde der Schritt nicht von allen begrüßt. Das Rumoren war laut zu hören, und das in einer Diktatur.

Afewerkis Führungsriege aus Militär und Regierung war viel kritischer. Es gab sogar Rücktrittsdrohungen in der eigenen Regierung. Militärgranden haben sich geweigert, mit nach Äthiopien zu reisen. Und als Ahmed zum ersten Mal nach Asmara geflogen kam, meldeten sie sich krank. Die Äthiopier haben sich anschließend beschwert, dass sie nicht genügend Ansprechpartner hatten. So etwas geschieht ganz selten in einer Diktatur, das war der maximal mögliche Unwille, der da zum Ausdruck kam. In Eritrea bricht sehr viel um, da sehen einige die nationalen Interessen in Gefahr. Auch die Konfliktdynamik in der historisch durch Konflikte geprägten Region hat sich umsortiert. Da kann niemand mal einfach so den Frieden ausrufen. In welche Richtung das geht, wage ich nicht vorauszusagen.

Auch auf internationaler Ebene wurde Druck auf Eritrea und Äthiopien ausgeübt. Welche Rolle spielt hier die Europäische Union?

Vermutlich wurde Afewerki signalisiert – und dies trägt deutlich die Handschrift der EU -, dass er auf diese Weise Teil einer politischen Lösung sein kann, er internationaler Ansprechpartner bleibt. Und Eritreas Führung wurde auch, nach einer langen Zeit der Isolation und Schmähung, hofiert wie nie zuvor. Das hat ein bisschen gedauert, aber ich glaube, das ist angekommen. Und die EU hat da einen Stich gemacht, durch präzises Einwirken gab es einen Friedensprozess zu günstigen Konditionen.

Wer sind die anderen Akteure?

Was die EU macht, ist eher symbolisch. Daneben mischen vor allem die USA, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate mit. Die USA unternahmen immer wieder Gesprächsversuche. China hat im Nachbarstaat Dschibuti eine Militärbasis errichtet. Das bringt die USA in Bedrängnis, in der Region nach Alternativen zu suchen, und da bleibt nur Eritrea. Der Friedensvertrag wiederum wurde in Saudi-Arabien vorbereitet und unterschrieben. Die Saudis und die Emirate sehen hier einen Wirtschaftsraum, der nur Sinn macht, wenn man ihn zusammen betrachtet, und da musste dieser eiserne Vorhang weg. Zudem haben beide Staaten Truppen in Eritrea und fliegen von dort aus ihre Luftangriffe Richtung Jemen.

Eritrea ist international wegen seiner Flüchtlinge in den Schlagzeilen, ging es der EU in diesem Prozess um ihre „nachhaltige Flüchtlingspolitik“, die verhindern soll, dass Menschen noch nach Europa aufbrechen?

Die EU hat zwar erreicht, dass Eritreer in Äthiopien arbeiten können, doch ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, die Probleme scheinen nur gelöst. Jetzt kann man zwar einwirken und sagen, der „National Service“ muss weg – doch was passiert dann? Eritrea täte aus Sicht der eigenen Regierung gut daran, zu verhandeln, um welchen Preis dieser abgeschafft werden soll. Aus ihrer Sicht muss so teuer wie möglich verhandelt werden.

Wird die eritreische Führung „ihre“ Flüchtlinge hierbei in die Waagschale werfen?

Eritrea wird oft fälschlicherweise mit Nordkorea verglichen, aber es hat keine Atombomben. In Eritrea sind Flüchtlinge das Pfund, mit dem man wuchert. Auch hier kommt der Friedensschluss Eritrea zugute. Mit diesem erlangte Eritrea über Agenten und die früher unterstützte äthiopische Opposition Zugriff auf die Flüchtlingslager. Und es ist eigentlich im Sinne Eritreas, wenn sich aus Äthiopien weiterhin eritreische Flüchtlinge Richtung Mittelmeer aufmachen.

Gibt es keinen „National Service“ mehr, argumentieren Kreise in Europa, gibt es auch keinen Fluchtgrund mehr. Doch diesen abzuschaffen, würde das Land auch vor große Probleme stellen. Die Wirtschaft liegt brach, was sollten diese Menschen dann arbeiten?

Der „National Service“ hat einen unglaublichen Schaden angerichtet. Eine ganze Generation ist ohne Ausbildung. Viele sind geflohen. Wer blieb, hat oft wenig mehr gelernt, außer zu gehorchen. Die Wirtschaft liegt am Boden. Bis auf ein paar privilegierte Teilbereiche, die Militärgranden zur Selbstbereicherung unterstehen. Das ist ein Schaden, der sich nicht auf die Schnelle beheben lässt. Auch gibt es aktuell überhaupt keine positiven Nachrichten aus Eritrea. Im Gegenteil, es kommt zunehmend zu Verhaftungen, die der Politik des Landes entsprechen. Erneut sind evangelikale Christen in Haft. Zuletzt wurden die Besitzer von Wassertanklastwagen festgenommen, die sich dem Preisdiktat der Regierung widersetzt hatten. In dieser Hinsicht hat sich in Eritrea nichts verändert – es gibt keine nachweisliche Besserung der desolaten Menschenrechtslage.

Auch und besonders Rückkehrer sollen staatlicher Willkür ausgesetzt sein. Wie schätzen Sie das ein?

Das stimmt, aber nur zum Teil. Eine Charmeoffensive der Regierung erlaubt seit kurzem prinzipiell Familienbesuche in der Heimat. Die allermeisten würden das aber nicht wagen. Die Massenauswanderung aus Eritrea besteht seit 2005. Ein paar Jahre nach dem Ende des Grenzkrieges, als die Menschen erkannten, dass sich nichts bessert, fing das an. Die Führung erkannte schnell, dass sie das nicht aufhalten kann. Also sollte wenigstens Geld damit verdient werden. So waren zum Beispiel Militärs in den Menschenschmuggel involviert. Und so hat man über Abgaben wie die Zwei-Prozent-Steuer, die jeder Diaspora-Eritreer entrichten muss, und die konsularischen Gebühren profitiert.

Massenflucht als Geschäftsmodell eines Staates?

Das funktionierte so gut, dass man die Politik danach ausrichtete: Es wurde so lange geschossen, wie einer aus dem eigenen Land fortlief. Wer einmal über die Grenze war, wurde aus der Kategorie „Landesverräter“ in die Kategorie „Diaspora“ umsortiert. Und diese Leute unterstützen, mit allem, was sie haben, die Daheimgebliebenen, was das wirtschaftliche Leben stabilisiert. Die ganze Gesellschaft finanziert sich im Wesentlichen durch die Diaspora. Viele sind auch nicht unmittelbar als Oppositionelle des Regimes geflohen, sondern weil es keine Lebensperspektiven gab. Das Leben in Eritrea ist eine Schule der Diktatur, die sich auch in den Köpfen niedersetzt. Viele Menschen wussten gar nicht, dass sie Opfer einer Regierungspolitik sind, das war ein natürlicher Zustand.

Wir haben jetzt ein ziemliches desolates Bild vom Zustand dieses Staates gezeichnet. Sie kennen Eritrea gut. Würden Sie das Land trotzdem zu einer Reise empfehlen?

Wenn Sie ein unbeschriebenes Blatt sind, gehen Sie hin, solange das Land noch einigermaßen politisch stabil ist. Weit über die Hauptstadt Asmara hinaus dürfen Sie nicht, aber das Meer bei Massawa zu besuchen ist erlaubt. Ansonsten gibt es keinen konsularischen diplomatischen Schutz, das ist alles militärisches Sperrgebiert. Aber es lohnt sich, das Land ist wunderschön. Asmara gehört völlig zu Recht zum Unesco-Weltkulturerbe, die Landschaft ist faszinierend. Die reichhaltige Geschichte ist überall sichtbar. Und vor allem: Wenn immer nur Politiker und Offizielle ins Land reisen, trägt das nichts zur Aufklärung bei. Viele Menschen sollten sich das anschauen, dann würde sich hier auch der Diskurs ändern. In Eritrea sollte man politisch vorsichtig und zurückhaltend sein. Aber mit offenen Augen reisen, das geht immer.