Einfluss will erarbeitet sein: Jeder Abgeordnete kann im EU-Parlament etwas bewegen

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Einzelne Abgeordnete können im Europäischen Parlament, entgegen landläufigen Ansichten, durchaus etwas bewegen. Unter welchen Voraussetzungen dies möglich ist, erklärten uns ehemalige luxemburgische EU-Parlamentarier.

Der Spruch „Hast du einen Opa, dann schick ihn nach Europa“ mag bei jenen, die gerne über das Europäische Parlament herziehen und dessen vermeintliche Inkompetenz damit illustrieren wollen, noch en vogue sein. Mit der Realität hat der Reim allerdings seit Jahren nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Wer glaubt, vor dem Ruhestand seine politische Karriere in Brüssel und Straßburg auslaufen lassen zu wollen, hat bereits verloren. Denn die Ansprüche, die an EU-Parlamentarier gestellt werden, sind hoch. Erreichen tun sie nichts, wenn sie nicht bereit sind, viel zu arbeiten. „Man kann keinen Tourismus dort betreiben“, sagt Ben Fayot. Damit bewegt man nichts.

Der ehemalige LSAP-Politiker war im Laufe seiner ersten Mandatsperiode (1989-1994) im EP stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Kultur, Jugend, Bildung und Medien und nach seiner Wiederwahl 1994 bis 1999 Vorsitzender des Ausschusses für Geschäftsordnung, Wahlprüfung und Fragen der Immunität. „Für einen Luxemburger ist das schon außergewöhnlich“, sagt Ben Fayot. Denn bis heute sind es meistens Abgeordnete aus größeren Mitgliedstaaten, die den Vorsitz zumindest der bedeutendsten Parlamentsausschüsse erhalten. Ben Fayot gesteht zwar ein, dass er als damaliger LSAP-Parteipräsident mit den dadurch gewonnenen Kontakten einen gewissen Vorteil hatte. Dennoch bedürfe es eines starken Interesses am Geschehen, ständiger parlamentarischer Arbeit sowie der Mitarbeit in der Fraktion, um als EU-Parlamentarier etwas bewirken zu können, zählt Ben Fayot auf.

Luxemburger mit Einfluss

Dabei spielt die Eigenart des Europäischen Parlamentes, in dem es im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten weder Mehrheit noch Opposition gibt, engagierten EP-Abgeordneten in die Hände. Für jeden legislativen Text müsse eine neue Mehrheit ausgehandelt werden, sagt Robert Goebbels. „Wenn man seine Dossiers kennt, kann man im Europäischen Parlament als einzelner Abgeordneter sehr viel Einfluss haben. Mehr als in nationalen Parlamenten“, so der ehemalige LSAP-Politiker, der dem EP von 1999 bis 2014 angehörte.

Diese „andere Dynamik“ des EU-Parlaments machte sich der ehemalige Grünen-Abgeordnete Claude Turmes zunutze. „Zwischen 1999-2018 haben wir fast alle Abstimmungen im Energiebereich gewonnen“, sagt der heutige luxemburgische Energieminister. Wobei er mit dem „wir“ zwar die Grünen meint, es aber durchaus auch auf sich beziehen kann. Denn Claude Turmes hatte sich, nachdem er 1999 ins EP kam, schnell einen Namen als Energieexperte gemacht. Er betreute für seine Fraktion alle relevanten energiepolitischen Gesetzesvorhaben, vor allem im Rahmen der von der EU gesetzten Klimaziele.

Der Einfluss, den sich Claude Turmes in all den Jahren erarbeitet hat, lässt sich unter anderem daran veranschaulichen, dass selbst der Chef des deutschen Energieriesen E.ON, Johannes Teyssen, im Februar 2017 nicht umhinkam, nach Brüssel zu reisen, als der Luxemburger Grüne dort sein Buch über die Energiewende in Europa vorstellte.

Vorteile nutzen

Luxemburgische Abgeordnete profitieren im EU-Parlament, in dem offiziell 24 Sprachen gesprochen werden, von ihrer Mehrsprachigkeit. Aber auch davon, dass ihnen kaum unterstellt wird, eine „hidden agenda“ zu verfolgen, wie Claude Turmes erklärt. Abgeordnete aus größeren Ländern stünden eher im Verdacht, insgeheim den Interessen eines heimischen Konzerns oder Wirtschaftszweiges zuzuarbeiten, so der Grünen-Politiker. Ansonsten aber spiele es kaum eine Rolle, ob ein Abgeordneter aus einem großen oder kleinen Land komme.

Von Vorteil ist es, wenn ein EU-Parlamentarier bereits über politische Erfahrung in anderen Ämtern verfügt. Wie Robert Goebbels, der, bevor er 1999 ins EU-Parlament einzog, während 15 Jahren als Minister verschiedener Ressorts (Wirtschaft, Transport und Entwicklung) bei Ratstagungen das institutionelle Räderwerk der EU verinnerlichen konnte. Allerdings hält dieser Vorteil nicht lange an, schränkt Ben Fayot ein: „Man muss sich trotzdem beweisen.“ Claude Turmes geht noch weiter: „Das EP ist ein ‚brutales‘ Parlament. Niemanden interessiert es, was du vorher gemacht hast“, findet der Grünen-Politiker, der nach eigenem Bekunden ehemalige Minister erlebt habe, „die null Einfluss hatten“.

Das schien Robert Goebbels nicht passiert zu sein. Lange Jahre arbeitete er als Fraktionsvize mit dem damaligen Chef der Sozialdemokraten im EP und späteren EP-Präsidenten sowie deutschen SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zusammen. An wichtigen Gesetzen im Finanzbereich hat er mitgearbeitet, auch federführend als Berichterstatter wie etwa an einem Gesetz über Insiderhandel und Marktmissbrauch im Aktienhandel.

Suche nach Kompromissen

Seine Erfahrungen als Minister kamen ihm unter anderem zugute, als er mit anderen EP-Abgeordneten zu einem informellen Ministerrattreffen nach Österreich reiste, um gemeinsam mit der heutigen belgischen EU-Kommissarin Marianne Thyssen als Wortführer die dort versammelten Minister von der im Parlament überarbeiteten Fassung der sogenannten Bolkestein-Richtlinie zu überzeugen.

Der Gesetzestext über die Liberalisierung der Dienstleistungen in der EU – benannt nach dem niederländischen Kommissar Frits Bolkestein – hatte das Potenzial, den sozialen Frieden in Europa nachhaltig zu stören. Gewerkschaften gingen auf die Barrikaden gegen die weitgehenden Liberalisierungsvorschläge. Es wurde eine Verschlechterung der Standards unter anderem im Arbeitsrecht befürchtet. Die Parlamentarier hatten einen Weg gefunden, die Richtlinie zu entschärfen, etwa indem das Gesundheitswesen und andere heikle Bereiche von der Richtlinie ausgenommen wurden. Damals sei es ihnen gelungen, einen „stabilen Kompromiss“ mit dem Ministerrat auszuhandeln, erinnert sich Robert Goebbels heute.

Andere Qualitäten

Andere Qualitäten brachte Astrid Lulling mit, um sich durchzusetzen, als sie erstmals 1965 ein Mandat in dem damals noch mehr als heute männerdominierten Europaparlament antrat. Die ehemalige EVP-Abgeordnete war unter anderem von 2004 bis 2014 Quästorin im Europäischen Parlament und somit mit Finanz- und Verwaltungsaufgaben betraut, die die EP-Abgeordneten betreffen. Ihr zweites Mandat als Quästorin erstritt sich Astrid Lulling gegen den Willen des damaligen EVP-Fraktionsvorsitzenden Hans-Gert Pöttering. Im Plenum wurde ihre eigenmächtige Kandidatur fraktionsübergreifend unterstützt.

Aus verschiedenen Fraktionen habe sie vor der Wahl Zuspruch erhalten, da sie als eine bekannt war, „déi de Bak opdeet“, erzählt die rüstige Politrentnerin. Was sie auch getan habe, um den Bau des neuen KAD-Gebäudes (KAD: Konrad Adenauer) für das Europäische Parlament auf Kirchberg in Luxemburg voranzutreiben, das im kommenden Jahr bezogen werden soll. Ebenso wie die anderen früheren EP-Abgeordneten kommt Astrid Lulling zum Schluss, dass ein Parlamentarier ohne entsprechendes Engagement und viel Arbeit wirkungslos bleibt. Ihr Fazit: „Im Europäischen Parlament kann man nichts erreichen, wenn man nichts tut.“

Pierre Ravarin
19. Mai 2019 - 11.45

Wo sie sich besonders hervortun: Die Kreativität bei der Beschaffunf eigener Privilegien und der Förderung des Lobbyismus! Wir zahlen. Danke.