„Wir brauchen ein einheitliches System“

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Dr. Eric Sassel ist Allgemeinmediziner und Mitglied des Gemeinderats Bascharage. Zudem ist er Präsident der Elternvereinigung mc2, die sich für Kinder mit ntwicklungsstörungen einsetzt./Luc Laboulle

Anlässlich der Studienreise von mc2 nach Grenoble wollten wir von Dr. Sassel wissen, wie es denn nun weitergehen soll. Wir baten ihn, eine vorläufige Bilanz zu ziehen und uns einen Einblick in das weitere Vorgehen der Vereinigung zu gewähren.

Tageblatt: Welche Probleme sehen Sie in Luxemburg im Zusammenhang mit Krankheiten wie Dyslexie, Dyskalkulie, Dysphasie oder ähnlichen?
Dr. Eric Sassel: „Das Problem besteht darin, dass hier, genau wie überall auf der Welt, 20 Prozent der Schulkinder Lernschwierigkeiten haben, dass es aber an einer einheitlichen Definition, sowohl im Schul- als auch im Gesundheitswesen, fehlt. Das hat zur Folge, dass man in Luxemburg nicht weiß, ab wann und auf welche Weise man sich der Kinder annehmen soll.“

 MC2

o Kontakt: mc2 – denk endlech anescht asbl.
39, rue de la Résistance
L-4942 Bascharage
Tel.: 691 150 120
www.dyslexie.lu
info@dyslexie.lu

o Spendenkonto:
BCEE, Konto: LU80 0019 2155 9836 2000

„T“: Besteht dieses Problem weltweit oder ausschließlich in Luxemburg?
E.S.: „Es ist ein weltweites Problem, dass 20 Prozent der Kinder mehr oder weniger stark betroffen sind. Bei einem Viertel davon ist das Problem angeboren. Bei diesen fünf Prozent ist es sehr schwierig, mit herkömmlichen pädagogischen Mitteln zu helfen. Dabei ist es wichtig zu helfen, da diese Kinder ja über eine mindestens durchschnittliche Intelligenz verfügen und demzufolge auch zu sehr guten Schulnoten fähig wären, wenn ihnen mit speziellen pädagogischen Maßnahmen geholfen würde. Das Problem in Luxemburg besteht nicht darin, dass wir nicht über die notwendigen Möglichkeiten verfügen. Wir wenden diese Möglichkeiten nur nicht systematisch, nicht einheitlich genug an.“

„T“: Und was war nun der eigentliche Grund Ihrer Studienreise an die Universitätsklinik nach Grenoble? Welchen Zweck verfolgten Sie?
E.S.: „Der Hauptgrund, nach Grenoble zu fahren, war, dass sie in Frankreich auf dem Gebiet der Dyslexie federführend sind. Das gilt sowohl für die Kennzeichnung, Erkennung und Diagnose als auch für die Behebung von Schulschwierigkeiten. Unter dem Impuls von Dr. Zorman, der insbesondere im Bereich der Schulschwierigkeiten im Zusammenhang mit der gesprochenen Sprache und der Schriftsprache ein anerkannter Spezialist ist, haben sie schon mehr als zehn Jahre Erfahrung.
Ein weiterer Grund war das Forschungsprogramm ’Cognisciences’, das es den Wissenschaftlern dort erlaubt, in den Bereichen Medizin und Schulwesen aktiv und interdisziplinär Forschung zu betreiben und somit Berührungs- und Schnittpunkte zwischen den Disziplinen zu entdecken. Nur so kann der Problematik, die ja eigentlich beide Bereiche gleichermaßen betrifft, Rechnung getragen werden.“

„T“: Welche Erkenntnisse hat diese Reise der Vereinigung mc2 und Ihnen persönlich gebracht?
E.S.: „Eigentlich jede Menge. Es war interessant zu sehen, dass in dieser Region schon seit zehn Jahren Mediziner und Pädagogen gemeinsam Methoden erschaffen, um der Problematik Herr zu werden. Sie haben eine Definition erstellt, dann eine Methodik entwickelt, damit der Lehrer Kinder mit schulischen Schwierigkeiten systematisch und einheitlich erkennen kann.
Der Lehrer kann die Informationen anschließend problemlos an die Schulmediziner übermitteln, welche die Untersuchung – wiederum systematisch – fortführen können und den Schüler gegebenenfalls an ein gesetzlich verankertes ’Centre de référence’ weiterleiten. Dieses ’Centre de référence’ kann dann die schwierigen Fälle ermitteln und auch behandeln. Von dort aus geht die Information wieder an den Lehrer zurück und, falls nötig, können schließlich Sonderpädagogen, in Zusammenarbeit mit den Lehrern, den Kindern wirklich helfen.
Im Endeffekt hat man dann ein System, das tatsächlich dem Charakter des öffentlichen Gesundheitswesens entspricht und die Kinder schon sehr früh, im Alter von fünf Jahren, systematisch herausfiltert und ihnen hilft, ihre Probleme so gut als nur möglich in den Griff zu bekommen. Vor allem pädagogisch, wenn nötig aber auch medizinisch. Da entfallen auch die ganzen Unannehmlichkeiten, die wir hier in Luxemburg haben, das Hin-und-her-Rennen, der Mangel an Kohärenz und Zusammenarbeit sowie die terminologische Uneinigkeit.“

Besonderheitenrespektieren

 ANZEICHEN FÜR DYSLEXIE

o Verwechseln von ähnlich aussehenden Buchstaben (p-q, b-d, a-e, h-k, f-t, F-E)
o Verwechseln von rechts, links, oben, unten
o Sehr langsames Lesetempo
o Buchstaben auslassen
o Endungen weglassen
o Ganze Silben hinzufügen
o Ein und dasselbe Wort wird in einem Text immer anders geschrieben
o Kein Zusammenlauten der Buchstaben (Haus wird gelesen als H-a-u-s)
o Beim Zeilenwechsel wird die nächste Zeile nicht gefunden
o Schwierigkeiten, serielle Leistungen zu vollbringen (Wochentage, Monatsnamen, Zahlenreihen usw.)
o Beim Lesen wird „Biene“ zu „Beine“, „Gärten“ zu „Gräten“ usw.

„T“: Inwieweit ist das französische System auf Luxemburg übertragbar?
E.S.: „Erstens gibt das System uns die Möglichkeit, eine Partnerschaft mit dem Bildungs- und dem Gesundheitsministerium einzugehen, die uns ja auch auf der Reise nach Grenoble unterstützt haben. Zweitens besteht auf zivilpolitischer Seite der Wunsch, auf dem Gebiet der Dyslexie weiter zu gehen und uns an europäische Standards anzupassen.
Drittens sind dies Systeme, die in unseren Nachbarländern Frankreich und Deutschland, aber auch in den Niederlanden und Großbritannien schon sehr weit fortgeschritten sind. Dort gibt es Ansätze, die schon mehr als zehn Jahre integral funktionieren. Viertens stehen uns alle notwendigen Berufsgruppen hier zur Verfügung. Wir haben Mediziner, Orthophonisten, Lehrer usw. Wir müssen eben nur ein Netzwerk aufbauen, damit diese Leute besser und systematisch zusammenarbeiten können.
Fünftens, und das ist ein ganz wichtiger Punkt, wir können das System nicht eins zu eins auf Luxemburg übertragen, sondern müssen den kulturellen und soziolinguistischen Besonderheiten hierzulande Rechnung tragen, d.h. die Tests müssen an die Kenntnisse im Wortschatz und in der Grammatik der hiesigen Schüler angepasst werden. Dazu bedarf es natürlich auch wiederum einer ganzen Reihe von Studien, sowie Linguistiker und anderer Spezialisten, die sich um diesen Bereich kümmern. Doch diese Anpassungen mussten andere Länder auch durchführen.
Im Grunde genommen bestehen keinerlei Hindernisse, die die Umsetzung des Projekts stören sollten.“

„T“: Gibt es denn nicht schon vergleichbare Strukturen hier? Wie sieht es mit dem „Service de guidance“ aus, der sich ja auch um Kinder mit Lernschwierigkeiten kümmert?
E.S.: „Wir begrüßen natürlich die Arbeit des ’Service de guidance’, doch die Idee hinter unserem Konzept besteht darin, dass es in der Schule selbst zur Anwendung gelangt. Ediff (’Education différenciée’), SREA (’Service rééducatif ambulatoire’) und ’Service de guidance’ sollen nicht außerhalb der Schule tätig sein, sondern regelrechte Antennen in den Schulen haben.
Sie sollen integraler Bestandteil der Schulbehörde sein und eng mit den Lehrern, Sonderpädagogen, Medizinern und anderem Fachpersonal zusammenarbeiten.“

 FORDERUNGEN VON MC2

o Sensibilisierung zur Anerkennung und Unterstützung von Schulschwierigkeiten

o Anerkennung der Problematik als öffentliches Gesundheitsproblem mit Dringlichkeitscharakter

o Partnerschaft mit den betroffenen Behörden

o Kooperation im Sinne einer Netzwerkbildung zwischen Behörden, Schulen, Schulmedizin und Sonderpädagogen

o Nuancierung der Sprachkompetenzen der Schüler mit Sprachschwierigkeiten im Sinne des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens

„T“: Noch vor den nächsten Legislaturwahlen soll im Parlament ein neues Schulgesetz gestimmt werden. Wäre es nicht sinnvoll, entsprechende Änderungen noch mit einzubauen?
E.S.: „Soweit wir informiert sind, sind im neuen Schulgesetz einige Maßnahmen bereits so vorgesehen, wie wir es uns vorstellen, als da wären: die Anerkennung der Problematik als nationale Priorität im Schulwesen, die erforderliche Sensibilisierung der betroffenen Berufsgruppen (Lehrer, Pädagogen, Mediziner etc.). Außerdem soll im Gesetz die Einführung eines ’Instituteur ressources’ – eines Sonderpädagogen, der auch unterrichtet – geplant sein, der dem Lehrer in schwierigen Fällen zur Hand gehen kann. Das Bildungsministerium scheint auch bereit zu sein, eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen den betroffenen Akteuren und Diensten in der Schule selbst fördern zu wollen.
Doch auch im Gesundheitsministerium ist man gewillt, die Schulmedizin zu reformieren, und zwar in die Richtung, dass die Schüler nicht nur auf somatische, d.h. körperliche Probleme hin untersucht werden, sondern auch im Hinblick auf Schulschwierigkeiten, also Probleme mit der Sprache, im Schreiben und Rechnen, mit der Motorik sowie der Aufmerksamkeit. So können dann systematisch und einheitlich, im jungen Alter, Probleme erkannt werden.
Wichtig ist hier das Vorhaben beider Ministerien, die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schulmedizinern zu verbessern.“

„T“: Verschiedene Gemeinden haben ja auch schon den Schritt getan und einen „Educateur gradué“ oder Orthophonisten auf Teilzeitbasis in die Schule integriert …
E.S.: „Ja, das stimmt. In mehreren großen Gemeinden hat sich das System schon bewährt. Die Herausforderung besteht nun vor allem darin, das System auf nationaler Ebene zu institutionalisieren. Zurzeit hängt noch alles zu viel vom Willen der lokalpolitischen Stellen ab. Das Problem betrifft ja immerhin 20 bzw. 5 Prozent der Bevölkerung, je wie man es nimmt. Viele davon sind ein Leben lang mit Lernschwierigkeiten geplagt.“