OMNISPORT: „Ein Kind muss auch mal schwitzen“

OMNISPORT: „Ein Kind muss auch mal schwitzen“

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„Mission impossible Purzelbaum“ hatte das Tageblatt vor fast genau vier Jahren getitelt, als die Studie zum körperlichen Zustand der luxemburgischen Kinder vorgestellt wurde.

Gestern nun wurde die Folgestudie präsentiert. Fazit: Es liegt noch viel Arbeit vor den zahlreichen involvierten Parteien: Eltern, Schule, Gemeinde, Ministerien, Sportgemeinschaft. Die Bereitschaft und die Ansätze zu erkennbaren Fortschritten in den kommenden Jahren sind gegeben. Sie müssen „nur“ in die Realität umgesetzt werden.

David Thinnes
   

„Es ist fünf vor 12“ – so begann Professor Dr. Klaus Bös vom Karlsruher Institut für Technologie seinen gestrigen Vortrag zur Luxemburger Längsschnittstudie: Entwicklung von motorischer Leistungsfähigkeit, körperlich-sportlicher Aktivität und Gesundheit von Kindern in Luxemburg“. Die Folgestudie war von drei Ministerien – Bildung, Gesundheit und Sport – in Auftrag gegeben worden. Zwei Altersgruppen wurden in der Folgestudie untersucht und befragt: die zwischen 9 und 14 Jahren und diejenige zwischen 14 und 19 Jahren.
Puncto Aktivität wurde festgestellt, dass das Niveau mit 2,5 bis 4 Tagen pro Woche sehr niedrig ist. Die Jungen sind deutlich aktiver als die Mädchen. Festgestellt wurde jedoch, dass keine der untersuchten Gruppen das erforderte Mindestmaß von fünf bzw. sieben Mal wöchentlicher – 60-minütiger – Aktivität pro Tag erreichte. Was die Beweglichkeit angeht, tun sich die Mädchen hervor, und zwar lebenslang.
Ein Befund, der bereits vor vier Jahren gemacht worden war, ist der ungenügende Sportunterricht, vor allem in jungen Jahren. „Gerade in der Primärschule bräuchte man mehr Sport. Dort kann man Begeisterung wecken. Leider sind wir von einer täglichen Sportstunde noch weit entfernt“, so Prof. Bös.

Verein/Schule

Immer weniger Sportstunden im Laufe der Schulkarriere – das Problem ist bekannt und beschränkt sich nicht auf Luxemburg. Dieses Manko kann auch nicht durch den Sport abseits der Schule, also im Verein oder anderen Organisationen (z.B. Lasep oder Lasel), aufgefangen wurden. Zunächst steigt das Interesse in der Sekundarstufe an, dann verlassen jedoch 12 Prozent der 19-Jährigen diese Sektionen wieder.
Und selbst wenn 50 Prozent der Befragten Mitglied in einem Verein sind, so steigen Kinder und Jugendliche sehr früh wieder aus den Klubs aus. Etwa ein Drittel aller Mädchen und Jungen gehören derweil gar keinem Verein an. In diesem Bereich bieten sich die gestern häufig erwähnten Synergien zwischen Schule, Vereinen und Gemeinden an. Auch wenn viele Jugendliche ihre Gesundheit selbst als gut einschätzen, so sind 20 bis 30 Prozent der Jugendlichen übergewichtig. Dieses Phänomen ist bei jüngeren Jahrgängen weiter verbreitet.
Prof. Bös weist noch darauf hin, dass man den Stellenwert von organisierten Sportzeiten kennen muss. „Man kann nicht alles in der Schule lernen. Wenn ich sehe, wie der Tag eines Sechsjährigen bereits verplant ist, mache ich mir Sorgen. Ein Kind muss auch mal schwitzen können.“

Und jetzt?

2006 hatten sich vier Ministerien (Sport, Gesundheit, Bildung und Familie) zusammengetan, um den Aktionsplan „Gesond iessen, méi bewegen“ umzusetzen. Minister Schneider kündigte gestern an, dass dieser „plan d’action“ neu ausgearbeitet wird, um ab Januar 2011 wieder operationell zu sein. „Wir werden nichts überhasten. Wir geben uns jetzt sechs Monate Zeit, um mit neuen Zielen und neuen Partnern an den Start zu gehen“, so Sportminister Romain Schneider.
Für Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo steht fest, dass „de Message méi sexy muss ginn“. Das begründet er damit, dass „eis staark Konkurrenz méi sexy ass.“
Als Vorbild – nicht nur für Luxemburg – gelten wieder mal die skandinavischen Länder: „Sie erkennen die Dinge viel früher und reagieren schneller.“ 

Romain Schneider (Sportminister): „Diese Bilanz gibt der Politik einen legitimen Auftrag, noch mehr zu tun. Es ist unsere Pflicht, zu reagieren. Die Gemeinden sind unsere wichtigsten Partner.“
Mars di Bartolomeo (Gesundheitsminister): „Das Phänomen Übergewicht hat kurz- und mittelfristige Konsequenzen: Herz-Kreislauf-Probleme, Diabetes, Krebs. Wir erwarten keine Wunder. Es muss ein Bewusstseinswechsel kommen. ‚Mir mussen nach méi Gas ginn‘. Es ist ein langwieriger Prozess und wir müssen Geduld haben.“
Heinz Thews (COSL-Sportdirektor): „Die Studie bestätigt die Praxis: Wir haben die Talsohle noch nicht erreicht. Die Daten sind nach wie vor negativ. Es müssen konkrete Maßnahmen ergriffen werden. Es fängt im Elternhaus an. Über die Gemeinden muss versucht werden, neue Reize zu setzen. Wir brauchen Multiplikatoren, wie z. Bsp. die Kindertagesstätten, die das in die Familien reintragen.“
Rob Thillens (Präsident der Vereinigung der Sportlehrer APEP): „Natürlich würde ich eine Sport-Stunde pro Tag in der Primarschule begrüßen. Fest steht, dass die Schule nicht alles richten kann. Die Verantwortung muss verteilt werden. In der Optik der Ganztagsschule bieten sich in Zukunft noch andere Optionen. Ich denke auch, dass der Beruf des Erziehers immer wichtiger wird und in anderer Sichtweise geschult werden muss.“
Raymond Conzemius (Direktor Sportlycée): „Im Sportlycée haben wir das Problem von nicht-fitten Jugendlichen nicht. Bei uns werden trotzdem Elemente der motorischen Basis übermittelt. Auch wollen wir nicht, dass sich die Sportler zu früh auf nur einen Sport festlegen.“
Jos Bertemes (Direktor SCRIPT/Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques): „Es besteht Handlungsbedarf. Es darf keine Alleingänge geben. Sonst agieren wir nicht nachhaltig. Im besten Falle sollte vor der Pubertät gehandelt werden. Wir haben entschieden, im ‚groupe interministriel‘ vermehrt das Thema zu besprechen. Bei der Diskussion um die Stunde Sport/Tag in der Primärschule frage ich mich: Muss es unbedingt eine Schulstunde mehr sein? Wir müssen uns fragen, wie wir die Schule ins Alltagsleben mit einbinden können.“

 
DIE STUDIE 
o Zeitraum: Oktober bis Dezember 2008

o 271 Schüler

o Aufteilung:
Gesamt:
130 Jungen, 141 Mädchen
1. Jahrgangsgruppe (2004: Primärstufe, 2008: Sekundarstufe): 109 Schüler im Alter von 9 bis 14 Jahren
2. Jahrgangsgruppe (2004: Sekundarstufe 1, 2008: Sekundarstufe 2): 162 Schüler im Alter von 14 bis 19 Jahren

o Projektsteuerung:
Ministère de l’Education et de la Formation professionnelle, Script (Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques), minstère de la Santé, Département ministériel des Sports

o Projektdurchführung:
Karlsruher Institut für Technologie, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd