„Blatter steht für das Korruptions -System“

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Wie lange kann sich Sepp Blatter im Zuge des jahrelangen Schmiergeld-Skandals noch an der Spitze des Fußball-Weltverbandes FIFA halten? Kann der Korruptionssumpf in den großen Sportverbänden trockengelegt werden? Ein Tageblatt-Gespräch mit dem renommierten Journalisten Jens Weinreich.

Vor zwei Wochen beschloss ein Schweizer Gericht, dass den Medien eine Einstellungsverfügung ausgehändigt werden darf. Damit wurde aktenkundig, was seit Jahren bekannt war: Schmiergeldzahlungen im großen Stil in der FIFA. Aber nicht nur dort. Die ehemalige Sportrechte-Agentur ISL hat von 1989 bis 2001 Schmiergelder in Höhe von knapp 142 Millionen Schweizer Franken (118 Millionen Euro) an hochrangige Funktionäre aus FIFA, IOC und anderen Sport-Weltverbänden gezahlt. Im Mai 2010 hatte die Strafjustiz ein Verfahren gegen die FIFA und zwei hochrangige Mitglieder eingestellt, nachdem die drei Parteien 5,5 Millionen Schweizer Franken (4,6 Mio. Euro) Wiedergutmachung gezahlt hatten. Vergangenen Dienstag hat die FIFA im Exekutiv-Komitee zwei neue Ethikkomissionen ins Leben gerufen. Aber kann der Korruptionssumpf damit trockengelegt werden?

Das Tageblatt hat sich über die Abgründe der Sportwelt mit dem deutschen freien Journalisten Jens Weinreich unterhalten. Der 47-Jährige arbeitete ab 1996 für die Berliner Zeitung, wo er von 2002 bis 2008 Chef des Sport-Ressorts war, ehe der gelernte Journalist sich selbständig machte. Er gilt seit Jahren als einer der besten investigativen Journalisten auf dem Gebiet der Sportpolitik und als Experte in der Welt der Korruption. Neben seinem Web-Blog www.jensweinreich.de arbeitet er für eine Reihe von europäischen Medien: u.a. Deutschlandfunk, Berliner Zeitung, Financial Times Deutschland, Frankfurter Rundschau, Neue Zürcher Zeitung, Der Spiegel, Spiegel Online, Zeit Online, WAZ. Außerdem ist er als Autor verschiedener Bücher zu den genannten Themen bekannt.

Tageblatt: Sepp Blatter als Reformer: Utopie oder Wirklichkeit?

Jens Weinreich: „Das ist ein Witz. Die FIFA kann nur reformiert werden, wenn Blatter und sein Exekutivkomitee zurücktreten. Blatter steht für das Korruptionssystem, das über Jahrzehnte ausgeprägt wurde. Blatter ist die FIFA seit 1981. Als Generalsekretär war er der Chef der Administration: Präsident Havelange (FIFA-Präsident von 1974 bis 1998, d. Red.) war ja kaum im Büro. Als Präsident agierte Blatter anders als sein Vorgänger: Er führt die Geschäfte quasi selbst.Ein Rücktritt des gesamten Exekutivkomitees und die Aufarbeitung sämtlicher, noch zur Diskussion stehenden Fälle würde bedeuten: die Einberufung eines außerordentlichen Kongresses. Und dann könnten wir über einen Neuanfang reden.“

Ein Neuanfang ist mit dem aktuellen FIFA-Personal nicht möglich?

„Ich glaube nicht. Wie soll das aussehen? Die Namen der Chefs der Ethik-Kammern klingen gut und ich kann den Leuten auch nichts unterstellen. Nur sind die anderen Mitglieder dieser Kommissionen vorher schon drin gewesen und sind so inakzeptabel, weil sie das gemacht haben, was Blatter wollte. Insofern ist die Besetzung dieser Kommission absolut lächerlich. Wenn man versucht, das Positive rauszuziehen, gibt es einen Punkt: Sie haben verabschiedet, dass es keine Verjährung gibt. Das bedeutet, dass Michel Garcia sofort losgehen müsste, und als Erstes muss er schauen, was es mit der Überweisung an Havelange vom März 1997 auf sich hat (der Brasilianer hatte 1,5 Millionen Schweizer Franken, rund 1,25 Mio. Euro, von der ISL erhalten, d. Red.). Seit Jahren wird berichtet, dass das Geld einkam. Erwin Schmid, der damlaige FIFA-Finanzchef ging ins Buro von Blatte. Wir haben ein Problem. und wurde wieBlatter hat die Öffentlichkeit jahrelang angelogen und gesagt, er wisse nichts von der Zahlung. In der Einstellungsverfügung steht, dass P1, also Blatter, davon wusste. Jetzt sagt er, er hätte das erst später erfahren.“

Muss der Staat eingreifen, um die Korruption zu bekämpfen?

„Das Verhalten von 99,9 Prozent der Politiker in allen Nationen ist eine der größten Schanden überhaupt in diesem riesigen olympischen Korruptionssystem. Diese Politiker – ob in Luxemburg, Deutschland oder der Schweiz – machen sich durch Dulden, Wegkucken, Mitmachen – indem sie Steuerbefreiungen ausstellen – mitschuldig. Es gibt wenige Ausnahmen. Damian Collins in England hat eine Initiative gestartet. Roland Büchel in der Schweiz genauso. In Deutschland greift im Prinzip niemand ein, außer einer grünen Bundestagsabgeordneten. Und es gibt noch diese lobenswerte Initiative des Europarates.“

Wie ist diese Zurückhaltung zu erklären? Will jeder die Glamourwelt des Fußballs und des Sports genießen?

„Das ist eine Begründung. Wenn diese Personen auf der Ehrentribüne sitzen, setzt der Verstand aus. Ich würde sagen, dass viele Politiker nicht viel Charakter haben und ihrer Kontrollfunktion nicht gerecht werden. Die zweite Anmerkung ist, dass es in der Politik genauso korrupt zugeht wie im Sportgeschäft. Es ist ein trauriger Zustand der Gesellschaft, der sich da offenbart. Da schließe ich auch die Medien mit ein. Wie kann es sein, dass es weltweit Zehntausende Reporter gibt, die hauptberuflich über Fußballspiele, EM und WM berichten, aber gleichzeitig nur ein Dutzend Journalisten, die die Hintergründe beleuchten? Und diese Zehntausenden wollen von nichts wissen, blockieren sogar die Arbeit der wenigen anderen. Das betrifft Intendanten, Chefredakteure, Verleger, die vorgeben, Sport ist Unterhaltungsindustrie und ‚wir wollen mitverdienen‘. Ich nehme aber die einzelnen Journalisten nie aus der Verantwortung. Journalismus ist kein Beruf – ohne jemanden schlechtmachen zu wollen – wie Fleisch verkaufen. Journalismus hat mit Verpflichtung zu tun, die Öffentlichkeit aufzuklären, Misswirtschaft aufzudecken. Politik und Medienwirtschaft sind mitschuldig am Dilemma.“

Das IOC um Präsident Rogge hat ein Gespräch mit Blatter angekündigt. Welche Position hätten Sie sich vom IOC-Präsidenten erhofft?

„Rogge ist die absolute Enttäuschung auf diesem Gebiet. Als er 2001 Präsident wurde, hat er behauptet, er hätte eine Null-Toleranz-Politik bei Korruption. In der ISL-Sache hat er nichts Entscheidendes unternommen. Havelange hat man 2011 eine goldene Brücke gebaut: Er ist zurückgetreten. Sonst hätte man ihn verwarnt. Rogge hat sich dann erdreistet, eine Pressekonferenz abzuhalten, wo das Wort Korruption und ISL nicht einmal auftauchte. Das Einzige, was er sagte, ‚Herr Havelange ist kein IOC-Mitglied mehr und damit kein Thema mehr für uns‘. Rogge ist für mich unglaubwürdig.“

Bei Rogge hatte man das Gefühl, es ginge punkto Korruptionsbekämpfung in eine bessere Richtung. 2013 wird dann ein neuer IOC-Präsident gewählt. Der größte Anwärter, Thomas Bach, hat aber auch einen unangenehmen „Stallgeruch“

„Ich habe große Stücke auf Rogge gehalten und das lange verteidigt, bis 2007. Dann habe ich in Guatemala erlebt (auf der IOC-Session wurden die Olympischen Winterspiele 2014 an Russland vergeben, d. Red.), wie Putin (damaliger russischer Präsident, d. Red.) einflog und Rogge sich am Nasenring durch die Manege hat ziehen lassen. Seitdem spricht Rogge nicht mehr mit mir. Am Ende der Session diskutierten wir unter vier Augen. Ich habe ihm das mit Putin erzählt und ihn gefragt, ‚erklären Sie mir, was die machen, was ich, was andere Kollegen nicht sehen‘. Er reagierte etwas pikiert und hat gesagt ‚Sie können sich gar nicht vorstellen, wie groß der Druck ist, auch politisch‘. Zu Thomas Bach wissen wir, dass er ein Produkt desselben Stalls wie Blatter ist. Bach war zwei Jahre (1985 bis ’87, d. Red.) Adlatus von Adidas-Chef Horst Dassler, der die ISL gegründet hat, und für das flächendeckende System der Korruption im Sport verantwortlich ist. Bach hat in der sportpolitischen Abteilung mitgearbeitet, die genau das gemacht hat wie später die ISL: Funktionäre geschmiert. Wenn Bach Präsident wird, haben wir dieses System von Adidas, ISL, Blatter, seit Mitte der 70er Jahre.“