GroßbritannienStillstand am Ärmelkanal: Corona-Mutation nimmt Chaos-Brexit vorweg

Großbritannien / Stillstand am Ärmelkanal: Corona-Mutation nimmt Chaos-Brexit vorweg
Der Fährbetrieb im Hafen von Dover ist zum Erliegen gekommen Foto: AFP/Adrian Dennis und William Edwards

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Was Branchenexperten aufgrund des Brexits für Januar prophezeiten, ist kurz vor Weihnachten wegen Covid-19 bereits eingetreten: Zu Wochenbeginn kam der Handel zwischen Großbritannien und dem Kontinent weitgehend zum Erliegen.

Wie andere EU-Mitglieder riegelte Frankreich seine Grenze zur Insel komplett ab, der wichtigste Ärmelkanalhafen Dover musste schließen. Bis Montagnachmittag hatten sich auf den Zufahrtsstraßen Lastwagen-Staus von bis zu 50 Kilometern Länge gebildet. In London leitete Premierminister Boris Johnson eine Sitzung seines Krisenstabes, für den Abend wurde eine Erklärung angekündigt.

Der Regierungschef hatte am Samstag weitgehende neue Einschränkungen für London, seinen unmittelbaren Speckgürtel sowie die Grafschaft Kent zwischen der Hauptstadt und dem Ärmelkanal angekündigt und vor allem mit einer neuartigen Mutation von Sars-CoV-2 begründet. Die Variante VUI-202012/01 führt nach bisherigen Erkenntnissen zwar nicht zu schwererem Krankheitsverlauf oder höherer Mortalität, kann offenbar aber zu bis zu 70 Prozent höherer Übertragung führen, weil viele Träger symptomfrei bleiben.

Führende Wissenschaftler wiesen auf die Lückenhaftigkeit bisheriger Informationen hin. Noch sei keineswegs gesagt, analysierte der deutsche Virologe Christian Drosten im Deutschlandfunk, ob die Virusvariante sich mit einer ohnehin bestehenden Welle verbreite oder selbst für die Welle verantwortlich sei.

Nach den alarmierenden Mitteilungen aus London mochten benachbarte Regierungen nicht auf genauere Erkenntnisse warten und sperrten ihre Grenzen für Reisende aus dem Königreich. Zu 17 europäischen Ländern gesellten sich am Montag fernere Nationen wie Indien, Russland und Kanada. Während die Niederlande sämtliche Flüge verboten, durften Lastwagen weiterhin einreisen. Hingegen sperrte Frankreich in der Nacht zum Montag die Grenze komplett. Dadurch kam nicht nur der Zugverkehr durch den Eurotunnel zum Erliegen, sondern auch der Fährverkehr zwischen den Häfen von Calais und Dover. Dort werden an normalen Tagen 10.000 Lastwagen transportiert und rund 30 Prozent des gesamten Außenhandels der Insel abgewickelt.

Bald Engpässe bei Frischobst und Gemüse

An der Börse reagierten Aktien- und Währungshändler nervös. Der FTSE-100-Index gab bis Montagmittag um 2,6 Prozent nach, das Pfund Sterling verlor gegenüber dem Dollar um 1,7, gegenüber dem Euro um ein Prozent an Wert. Beim Einzelhandel hieß es, die Warenhäuser seien voll, einerseits des Weihnachtsgeschäftes wegen, andererseits wegen der Brexit-Unsicherheit. Auch der Supermarkt-Gigant Sainsbury sah sich für die Konsumschlacht vor den Feiertagen gerüstet; halte die Situation am Ärmelkanal an, werde es aber bald Engpässe bei Frischobst und Gemüse wie Broccoli oder Blumenkohl sowie Salat geben.

Unterdessen gingen in Brüssel die Brexit-Gespräche weiter, Fortschritte bei den verbliebenen Streitpunkten – Fischfang, faire Konkurrenzbedingungen für Unternehmen, das Verfahren zur Schlichtung zukünftiger Konflikte der Vertragsparteien – waren nicht in Sicht. Am Sonntag war eine Frist des Europaparlaments abgelaufen. Dieses sieht sich nun zur Ratifizierung des erhofften Freihandelsvertrages in diesem Jahr nicht mehr in der Lage, weshalb das Abkommen am 1. Januar vorläufig in Kraft träte – wenn denn eine Einigung überhaupt gelingt. Sonst scheidet das Ex-Mitglied Großbritannien an Silvester ohne Anschlussvereinbarung („No Deal“) aus der Übergangsfrist aus, in der seit dem offiziellen Austritt Ende Januar sämtliche Pflichten und Regeln der Union auch auf der Insel weitergelten. Das kurzzeitige Corona-Chaos am Ärmelkanal dürfte sich dann mehrere Tage, Wochen oder Monate lang wiederholen.