RusslandIn Moskau steigen die Infektionen rasant

Russland / In Moskau steigen die Infektionen rasant
In der Moskauer U-Bahn wird Maske getragen Foto: AFP/Natalia Kolesnikowa

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Auch wenn die zweite Coronawelle Russland fest im Griff hat, schreckt der Kreml vor einem kompletten Lockdown zurück. Entspannung durch Impfstoffe wird es erst im Frühling geben.

Schlechte Nachrichten für die Moskauer Nachtschwärmer: Restaurants und Cafés, Bars und Clubs werden zu Silvester 2020 geschlossen bleiben. Die Korken des russischen „Schampanskoje“ werden also nur in Wohnungen an die Decke gehen. Statt Galadiner gibt es den gewohnten Mayonnaisesalat „Olivier“. Und das Wohnzimmer muss als Dancefloor reichen. Hat man „Nowij God“ – das russische Neujahr – früher im Familienkreis gefeiert, sind bei der Mittelklasse in den vergangenen Jahren Feste in Lokalen beliebt geworden. Doch daraus wird im Coronajahr nichts.

Verantwortlich für die Party-Absage ist Sergej Sobjanin, Bürgermeister der russischen Hauptstadt. Auch für die Gastronomieszene, die sich mehr schlecht als recht von der wochenlangen Zwangspause im Frühling erholt hat, ist das keine frohe Kunde. Zumal die Einschränkung nicht nur für die Silvesternacht gilt: Ab sofort und noch bis Mitte Jänner müssen Gastrobetriebe um 23 Uhr schließen. Sobjanin rechtfertigt die Maßnahmen: „Wir brauchen zusätzliche Beschränkungen, um die Infektionsketten zu durchbrechen und die Zahl der Erkrankungen zu senken.“

Die Sperrstunde ist eine von mehreren neuen Einschränkungen für die russische Hauptstadt. Hintergrund ist das rasante Wachstum der Infektionszahlen. Seit Anfang November meldet Russland mehr als 20.000 Neuinfektionen täglich. Derzeit gibt es fast jeden Tag einen neuen Negativrekord. Mehr als 22.700 Fälle zählte man am Montag (16.11.), über 6.300 davon in Moskau.

Infiziert trotz Impfung

Auch was die weitere Entwicklung der Pandemie betrifft, hat sich Sobjanin wenig optimistisch gegeben. Für die nächsten Wochen erwartet der Stadtchef eine Verschlechterung des Bildes. Auch russische Wissenschaftler warnen bereits davor, dass sich die angespannte Lage bis Frühling hinziehen könnte. Erst dann werde der Effekt der russischen Covid-Impfung für breite Gesellschaftsschichten spürbar sein. Kleine Mengen der Vakzine werden bereits an Medizinpersonal ausgegeben. Unklar ist, wie wirksam die Impfung ist und ob sich die russischen Bürger überhaupt massenhaft immunisieren lassen. Denn die Impfbereitschaft liegt laut einer von der Kreml-Partei Einiges Russland beauftragten Umfrage bei mageren 23 Prozent. Zudem erkrankten mehrere Mediziner trotz Impfung an Covid-19 – was das Vertrauen in den heimischen Impfstoff nicht stärken dürfte.

Russland zählt derzeit mit einer Gesamtzahl von knapp zwei Millionen Covid-Fällen zu den fünf am stärksten betroffenen Ländern weltweit. Im Vergleich zum politischen Konkurrenten USA hat man die Pandemie zwar besser im Griff. Doch das Problem, vor allem in vielen russischen Regionen, sind die mangelnden Kapazitäten für schwere Fälle und die Überlastung des medizinischen Personals. Russische Medien berichten auch in diesen Tagen wieder von dramatischen Szenen in Krankenhäusern, denen die Betten für Infizierte ausgehen. Viele Ärzte sind erkrankt. „In den Regionen ist es eine Katastrophe“, erzählt eine Hilfsärztin dem Internetmedium Medusa. Kranke warteten vergeblich auf ärztliche Hilfe; einfache Medikamente seien nicht vorhanden.

Zwischen der medizinischen Versorgung in Moskau und der Lage in der Provinz gibt es große Diskrepanzen. Diese Problematik war bekannt, konnte aber in der kurzen Zeit zwischen den Pandemie-Schüben nicht gelöst werden. Auch wegen des frühen Ausstiegs aus den Begrenzungen und einer Politik über mehrere Monate, die so getan hat, als sei die Corona-Krise längst gemeistert, ist die neue Welle für viele Bürger eine böse Überraschung.

Kreml will eigene Wege gehen

Der Kreml will erklärtermaßen in der Corona-Krise seinen eigenen Weg gehen. Oft ist zu hören, dass „drakonische Maßnahmen“ wie etwa im Gros des übrigen Europas nicht nötig seien. Vorerst versucht man, nur an kleinen Rädchen zu drehen, um das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen: Universitäten und ein Großteil der Schulen sind im Onlinemodus, Theater- und Kinosäle dürfen nur zu einem Viertel gefüllt sein, Sportveranstaltungen mit Publikum werden begrenzt, viele Arbeitnehmer sind erneut im Home-Office. Die für die Staatskasse wichtigen Großbetriebe funktionieren normal. Der Kreml will negative Folgen für die Wirtschaft minimieren.

Anders als im Westen diskutiert die Führung mit der Gesellschaft nicht über die Einführung von Einschränkungen. In paternalistisch-autoritärer Tradition werden sie ohne Vorankündigung erlassen – und sind zu akzeptieren. Corona ist in Russland keine Chefsache, sondern Angelegenheit der Lokalpolitiker und mittlerer Beamten. Während westliche Regierungschefs Corona-Statistiken erklären, interessiert den Kreml das PandemieManagement nicht. Und anders als im Westen, in dem Politiker durch Maskentragen Verantwortungsbewusstsein markieren, besteht für Präsident Wladimir Putin kein Anlass, sich ein Stück Stoff vors Gesicht zu klemmen. Er hat sich seit Monaten in seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo verbarrikadiert. Wer zu ihm will, muss vorher in Quarantäne, heißt es.

Einen Aspekt der Krise hat Russland allerdings im Griff: Tests. Die kann man gratis in öffentlichen Polikliniken oder kostenpflichtig bei vielen privaten Anbietern durchführen – ohne Wartezeit. Ein Preiskampf hat dazu geführt, dass PCR- und Antikörpertests für je umgerechnet 25 Euro erhältlich sind. 55 Euro kostet der Test mit Hausbesuch, den man ebenfalls bequem online buchen kann. Sollte man positiv getestet werden und der Verlauf leicht sein, wird Telemedizin angeboten: 170 Euro kostet das Coronapaket eines bekannten Privatspitals: Hausbesuch eines Arztes, Basismedikamente und zwölf Onlineberatungen während des Krankheitsverlaufs inklusive.