LondonAfghanistan-Politik der britischen Regierung wird heftig kritisiert

London / Afghanistan-Politik der britischen Regierung wird heftig kritisiert
Sie sollen es jetzt richten: Britische Soldaten der 16 Air Assault Brigade treffen zur Assistenz der Operation Pitting in Kabul ein Foto: Leading Hand Ben Shread/Mod/Crow/PA Media/dpa

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Europa und die USA müssten sich nach der Demütigung des Westens auf eine Flüchtlingswelle gefasst machen, wie man sie nach der kommunistischen Machtübernahme Vietnams 1975 erlebt habe, sagt der frühere Entwicklungshilfeminister Rory Stewart voraus.

Dem Druck der Labour-Opposition folgend hat die britische Regierung für Mittwoch eine Sondersitzung des Unterhauses zur Lage in Afghanistan anberaumt. Offenbar gibt es im Kabinett des konservativen Premierministers Boris Johnson Differenzen über die Haltung Großbritanniens, die dem Kurs von US-Präsident Joe Biden folgt, sich aber gleichzeitig von der Rückzugsentscheidung distanziert. Innerparteiliche Kritiker richteten ihr Feuer auf die Downing Street: Dass auch die größte Militärmacht Europas ihre Truppen zurückgezogen habe, stelle „das schwerste Versagen britischer Außenpolitik“ seit mehr als 60 Jahren dar, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Unterhaus, Tom Tugendhat.

Die Parlamentarier sollten eigentlich erst Anfang September aus dem Sommerurlaub zurückkehren. Ihre mit hohen Kosten verbundene Rückholung für eine Sondersitzung gibt der Opposition Gelegenheit, der Regierung Vorhaltungen zu machen; eine Kurskorrektur könnte höchstens großzügigere humanitäre Gesten als bisher umfassen. Zuletzt war das Unterhaus im Sommer 2013 vorzeitig zusammengetreten. Damals erlitt die konservativ-liberale Koalitionsregierung unter David Cameron eine schwere Abstimmungsniederlage, woraufhin geplante Militärschläge gegen Syriens Präsidenten Baschar al-Assad unterblieben.

Verteidigungsminister Ben Wallace, wie Tugendhat ein Ex-Offizier der Armee, kämpfte am Montag in Medien-Interviews mit den Tränen, als die Rede auf jene Afghanen kam, die der britischen Armee vor Ort als Fahrer und Dolmetscher beigestanden hatten. „Ich bin Soldat, die Situation ist traurig. Wir müssen unser Bestes geben, um die Leute da rauszuholen“, sagte der 51-Jährige dem Radiosender LBC.

Taliban machen alle Spekulationen zunichte

Alle Spekulation über eine mögliche Rückkehr britischer Kampftruppen an den Hindukusch zu einem späteren Zeitpunkt hat die Machtübernahme der Taliban zunichtegemacht. Ohnehin ist – ähnlich wie in Amerika – auch in Großbritannien, das seit 2001 in Afghanistan 457 Tote und Tausende von Schwerverletzten zu beklagen hatte, der Appetit für den Kampfeinsatz der Streitkräfte extrem begrenzt. Die Regierung konzentriert sich nun darauf, „mit unseren Partnern in der Region und weltweit“ sicherzustellen, dass das Land „nicht erneut zu einer Brutstätte von islamistischem Terrorismus“ verkommt, sagte Premier Johnson nach einer Sitzung des Krisenstabes Cobra.

Wallace hat mehrere Hundert Fallschirmjäger in Marsch gesetzt, um die Evakuierung von rund 4.000 britischen Staatsbürgern sicherzustellen. Zudem sollen bis zu 2.000 Afghanen ausgeflogen werden, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten für Großbritannien tätig waren und als gefährdet gelten. Anders als sein US-Kollege war der britische Botschafter am Montag noch vor Ort am Flughafen von Kabul, um den Berechtigten die lebensnotwendigen Visa auszustellen.

Dies gilt auch für eine Reihe hochbegabter junger Leute, die übers Wochenende einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt waren. Zunächst hatte das Foreign Office den 35 Männern und Frauen mitgeteilt, sie könnten ihre äußerst prestigeträchtigen Chevening-Stipendien zum Studium an einer englischen Universität nicht antreten. Diese Entscheidung stelle erneut eine schlimme Beeinträchtigung des britischen Prestiges in der Region dar, kritisierte der frühere Vizepremier David Lidington auf Twitter. „Tief enttäuscht“ äußerte sich auch der frühere Entwicklungshilfeminister Rory Stewart. Der Protest hatte Erfolg, die Entscheidung wurde noch am Sonntag korrigiert.

Die beiden pragmatischen Torys fielen 2019 Johnsons Säuberung der Partei von allen Brexit-Kritikern zum Opfer. Besonders Stewarts Expertise fehlt den Konservativen nun. Der gelernte Diplomat war zu Beginn des Jahrhunderts quer durch Iran, Afghanistan und Pakistan gewandert und hatte dabei die Folgen des Massenmordes vom 11. September 2001 miterlebt. Dass sein Land, das sich doch gern als eine führende globale Militärmacht präsentiere, nicht einmal den Versuch gemacht hat, mit NATO-Verbündeten jenseits der USA eine dauerhafte Präsenz in Afghanistan sicherzustellen, hält Stewart mit englischer Untertreibung für „wirklich merkwürdig“.

Wie der frühere Minister kritisieren auch andere Kenner die kürzliche Kürzung der Entwicklungshilfe für Afghanistan um mehr als die Hälfte. Europa und die USA müssten sich nach der Demütigung des Westens auf eine Flüchtlingswelle gefasst machen, wie man sie nach der kommunistischen Machtübernahme Vietnams 1975 erlebt habe. „Gemeinsam werden wir mehrere Millionen aufnehmen müssen“, prophezeit Stewart. Das werde für die Brexiteers schwer zu verkraften sein, aber: „Das haben sie sich selbst eingebrockt.“