StandpunktDie Politik der Angst

Standpunkt / Die Politik der Angst
 AFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Es sorge demnach ein Fürst, die Oberhand und den Staat zu behaupten, so werden die Mittel immer ehrenvoll, und von jedermann löblich befunden werden: weil der Pöbel immer von dem, was scheint, und der Dinge Erfolg befangen wird; und in der Welt ist nichts als Pöbel. (Nicolò Machiavelli, Der Fürst, Kap. 18)

In einem kurzen Blogbeitrag weist der italienische Philosoph Riccardo Manzotti zu Recht darauf hin, dass Experten in der heutigen Krise weniger nach den Übertragungsmechanismen von Viren gefragt werden als nach Verhaltensanleitungen. Der Wissenstransfer, mit dem Wissenschaftler zu einem verantwortungsvollen und aufgeklärten Umgang mit der bedrohlichen Situation beitragen könnten, weicht gemeinhin der Logik von Nachfrage und Angebot von Regeln und Richtlinien, von Verboten und Strafen. Der Eifer, mit dem sich die verschiedensten Wissenschaftler, ganz besonders hier in Luxemburg, in öffentlichen Medien mit solch persönlichem Souveränitätsstreben hervortun, zeugt von einem tiefen, wenn auch unbewussten Verständnis realpolitischer Praxis.

Walter Lippmann, neben Edward Bernays einer der überzeugendsten zeitgenössischen Nachfolger Machiavellis, beschrieb seine Erfahrungen der Informationsmanipulation und der aufkommenden Bewegung Benito Mussolinis folgenderweise: Der demokratische Staatsbürger empfindet sich als „ein tauber Zuschauer in der hinteren Reihe“, der zwar gerne die Mysterien der Politik verstünde, aber es dann doch nicht fertigbringt, dabei nicht einzuschlafen. (W. Lippmann, Die imaginäre Öffentlichkeit)

Manager- und Unternehmerethos

Rousseaus Rätsel des „Gemeinwillens“ oder Hegels Phänomen des objektiven Geistes lässt sich, so Lippmann, jenseits politischer Metaphysik leicht erklären. Demokratien setzen sich aus zwei Arten von Personen zusammen: den zuschauenden Bürgen und den agierenden Dirigenten. Die Ersteren haben zwischen den Wahlterminen nur ein vages, desinteressiertes Verständnis der Handlungen der politischen Entscheider. Und die Letzteren wissen, dass erst, wenn das „vage und verwirrende Durcheinander“ der angeblichen allgemeinen Meinung „kanalisiert, komprimiert und vereinheitlicht“ worden ist, das Volk in die richtige Richtung gelenkt werden kann.

Wie Bernays gehörte Lippmann vorrangig zu den kognitiven Volkslenkern. Es ging ihm darum, zu verstehen, wie in Demokratien Meinungen und Verhalten dank eines geschickten Umgangs mit Informationen in Einklang mit den Absichten und Vorhaben der politischen und wirtschaftlichen Führer – heute würde man wohl bevorzugt auf das Manager- und Unternehmerethos hinweisen – gebracht werden kann. Wie ihre Vordenker aus der Renaissance ignorierten Lippman und Bernays aber auch nie die Macht der politischen Gefühle. Da politisches Verständnis und Selbstdenken sowieso zu komplex und zu schwierig sind, vermag es der gute Volksführer, auch auf gefühlsgeladene Symbole zurückzugreifen. Denn Gefühle sind nicht so spezifisch wie Gedanken. Sie vermögen oft besser als Ideen und Ideologien, das Durcheinander zu ordnen und dann in die gewünschte Richtung zu lenken.

Nun könnten Kritiker in solchen Ratschlägen eine Legitimierung interessierter Volkslenkung sehen. Die Kritik der Meinungsmanipulation verliert jedoch jeden realpolitischen Boden, wenn man gewahrt, dass die Öffentlichkeit sich selbst nach Führung sehnt. Selbstverständlich war diese Möglichkeit auch den idealistischen Aufklärern, den Gegnern der Realpolitik, nicht entgangen: „Faulheit, Feigheit und Bequemlichkeit“, so das moralisierende Urteil Kants, „sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen […] dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“.

Angst und Hass

Während Faulheit und Feigheit sich jedoch für politische Apathie durchaus eignen, scheinen sie für die aktive Volkslenkung weniger interessant als Gefühle wie die Angst und der Hass. Diese Erkenntnis schien grundlegend für Thomas Hobbes’ Theorie der modernen Monarchie. Im Gegensatz zur deutschen Vernunftsmoral sah der englische Aufklärer die Bürger eines Staates nicht durch die Teilhabe einer allgemeinen Vernunft geeint, sondern durch die Angst vor dem Tod. Erst aus der Todesangst, aus der unbestimmten Angst vor den anderen Menschen und vor der unerkannten und unverstandenen Natur heraus vereinen sich die Scharen und Massen der Individuen unter der Alleinherrschaft eines Souveräns. Das „Gewaltmonopol“ des Staates, das sich in der Form des Souveräns darstellt, ist somit auch immer zugleich ein Angstmonopol.

Eine der politischen Grundfunktionen des Souveräns (des Staates) besteht demnach darin, den unbestimmten Ängsten einen zusammenhängenden Inhalt zu geben. Der Monarch, dieser „sterbliche Gott“, übernimmt den traditionell politischen Auftrag des Gottes der Religion, d.h. die Funktion der imaginären Objektfindung und folglich der Vereinheitlichung der Angst. Das Gemeingut wird erst möglich durch die Gemeinangst, die der Souverän nicht nur verkörpert, sondern auch aktiv gestaltet.

Gemeinsame politische Zwecke können dann am besten verwirklicht werden, wenn es der Souverän vermag, die Angst seiner Subjekte zu kontrollieren und zu steuern. Hier deutet die „realpolitisch entzauberte“ Politik schon auf die Stellung hin, die Wissenschaft, Forschung und Technik im modernen Staat einnehmen werden: „Die Ingenieure der richtigen Ordnung können von den Kategorien sittlichen Umgangs absehen und sich auf die Konstruktion der Umstände beschränken, unter denen die Menschen wie Naturobjekte zu einem kalkulierbaren Verhalten genötigt sind.“ (J. Habermas: Theorie und Praxis)

Zwei Arten der Angst

Nach dem 2. Weltkrieg interessierte sich der Politologe und Jurist Franz Neumann aus der Perspektive einer kritischen, politischen Psychologie für den Zusammenhang von Angst und Politik. Angst, so Neumann, behindert die Entscheidungsfreiheit: Nur ein angstloser Mensch kann sich frei entscheiden. Damit erscheint Angst von vorneherein als antithetisch zur liberalen Demokratie.

Nun muss man jedoch nach Neumann, hier ganz auf der Freud’schen Linie, zwei große Arten der Angst unterscheiden: Die Realangst, die im Zusammenhang mit äußeren Gefahren steht, und die neurotische Angst, die aus Schuldgefühlen, Selbstbestrafungsbedürfnissen, inneren Verboten und Ansprüchen heraus entsteht. Wenn sich dann beide Formen der Angst vermischen, wenn die Realangst sich mit der neurotischen Angst verbindet, wird die Realangst nicht nur um ein Entscheidendes verstärkt, sondern aus der Mischung entstehen zwei neue Formen der Angst: depressive Angst und Verfolgungsangst.

Politisch interessant wird Angst im Zusammenhang dessen, was Neumann die cäsaristische Identifizierung mit den Führern nennt. Cäsaristische Identifizierung funktioniert als Abwehr gegen die Verfolgungsangst dank einer affektiven Anlehnung an Führerpersonen. Solche Identifizierung entsteht privilegiert in Gefahrensituationen, und ganz besonders dann, wenn geschickte mediale und politische Informationstechnik es vermögen, die Realangst mit neurotischer Angst anzureichern und so gezielt, wenn auch nicht immer absichtlich gewollt, in Verfolgungsangst umzuwandeln.

Neurotische und paranoide Ängste führen, so Neumann, beim Betroffenen zum Ichverlust, d.h. zur Einschränkung des rationalen Denkens und der freien Entscheidungsmöglichkeit. Die Anlehnung an den charismatischen Führer, den väterlichen Staatsmann oder die fürsorgliche Staatsfrau, das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe der Gleichgesinnten – „vereint gegen den Feind“ – vermögen es, diese „Icheinschrumpfung“ durch regressive Entmündigung zu kompensieren.

„Die Ausnahme beweist alles“

Solche regressiven Massenbewegungen erweisen sich in der Regel als eher kurzlebig, wenn die Angst und die Führeridentifizierung nicht aufrechterhalten werden können. Neumann kennt jedoch aus seiner langjährigen Faschismus-Forschung drei Methoden der Institutionalisierung, welche die Nachhaltigkeit der regressiven Massenbewegung garantieren: „der Terror, die Propaganda und, für die Anhänger des Führers, das gemeinsam begangene Verbrechen.“ 1954 zog Neumann daraus den Schluss, dass die Welt nicht weniger, sondern mehr anfällig für die Ausbildung regressiver Massenbewegungen geworden ist.

Diese Hypothese könnte man in der jetzigen Situation auf jeden Fall als bewährt ansehen. In der Politischen Theologie (1922) schrieb Carl Schmitt, einer der wichtigsten deutschen Staatsrechtler, der mit seinem Begriff des Ausnahmezustands dem Verfassungsrecht eine neue, historische Wendung gab und damit das Staatsrecht des Nationalsozialismus vorbereitete: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme.“ Diese Umkehrung des Normalen und der Ausnahme bestimmt im Ausnahmezustand das Denken der Politik und leider allzu oft auch der medialen Berichterstattung.

Der Feind lauert überall

So befleißigen sich Medien und Politiker, in eigenartiger prästabilierter Harmonie, auch noch die jüngste Patientin, den stärksten Leistungssportler und den gesündesten Normalbürger in der entlegensten Ecke des Planeten aufzufinden, die am grauenhaftesten, viralen Erstickungstod gestorben sind. Auch die Kategorie des Gesunden selbst wurde regelbildend umgekehrt, als sich herausstellte, dass Infizierte nicht zwingend Kranke sind. Damit scheint gemeinhin bewiesen, dass jeder gesunde Mensch ein Kranker ist, der es noch nicht weiß. Gefährlicher noch: Jeder scheinbar Gesunde wird selbst zum möglichen „Superverbreiter“ und schließlich zur möglichen realen Todesbedrohung für seine Familie, seine Freunde und die Bevölkerung im Ganzen werden. Der Feind lauert überall.

Der herannahende Fußgänger, der die Straßenseite wechselt, der vermummte Radfahrer auf den menschenleeren Straßen der Hinterprovinz, der empörte Denunziant im Supermarkt und der Hobby-Polizist in der Wohnanlage: Sie alle gehören schon zu den willigen Helfern der regressiven Angstpolitik, die sich dafür stark macht, demokratische Grundrechte und Freiheiten auf dem Altar des Terrors und der Sicherheit zu opfern.

Bleiben wir gesund, der Rechtsstaat kann warten.

Dos Santos Tom
29. April 2020 - 0.24

Tageblatt super weider esou daat Journalismus den mir ganz drengend brauchen villmols merci

TCS
28. April 2020 - 16.13

Ein wunderbares Schluss-Kapitel, vielen Dank! Wir glauben noch viel zu oft, dass die Politiker uns ein risikoloses Leben verschaffen sollen, anstelle unsere Eigenverantwortung wahrzunehmen.

jmw
28. April 2020 - 13.56

Der Autor setzt die Fähigkeit zum kritischen Denken bei den Lesern voraus, sonst hätte er den Text wohl nicht geschrieben. Danke! Bei allem kritischen Denken und berechtigten Analysen sollten wir alle so reflexiv sein, dass wir nicht paranoiden Phantasmen verfallen und überall schon "willige Helfer" bzw. Halbgötter sehen!

J-Marc Calderoni
28. April 2020 - 12.55

Bravo Häer Simonelli ! Exzellenten Artikel. Schuëd blouss, dass de Groussdeel vun eiser Gesellschaft déi komplex Mechanismen vu Politik a Wirtschaft nëtt begräift. Eng besser Welt- eng déi nëtt reng op Materialismus a Profit ausgeriicht as, mä op Humanismus a Solidarität - gëtt dann eréischt méiglech, wa schons am Fondamental intensivst iwwer Macchiavelli, Kant a Co diskutéiert gëtt. Éierlech politesch Opkläerung déi hiren Numm verdéngt, hätt d‘Substanz d’Gesellschaft zum Besseren ze veränneren. Esouguer eist heftegst indoktrinéiert Marieland. Ob dat allerdéngs gewollt as ... ?

HTK
25. April 2020 - 10.12

Einst waren es die Könige die mit Hilfe der Priesterschaft(also Gott) die Zügel fest in der Hand hielten. Die Gefügigkeit der Untertanen war ihnen sicher,denn sie hatten die Macht durch Strafe und die daraus resultierende Angst zu regieren. Mit zunehmender Bildung und Aufklärung nahm die Zahl der Wunder ab und Könige und Priester wurden in die Wüste geschickt.Demokratisierung und liberale Regierungsformen haben uns die heutige Lebensweise geschenkt.Es gibt bisher keine bessere. Der Feind lauert überall? Ja hauptsächlich in unseren Köpfen.Und wenn ein Tottel mit Präsidentenehren verkündet man solle doch Desinfektionsmittel spritzen,dann sagt das viel aus über den Gemütszustand vieler Menschen die so einen Mann an die Macht heben. Ausserdem scheint es bald mehr "Experten" zu geben als Infizierte.Pest,Cholera,Influenza usw.Haben wir alles durchgestanden und...sind noch immer da.Der mediale Rummel und die resultierende Hysterie sind auch nicht gerade förderlich. Wir haben ein Virus das durch Tröpfchenübertragung grassiert. Abstand und Hygiene sind das einzige Mittel,nicht Angst und Hysterie und die Wirtschaft lahmlegen. Also.Wer sich VOR dem Nasebohren die Hände wäscht und Abstand vom Nächsten hält hat schon die halbe Miete. Alles wird zwar teurer,aber besser.

Caroline R.
24. April 2020 - 20.12

Ech sinn net interesséiert Hegel, Schmitt, Neumann ... Den Otto wëll liewen, fir z'iwwerliewen. Dat ass genau wéi ech et gesinn. De Sperrung ass wichteg an ech bleiwen doheem am Abrëll a Mee. Keen Auchan, kee Kaktus a kee Coiffer. Just well de President Trump d'Wirtschaft opmaacht, musse mir d'Nonsens net imitéieren

J.Scholer
24. April 2020 - 14.46

Respektabler, intellektueller Exkurs, der Otto Normalverbraucher mit vollem Unverständnis in die Röhre gucken lässt, weil dieser Otto Normalverbraucher , es nicht verstehen kann sein Leben durch diese Pandemie aus den Fugen gerät, aus Sorge um Arbeitsplatz, Lebensstandard, Gesundheit , Zukunft , sich dann die Angst einstellt.Otto Normalverbraucher interessiert nicht Hegel,Schmitt,Neumann,....Otto will leben, überleben.

Enrico Lunghi
24. April 2020 - 14.41

Merci pour cet excellent article !

Peter
24. April 2020 - 10.17

Ersetzen Sie Angst durch Sorge und schon wird ein Handschuh daraus. Den die Sorge führt zu vernünftigen Abwägungen und diese zur Alters- und Gesundheitsvorsorge. Bezüglich der Corona - Krise ist unser Handeln auch nicht durch die Angst geprägt, sondern die Sorge um die schwächsten in unserer Gesellschaft. Das man sich auch um die Wirtschaft und den Wohlstand sorgt und hier einen Kompromiss sucht, gehört zu einer vernünftigen Politik.