ForumWürfeln für eine bessere Zukunft? Zweifel an den Zufalls-Bürgerräten

Forum / Würfeln für eine bessere Zukunft? Zweifel an den Zufalls-Bürgerräten
Volksabstimmung in der Schweiz: Im Mai 2019 bestimmten die Bürger über Gesetzesänderungen in Sachen Steuern und Waffenrecht Archivfoto: dpa/Martial Trezzini

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Die Schweiz ist das Musterland der direkten Demokratie. Nirgendwo sonst werden die Stimmbürger so oft um ihre souveräne Meinung gefragt. Periodisch finden „Votationen“ auf Bundes-, kantonaler und kommunaler Ebene statt. So am letzten Sonntag im September.

Mit 62% der abgegebenen Stimmen schmetterten die Schweizer eine – ausländerfeindliche – Beschränkung der Zuwanderung ab. Abgelehnt wurde ein erhöhter steuerlicher Freibetrag für jedes Kind. Die Maßnahme hätte begüterte Steuerzahler bevorteilt. Angenommen wurde eine Ausdehnung des Vaterschaftsurlaubs. Mit der knappsten aller Mehrheiten, 50,1%, sprachen sich die Schweizer für den Kauf neuer Kampfflugzeuge aus. 52% der Stimmbürger lehnten eine Lockerung des Jagdgesetzes ab, das Abschuss-Pläne für die immer zahlreicheren Wölfe erlaubt hätte. Wer glaubt, die Schweizer wären mehrheitlich „ökologisch“ eingestimmt, muss sich fragen, weshalb die auf kantonaler Ebene vorgeschlagenen obligatorischen CO2-Einsparungen beim Häuserbau keine Mehrheit fanden. Dagegen sprachen sich die Bürger von Zürich für den Bau eines neuen Fußballstadions aus.

Die jüngsten Votationen waren insofern bedeutend, weil sich 59% der registrierten Wähler daran beteiligten. Gewöhnlich üben circa ein Drittel der Wähler ihr souveränes Recht zur direkten Demokratie aus. Nur sehr selten sind es über 50%. Das zeigt die erste Grenze der direkten Demokratie. Ein Teil der Bürger ist ganz einfach nicht an Politik interessiert. Es waren diesmal in der Schweiz immerhin 41%! Viele wichtige politische Fragen sind zu komplex, um mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet zu werden. Wie viele Eidgenossen hatten wirklich den Durchblick bei der kruzialen Frage des Kaufs neuer Jagdflugzeuge zur Verteidigung der Schweizer Neutralität?

In Luxemburg verfolgen abwechselnd sozialistische wie grüne Armeeminister militärische Aufrüstung mit dem Check-Buch. Ohne eine wirkliche politische Debatte über die Notwendigkeit von massiven Investitionen in militärische Satelliten oder Flugzeuge. Zum Trost: Beim Pariser Klimaabkommen wurde festgehalten, dass militärisch bedingte CO2-Emissionen den Ländern nicht angerechnet werden.

In der Schweiz wie in Luxemburg entwickelt sich der Wolf als neues Kuscheltier. Für die Städter. Die Schweizer Landbewohner, zunehmend mit Übergriffen von Wolfsrudeln auf Viehherden konfrontiert, votierten massiv für kontrollierte Abschusspläne. Die tierliebenden Städter ebenso massiv dagegen. Die Städter gewannen.

Unsere Gesellschaft wird immer komplexer. Aktive Minderheiten betreiben mit viel Energie ihre oft engstirnigen Visionen. Da die meisten Bürger kaum Durchblick haben oder nicht interessiert sind, setzen oft die radikalsten Streiter ihre „Werte“ oder ihre „Ängste“ durch.

„Experten“ statt Parlamentarier

In diesem Zusammenhang muss man die manchmal perniziösen Attacken gegen die parlamentarische Demokratie, gegen die „Parteien-Herrschaft“ sehen. In den leider zu wenigen demokratischen Staaten rund um den Globus ist sicherlich nicht alles perfekt. Es gibt immer neue Widersprüche und Herausforderungen. Doch sind die allgemeinen Bürgerrechte nirgendwo besser gewahrt, ist das soziale Netz nirgendwo engmaschiger, sind die Lebensbedingungen nirgendwo besser als in den parlamentarischen Demokratien. Insbesondere in Europa.

Ausgerechnet in dem objektiv gesehen „besseren Teil“ der Welt machen sich die meisten Zweifel breit. Es gibt immer mehr Versuche, die „doofen Politiker“ auszuschalten und über „direkte Demokratie“ die absolute Volksbeglückung zu realisieren. Nach dem Zufallsprinzip ausgeloste „Bürgerräte“ sollen Gesetzesvorschläge ausarbeiten. Wobei davon ausgegangen wird, solche von der „Volks-Basis“ ausgehende Initiativen gerieten automatisch zur Perfektion. Würden die oft gegensätzlichen Interessen, die in jeder organisierten Gesellschaft existieren, wie durch einen Zauberstab auslöschen.

Den Propagandisten dieses demokratischen „Lottos“ scheint zwar zu schwanen, zusammengewürfelte Weisheit käme nicht ohne Fachwissen aus. So schlug z.B. im Tageblatt ein Politikwissenschaftler vor, „50 bis 100 Bürger“ sollten „zusammen mit Experten“ Vorschläge auszuarbeiten, mit denen das Parlament sich auseinanderzusetzen habe. Im Wort plädierte eine Möchtegern-Professorin der Uni Luxemburg für „Ernährungsräte“. Eine „Multi-Stakeholder-Plattform“ solle das nationale Ernährungssystem „nachhaltiger nach regionalen, fairen und ökologischen Kriterien“ umgestalten. Dabei könne man „mit Akteuren der formalen Gesetzgebungsverfahren kooperieren“! Diese „formalen“ Akteure, also Berufskammern, Staatsrat, Abgeordneten, Regierung dürften also abnicken, was sich die „Experten“ der „Ernährungs-Sowjets“ ausdachten!

In Frankreich berief der um elektorale Gadgets nie verlegene Präsident Macron eine „Convention citoyenne pour le climat“ ein. 150 Bürger sollten Frankreichs Weg aus der Klimakrise aufzeichnen. Angestrebt wurde eine ausgeglichene soziologische, soziale und regionale Vertretung. Was zu einer „orientierten Handverlosung“ zwang, um auf „repräsentative“ 52% Frauen und 48% Männer zu kommen, unterteilt in sechs Altersgruppen zwischen 16 und 80 Jahren. Darunter Arbeitslose, Studenten, Bauern, Handwerker, Feuerwehrmänner usw., aber keine Vertreter der Wirtschaft oder der Wissenschaft.

150 „direkte Volksvertreter“

Damit die basisdemokratische Wegfindung in die gewünschte Richtung ging, wurden die 150 „direkte Volksvertreter“ von Klima-Experten zuerst in dreitägigen Seminaren „informiert“. Ehe sie in sechs Arbeitsgruppen aufgeteilt wurden. Das Problem der „direkten Demokratie“ bleibt, dass selbst zu 150 eine umfassende Diskussion nicht möglich ist. Ein „Comité de Gouvernance“ koordinierte die sechs dreitägigen Diskussionsrunden. Als erste Vizepräsidentin fungierte Laurence Toubiana, ehemals Generalsekretärin des Pariser Klimaabkommens. Die zwei weiteren nicht gewählten Vizepräsidenten, ebenfalls mit „ökologisch-altermondialistischem“ Hintergrund, sind eng vernetzt mit Organisationen wie „Terra Nova“, „Pacte Finance Climat“ oder „Extinction Rebellion“.

Die 150 Konventionellen kamen sinnigerweise auf 150 Vorschläge, obwohl zwischendurch nahezu zwei Dutzend Vertreter der direkten Demokratie aufgegeben hatten. Die meisten Vorschläge der Klimakonvention lesen sich wie ein Abklatsch der Thesen von „Terra Nova“ (mitbegründet von Daniel Cohn-Bendit) oder des von Laurence Toubiana gesteuerten „Institut de développement durable et des relations internationales“: Weniger Fleisch und Fisch essen; Bio für die Kantinen; Verbot von SUVs und stärkere Besteuerung spritfressender Fahrzeuge; Beschränkung der Geschwindigkeit auf den Autobahnen auf 110 km/h; Förderung des Radfahrens; Verbot der Pestizide; keine Heizung mehr für die Terrassen der Gaststätten; nächtliches Abschalten von Leuchtreklamen; Obligation für den Handel, mindestens 25% seines Angebots ohne Verpackung anzubieten.

Der einzig wirklich originelle Vorschlag wurde von der Generalversammlung der Konventionellen abgeschmettert: Die Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit von 35 auf 28 Stunden bei gleichzeitiger Erhöhung des Mindestlohnes um 20%. Welche Auswirkung eine solch generöse Sozialmaßnahme auf das Weltklima haben könnte, bleibt zwar schleierhaft.

Ob die Vorschläge der „Klima-Konvention“ wirklich der „Volks-Weisheit“ entsprechen, darf bezweifelt werden. Das Vorgehen der angeblich direkten Vertreter des Volkswillen entspricht genau demjenigen der Vertreter der repräsentativen Demokratie, der Parlamentarier. Die mit Vorliebe neue Taxen und Steuern erfinden sowie Verbote aussprechen. Mit dem Unterschied, dass der Bürger sich bei der nächsten Wahl bei seinen gewählten Vertretern „bedanken“ kann. Während die Fehler und Übertreibungen der „Basis-Demokratie“ keiner demokratischen Sanktion ausgesetzt sind!

Die viel gerühmte Athener „Demokratie“ funktionierte nur, weil ein Drittel der damaligen Bevölkerung Sklaven waren. Die gemeinsam mit den Frauen den männlichen „freien Bürgern“ das Palavern auf der Agora ermöglichten.

Die parlamentarische Demokratie hat letztlich den Vorteil, dass der Bürger seine Vertreter bestimmen kann. Was demokratischer ist als eine Lotterie. Sicher könnten die Bürger öfters konsultiert werden. Etwa nach dem Schweizer Modell. Nur wird bei Referenden nicht immer auf die gestellte Frage geantwortet. Manchmal nutzt das Stimmvolk die gebotene Gelegenheit, um seine allgemeine Missmut auszudrücken. So war der Hauptgrund hinter der knappen Brexit-Abstimmung eher eine epidermische Reaktion von vor allem älteren Briten gegen die Ausländer als ein „Nein“ zu Europa. Wobei fast ein Drittel der Briten sich nicht einmal an der Schicksalswahl beteiligten.

Das knappe „Ja“ der Luxemburger beim Referendum zur Europäischen Verfassung entsprach ebenfalls einer Trotzreaktion. Immerhin traten damals alle Parteien, ausgenommen der ADR, alle Gewerkschaften, alle Patronatsorganisationen, alle Kirchen und die gesamte Presse für die Billigung der Reform ein, obwohl kaum jemand den Vertrag gelesen hatte.

Auch das dreifache Nein zum Ausländerwahlrecht, zur Herabsetzung des Wahlalters oder zur Mandatsbeschränkung war ein „Désaveu“ der Politikklasse. Im Parlament hätte es eine satte Mehrheit für die anvisierten Reformen gegeben. Gewählte Volksvertreter reagieren normalerweise nicht allein aus einem Bauchgefühl heraus, sondern müssen oft sehr komplexe Zusammenhänge ausbalancieren.

Unser Wahlsystem ist verbesserungsfähig. Die Kompetenz unserer Parlamentarier ebenfalls. Doch werden sie von den Wählern bestimmt. Die nicht kompetenter werden, falls sie per Los in die Rolle des Gesetzgebers fallen sollten.

* Der Autor ist ehemaliger Minister und Europaabgeordneter.

BéGé
4. Oktober 2020 - 18.04

In @HTK ‘s und @ Wöhrter ‘s Wörter geht keine Rede davon , dass im Escher schöffenrat keine enzige Frau sitzf . Niemand braucht also in die Schweiz zugehen , oder ?

Let‘z happen
4. Oktober 2020 - 12.17

Alleine der Ausdruck „ Bürgerräte“ zu gebrauchen , zieht einen Streif kommunistisch- sozialistischen Gedankengutes hinterher und erinnert an die Räterepublik längst vergangener Zeitepochen. Hoffentlich wird der Geist dieser Räterepubliken nicht mehr auferstehen um uns in einen Arbeiter und Bauernstaat der Bonzen zu führen.

HTK
4. Oktober 2020 - 12.04

@Wörther, es ist nicht alles perfekt.Aber wir Luxemburger brauchten ja auch etwas Zeit um den Frauen ihre Stellung in der Gesellschaft zu "erlauben". Irland hatte bis vor kurzem Probleme mit der Frauenpower usw. Das ändert aber nichts am System der "angewandten" Demokratie. Wir dürfen eine Petition einreichen oder uns mit Schildern vor die Chamber stellen,das war's.

Wörther
3. Oktober 2020 - 19.45

@HTK "dazu brauchen sie nicht in die Schweiz zu reisen….? Es geht um Demokratie in ihrer besten Form,nicht um Homophobie,Chauvinismus oder Rassismus." Sie meinen also man konnte in der Schweiz Frauen 70 Jahre lang das Wahlrecht vorenthalten und das dann unter 'Chauvinismus' verbuchen, sich aber trotzdem für tolle Demokraten halten? So eine Demokratie hatten auch die Griechen, solange man nicht eine Frau, ein Sklave oder ein Metöke war.

HTK
3. Oktober 2020 - 17.08

@BéGé, dazu brauchen sie nicht in die Schweiz zu reisen....? Es geht um Demokratie in ihrer besten Form,nicht um Homophobie,Chauvinismus oder Rassismus.

Moritz
3. Oktober 2020 - 16.27

Leute die den Job 'wollen' sind meistens mental nicht geeignet dafür. Besser wären die Jobs auszulosen für 5 Jahre und wenn man einen guten Job macht, dann kommt man wegen guter Führung 1 oder 2 Jahre eher raus.

BéGé
3. Oktober 2020 - 14.17

Anfang der 50ziger wurden wir Luxemburger Studenten an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich sowie alle anderen Nicht-Schweizer als «  Cheibe (weniger als Nichts) Uuslänner « behandelt. Also heute von der Schweiz als Musterland sprechen , grenzt an , sagen wier gelind, Unwissenheit ,oder ?

HTK
3. Oktober 2020 - 9.15

Bürgerbefragung IST Demokratie. Diese Form der Politik hat natürlich seine Gefahren.Wie von Herrn Goebbels erwähnt braucht es Information VOR einer Meinungsbildung.Das kleinkarierte " na warte,ich werd's euch zeigen" hat bei Stimmabgabe nichts zu suchen.So entstehen Präsidenten wie Donald Trump. Ob einige neue Kampfjets die Schweiz vor einem feindlichen Übergriff retten würden ist fraglich bei der heutigen Machtverteilung.Da ist ein Stadion vielleicht sinnvoller usw.usw. Ein Charles Goerens z.B. sieht rot wenn man ihm das Wort Referendum an den Kopf wirft. Nach dem Motto "dumbes Volk,mach was wir dir sagen" haben solche Leute kein Verständnis für Umfragen,seien sie auch nur "konsultativ". Alle 5 Jahre für irgend eine Gurkentruppe stimmen und dann wieder in den Dörnröschenschlaf verfallen ist sicher auch keine echte Demokratie. Aber vielleicht muss man Demokratie lernen.Wenn Bürger mitdenken müssen wird ihr Interesse vielleicht wieder geweckt.Jedenfalls besser als Entscheidungen von einem " Nous XY,par la grâce de Dieu" über sich ergehen zu lassen.Diese Zeiten sind längst vorbei und auch danach gab es einen langen Lernprozess in Sachen Demokratie. Platon forderte dass nur Philosophen regieren sollten.Wieso er das wohl dachte?

Blanchet
2. Oktober 2020 - 17.53

Die Schweiz ist KEIN Vorbild in Demokratie, noch nie gewesen. Wer das behauptet, war lange krank im Geschichtsunterricht.

Jeannie
2. Oktober 2020 - 17.52

"Die Schweiz ist das Musterland der direkten Demokratie. " LOL, ja, die haben uns Frauen das Wahlrecht bis in die 70er verweigert, in einigen Kantonen bis in die 90er, diese 'Demokraten'.