LuxemburgWie ein Behörden-Formular einen Deutschen zwei Jahre früher in den Vorruhestand schickt

Luxemburg / Wie ein Behörden-Formular einen Deutschen zwei Jahre früher in den Vorruhestand schickt
Früher in Rente – wegen eines neuen Formulars? Foto: picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand/dpa

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Hat die Einführung eines neuen europäischen Formulars dazu geführt, dass Nicht-Luxemburger hierzulande zwei Jahre früher in den Vorruhestand gehen dürfen als Luxemburger? Diese Frage wurde von einem Leser an das Tageblatt herangetragen – aufgrund eigener Erfahrungen. Die Antwort der Luxemburger Rentenkasse könnte für Aufregung sorgen. 

„Es ist doch wirklich eine Ungerechtigkeit“, sagt Michael*. Der Deutsche hat sich beim Tageblatt gemeldet. Michael wohnt in Deutschland, arbeitet aber seit 30 Jahren bei einem Finanzinstitut in Luxemburg. Weil bei seinem Arbeitgeber Stellen abgebaut werden müssen und ein Sozialplan vereinbart wurde, musste er sich über die Regeln zum Vorruhestand informieren. Das Ergebnis seiner Recherche: überraschend. Denn die Luxemburger Rentenkasse CNAP will ihn zwei Jahre früher in Rente schicken, als er erwartet hat. Der Grund: Er hat seine berufliche Ausbildung in Deutschland gemacht – und diese Zeit wird bei einem vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand in Luxemburg offenbar als Pflichtbeitrag bei der Rentenversicherung angerechnet – seit einem Jahr. 


Zwei Jahre früher in den Vorruhestand?

„Es war sehr skurril“, sagt Michael. Nachdem er seine eigene Berechnung angestellt hatte, war er überzeugt, im Jahre 2026 in Rente gehen zu können. Doch laut der offiziellen Antwort der CNAP („Caisse nationale d’assurance pension“) soll er bereits zu Beginn 2024 in den vorgezogenen Ruhestand gehen. Mehr als zwei Jahre früher, als er erwartet hat – und anders, als es die derzeitige Gesetzeslage vorsehen würde.

Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die sich wohl über ein früheres Rentenalter freuen, ist Michael in einer besonderen Situation. Er wird durch seinen früheren Renteneintritt nämlich viel Geld verlieren. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, dass er weniger lang einzahlt. Vor allem fällt ins Gewicht, dass die Abfindung, die er im Rahmen des Sozialplans bekommt, im Falle eines Renteneintritts versteuert werden muss. Würde er weiter einer Tätigkeit nachgehen können, wäre die Abfindung steuerfrei, wie auf guichet.lu nachzulesen ist. „Und dabei würde ich eigentlich noch gerne weiterarbeiten“, sagt er.

Es geht Michael aber nicht nur ums Geld, sondern auch um Gerechtigkeit. Für einige seiner deutschen Kollegen hat bis vor kurzem offenbar noch eine andere Regelung gegolten. „Für die, die 2021 angefragt haben, gilt ein Renteneintrittsalter von 60 Jahren“, sagt er. „Für die von 2022 jedoch eines von 57 – dabei hat sich am Gesetz nichts geändert.“ Für Luxemburger Kollegen gilt die Regelung auch nicht. Denn Dreh- und Angelpunkt von Michaels Problem ist das „P5000-Formular“. „Wenn ich nicht Deutscher wäre, sondern Luxemburger, dann gäbe es das Formular P5000 nicht, und ich müsste oder könnte bis 60 arbeiten“, sagt er. Müssen Luxemburger Akademiker wegen eines Formulars länger auf den (Vor-)Ruhestand warten als ihre Kollegen aus dem benachbarten Ausland? „Das kann doch alles gar nicht sein“, sagt Michael.


Verändert ein Formular die Regeln?

Michael fragte bei der CNAP nach. „Ich wollte Sicherheit bezüglich des Renteneintritts haben und die Berechnung verstehen“, sagt er. Er bekam eine Antwort, aber keine schriftliche. „Ich erhielt einen Rückruf per Telefon“, sagt er. „Man erklärte mir, dass ich 2021 noch recht gehabt hätte.“ Seit 2022 sei die Lage aber anders. „Seitdem werde das P5000-Formular genutzt – und anders gehandelt.“  Der Sachbearbeiter erklärte ihm weiter, dass der Informationsgehalt in diesem Formular nicht so detailliert sei wie sonst. Deshalb würde die Verwaltung alle Studienjahre wie Pflichtjahre behandeln. Hieraus ergäbe sich dann ein früherer Rentenbeginn, soll der Sachbearbeiter gesagt haben. Die Verwaltung sei gehalten, die zugelieferten Daten so zu übernehmen und könne diese nicht verändern. Daher müsse die CNAP die gewählte Vorgehensweise beibehalten.

Gegenüber dem Tageblatt bestätigt ein Sprecher der CNAP, dass das besagte Formular tatsächlich seit Anfang 2022 angewandt wird: „Die CNAP arbeitet seit dem 1. Trimester 2022 mit dem EU-Formular P5000, um von dem im (erweiterten) EU-Ausland entstandenen Versicherungsverlauf in Kenntnis gesetzt zu werden und die ausländischen Versicherungszeiten gegebenenfalls im luxemburgischen Versicherungsverlauf anzurechnen.“

Das P5000-Formular dient also dem Austausch von Rentenversicherungsdaten in der EU. Es ist ein „institutionelles Formular“, erklärt der CNAP-Sprecher. Es werde von den europäischen Rentenkassen genutzt, um Informationen über die Versicherungszeit von Arbeitnehmern auszutauschen, die in unterschiedlichen Ländern Ansprüche erwirtschaftet haben. Arbeitnehmer oder Arbeitgeber haben mit dem Datentransfer nichts zu tun. Der passiert über das Formular und elektronisch. In den Daten seien die „im jeweiligen Mitgliedstaat anzuerkennenden Versicherungszeiten kodifiziert, damit Überschneidungen mit in anderen Ländern entstandenen Versicherungszeiten geregelt werden können“, sagt der Sprecher. „Die jeweiligen Versicherungszeiten sind also detaillierter aufgeschlüsselt als es im Vorgänger-Formular E205 der Fall war.“

Die Anrechnung dieser Versicherungszeiten habe dabei einen Einfluss auf den möglichen Beginn einer luxemburgischen Leistung – und gegebenenfalls auf deren Höhe. Mit dem gleichen Formular übermittele die Luxemburger Kasse gegebenenfalls auch die in Luxemburg realisierten Versicherungszeiten an die Rentenkassen anderer EU-Staaten.  

Aber wie werden in diesem Prozess aus Studienzeiten Pflichtversicherungszeiten? „Die CNAP übernimmt die im P5000-Formular angegebenen Versicherungszeiten und vergleicht sie mit den luxemburgischen Versicherungszeiten“, erklärt der CNAP-Sprecher. „Bei dieser Operation wird nur analysiert, ob es zwischen den luxemburgischen und ausländischen (EU) Versicherungszeiten Überschneidungen gibt.“ Diese würden, gegebenenfalls und wie in den EU-Regelungen festgelegt, angerechnet. „Die von ausländischen Versicherungsträgern bestätigten oder als Pflichtversicherungszeiten ausgewiesenen Versicherungszeiten werden jedoch von der CNAP nicht neu qualifiziert.“ Grund sei, dass die ausländischen Versicherungsträger für die Qualifizierung dieser Versicherungszeiten unter ihrer eigenen Gesetzgebung zuständig seien. 

„Durch die beschriebene Prozedur kann es vorkommen, dass Versicherungszeiten, die im EU-Ausland als Pflichtversicherungszeiten qualifiziert werden, auch in Luxemburg als Pflichtversicherungszeiten angerechnet werden – obwohl solche Zeiten rein national in Luxemburg nicht als Pflichtversicherungszeiten qualifiziert worden wären“, erklärt der Sprecher. „Da jeder Mitgliedstaat für seine Sozialversicherungsgesetzgebung zuständig ist und die EU-Regulierungen nur eine Koordination vorsehen, könnte eine solche Situation tatsächlich entstehen und die CNAP muss dann die ausländischen Pflichtversicherungszeiten als solche anerkennen. Eine frühere Berentung wäre denkbar und möglich.“


Studienzeit als Pflichtversicherungszeit?

Früher in Rente – wegen eines neuen Formulars? Das mag einige (deutsche) Arbeitnehmer freuen. Laut CNAP besteht der Anspruch auf vorzeitige Alterspension eigentlich entweder ab dem vollendeten 57. Lebensjahr, wenn der Versicherte 40 Jahre in der Pflichtversicherung nachweisen kann. Oder aber dem 60. Lebensjahr, wenn er für 40 Jahre eine Kombination aus mindestens 10 Jahren Pflichtversicherung sowie Weiterversicherung, fakultativer Weiterversicherung, Nachkauf von Versicherungszeiten – und Ergänzungszeiten nachweisen kann.

Der Begriff, um den es geht, sind die „Ergänzungszeiten“. Das ist „Wartezeit“, die Arbeitnehmer auf ihr Konto anrechnen lassen können, in denen aber keine Beiträge in die Rentenkasse bezahlt wurden. Es können Erziehungszeiten sein oder aber, wie in Michaels Fall, Studium und Ausbildung. Laut CNAP zählen „anerkannte unbezahlte Schul- oder Berufsausbildungsjahre zwischen dem 18. und dem 27. Lebensjahr“ zu den Ergänzungszeiten. Für die EU-Kommission, die die Regelungen über die Rentensysteme in Europa erfasst, stellen sie „einen geringfügigeren Wert bei der Berechnung“ der Rente dar. Und in Luxemburg entfalten diese „Ergänzungszeiten“ wohl auch deshalb ihre Wirkung frühestens ab dem 60. Lebensjahr des Arbeitnehmers – eigentlich. 

Denn mit dem neuen Formular werden Studienzeiten bei ausländischen Arbeitnehmern, die im Ausland studiert haben, offenbar eben nicht mehr als „Ergänzungszeit“ berechnet – sondern als PflichtversicherungszeitIm Grenzgänger- und Einwanderungsland Luxemburg könnte das in Zukunft noch mehr Menschen betreffen. 

„Ich habe mich gewundert“, sagt Michael. „Dabei hat die CNAP alle Dokumente.“ Alle Schreiben, zur Schulzeit, zu Banklehre und Bundeswehr habe die Pensionskasse bei ihm angefragt – und zugesandt bekommen. Bei seinen weiteren Nachforschungen zum Thema des „früheren“ Renteneintritts für studierte nicht-luxemburgische Arbeitnehmer seien ihm ähnliche Fälle begegnet, erklärt er. „Es gibt immer mehr Fälle, auch in anderen Branchen. Ich bin kein Einzelfall.“

Der unfreiwillige Rentner ist verunsichert. Er ist überzeugt, dass die Mitteilung, die er von der Behörde bekommen hat, nicht mit dem geltenden Recht übereinstimmt. Die Mitteilung selbst sei nicht rechtsbindend. „Ich weiß daher nicht, was mich erwartet: Muss ich jetzt 2024 in Rente? Oder doch 2026?“ 

*) Name von der Redaktion geändert

Belastung für Rentensystem und Staatsfinanzen?

Zusätzlich zur Ungerechtigkeit sei die Regelung auch eine zusätzliche Belastung für das Luxemburger Rentensystem, wundert er sich. „Wie kann es sein, dass der Staat eine derartige Zusatzbelastung des luxemburgischen Rentensystems durch die Einführung eines neuen EU-Formulars zulässt?“ Als Mitarbeiter in der Finanzindustrie seien ihm die einschlägigen Wirtschaftsprognosen bekannt.

Laut den Erwartungen der „Inspection générale de la sécurité sociale“ von Ende April 2022 würden die monatlich bezahlten Rentenbeiträge bereits ab 2027 nicht mehr ausreichen, um die Auszahlung der Renten zu finanzieren. Es müsste dann damit begonnen werden, die in den vergangenen Jahren aufgebaute Rentenreserve anzuzapfen. Bei gleichbleibender Politik wäre die derzeit gut gefüllte Reserve dann jedoch schnell komplett aufgebraucht – nämlich bis 2047. 

Eine ähnliche Prognose hat auch die Luxemburger Zentralbank im vergangenen Jahr vorgestellt. „Unseren Berechnungen zufolge würde das allgemeine Rentensystem bis 2024 in der Gewinnzone bleiben, das heißt die Einnahmen würden die Ausgaben übersteigen“, ermittelte die Zentralbank. „Die Reserve wird aus diesem Überschuss sowie aus den Zinsen, die die Reserve erwirtschaftet, gespeist. Ab 2024 würde das System defizitär werden.“ Mit kleinen Einschnitten wäre es noch möglich, das Defizit zwischen 2024 und 2033 mithilfe der aus der Reserve erwirtschafteten Zinsen auszugleichen, so die BCL. Ab 2034 würde das Defizit jedoch die Zinseinnahmen übersteigen und die Reserve würde dann zu schrumpfen beginnen. Bei unveränderter Politik würde die Reserve bis 2048 auf null sinken. (CM)

multi700
17. Februar 2023 - 8.22

Das war 2012 bei mir schon so. Dadurch daß Luxemburg das deutsche Studium als Ausfallszeit anerkannt hat, hätte ich mit 57 in Rente gehen können.

Bruna
15. Februar 2023 - 17.42

War er vielleicht bei einer UNO Mission im Kosovo? Die Jahre zählen doppelt.

repthill
15. Februar 2023 - 12.52

Zitat: "Der unfreiwillige Rentner ist verunsichert." Laut CNAP kann er den Vorruhestand beantragen, er muss jedoch nicht in den Vorruhestand, also kann keine Rede von unfreiwillig sein.

nicole.braun
15. Februar 2023 - 11.03

Nicht staunen, nur wundern....

JJ
15. Februar 2023 - 9.51

Diese Hände haben den Ruhestand verdient.Das sind sicher keine Politikerhände