Die RAF und der Deutsche Herbst (Teil 2)Vom linken zum rechten Terror

Die RAF und der Deutsche Herbst (Teil 2) / Vom linken zum rechten Terror
Die frühere RAF-Terroristin Daniela Klette bei ihrer Überführung zum Haftprüfungstermin beim Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe Foto: dpa/Uli Deck

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Während es im ersten Teil der Erinnerungen des Autors an den Deutschen Herbst unter anderem um das politische Klima in der Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren und die repressive Reaktion der Staatsgewalt ging, stehen im zweiten Teil das Schweigen der Täter und das Leiden der Opferangehörigen im Vordergrund. Und der Vergleich mit dem Rechtsextremismus der vergangenen Jahrzehnte.

Gesucht: Ein Fahndungsplakat des LKA Niedersachsen zeigt den mutmaßlichen früheren RAF-Terroristen Ernst-Volker Staub
Gesucht: Ein Fahndungsplakat des LKA Niedersachsen zeigt den mutmaßlichen früheren RAF-Terroristen Ernst-Volker Staub Foto: dpa/Caroline Bock

„Aktenzeichen XY … ungelöst“ Mittwoch, 27. März 2014: Moderator Rudi Cerne meldet gleich zu Beginn der Sendung den wohl größten Fahndungserfolg der deutschen Polizei in der jüngeren Zeit. Daniela Klette, die ehemalige Terroristin, war am 26. Februar gefasst worden. Bereits in der vorausgegangenen XY-Ausgabe hatte man nach der heute 65-jährige Frau und ihren beiden Komplizen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg gefahndet.

Die drei Gesuchten gelten als frühere Mitglieder der linksextremistischen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF), die laut Angaben der deutschen Bundesanwaltschaft in den Jahren ihres Bestehens 34 Menschen ermordete und sich 1998 aufgelöst hatte. Sie werden verdächtigt, unter anderem einen Anschlag auf die Deutsche Bank in Eschborn 1990 und ein Jahr später auf die US-Botschaft in Bad Godesberg begangen zu haben.  Außerdem wurden von Klette und ihren Mitstreitern Staub und Garweg DNA-Spuren beim Sprengstoffanschlag auf die damals im Bau befindliche Jugendvollzugsanstalt (JVA) im hessischen Weiterstadt gefunden. Nachdem das Trio abgetaucht war, soll es von 1999 bis 2016 sechs Überfälle auf Geldtransporte und Supermärkte in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen verübt und dabei mehr als zwei Millionen Euro erbeutet haben.

Mathe-Nachilfe und Capoeira

Zielfahnder des Landeskriminalamtes (LKA) Niedersachsen fanden Klette und nahmen sie mithilfe der Berliner Polizei in ihrer Wohnung in einem siebenstöckigen Mietshaus in Berlin Kreuzberg fest. Unter anderem entdeckte man in der Sozialwohnung, wo sie rund zwei Jahrzehnte lang unter dem Namen Claudia Ivone gewohnt haben soll, nach Medienberichten neben Bargeld und Gold sowie gefälschten Papieren einige Waffen und Munition. Die unscheinbar wirkende Frau hatte, um Geld zu verdienen, Nachhilfeunterricht in Mathematik gegeben. In ihrer Freizeit praktizierte sie Capoeira. Ihre beiden Mitstreiter Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub sind noch auf der Flucht.

Noch auf der Flucht: Das aktuelle Foto zeigt nach Angaben des Landeskriminalamtes Niedersachsen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Burkhard Garweg
Noch auf der Flucht: Das aktuelle Foto zeigt nach Angaben des Landeskriminalamtes Niedersachsen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Burkhard Garweg Foto: LKA Niedersachsen

Dabei war Daniela Klette eine der meistgesuchten Personen Deutschland. Seit mehr als 30 Jahren war ihr die Polizei auf der Spur: Sie gehörte zur dritten und damit letzten Generation der RAF, die unter anderem für die Morde an den Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Alfred Herrhausen (1989) und Treuhand-Präsident Detlev Rohwedder (1991) verantwortlich war. Bei ihrer Festnahme ergab sich Klette, ohne Widerstand zu leisten. Sie kam in Untersuchungshaft in die Frauen-JVA ins niedersächsische Vechta. Am 7. März wurde sie mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe gebracht und dem Bundesgerichtshof überstellt – in ihre Geburtsstadt.

Wie viele RAF-Terroristen kam Daniele Klette aus bürgerlichen Verhältnissen. Die Tochter einer Zahnärztin und eines Handelsvertreters wuchs zusammen mit zwei Geschwistern in der Karlsruher Innenstadt auf und besuchte das nicht weit entfernte Fichte-Gymnasium, das damals noch ein Mädchengymnasium war. Klette soll sich früh politisch engagiert haben, wie die Badischen Neuesten Nachrichten kürzlich schrieben. Seit 1975 war sie demnach in verschiedenen linken Gruppen aktiv. Später soll sie sich in Frankfurt gegen die Startbahn West engagiert haben.

Als ich um 1990 in linken, autonomen Kreisen um ein besetztes Haus in der Karlsruher Stephanienstraße verkehrte, war Klette bereits in den Untergrund gegangen. In dem Kultur- und Wohnprojekt, bekannt geworden als „Steffi“, nach einem Umzug in die Nähe des Karlsruher Bahnhofs als „Ex-Steffi“, gab es zahlreiche Konzerte und Antifa-Aktionen sowie Kampagnen zum Erhalt linker Freiräume. Die RAF hatte jedoch bereits zu jener Zeit keinerlei Anziehungskraft mehr für links engagierte junge Leute. Von einem „Sympathisantensumpf“, wie es die staatlichen Behörden und die Boulevardmedien noch über die 70er-Jahre hinaus nannten, konnte demnach nicht mehr gesprochen werden, höchsten von Unterstützern „politischer Gefangener“ der linken Szene.

Morbide Faszination

Zwar übt die RAF noch mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung und ein Vierteljahrhundert nach ihrer Selbstauflösung eine gewisse morbide Faszination aus. Doch mittlerweile haben Autoren wie etwa Petra Terhoeven, Professorin für Europäische Kultur und Zeitgeschichte der Universität Göttingen und Autorin von Büchern wie „Die Rote Armee Fraktion“ und „Deutscher Herbst in Europa: Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen“ den Mythos um die Terrororganisation auf sachlich-wissenschaftliche Weise zerpflückt. Die Bedrohung der Bundesrepublik durch die kaum viel mehr als 50 und höchstens 80 zählenden Mitglieder der „terroristischen Sekte“ sei im Nachhinein betrachtet überschaubar gewesen. Vielmehr diente die RAF der konservativen Opposition gegen die sozialliberale Regierung, um zurück an die Macht zu kommen.

Symbol der RAF
Symbol der RAF Foto: dpa/Tim Brakemeier

Die Entstehung muss zum einen als Teil der „Nachgeschichte des Nationalsozialismus“ gesehen werden, so Terhoeven, weil die RAF im „Bodensatz deutscher Erinnerungen“ wühlte, so der Publizist und Historiker Gerd Koenen. Aufschluss darüber gibt unter anderem der um 1970 entstandene und unvollendete Romanessay „Die Reise“ von Bernward Vesper, der sich mit seinem Vater, dem Nazi-Dichter Will Vesper, und seiner früheren Lebensgefährtin Gudrun Ensslin, einer der Protagonistinnen der ersten RAF-Generation, auseinandersetzt.

Die Terrororganisation ist jedoch vor allem auch aus der internationalen 68er-Bewegung heraus und als „Teil der Geschichte des modernen Terrorismus“ entstanden, erklärt Terhoeven. Als Sympathieträger galten die RAF-Terroristen schon aufgrund ihrer Haltung als revolutionäre Elite und des schwer zugänglichen Sprachduktus ihrer Äußerungen und ihres ideologischen Dogmatismus lange nicht mehr. Sie waren kompromissloser als die „Bewegung 2. Juni“ um die früheren „Haschrebellen“ und Tupamaros West-Berlin um Michael „Bommi“ Baumann, Dieter Kunzelmann und Georg von Rauch und straffer organisiert im Vergleich zu den als Feierabendterroristen belächelten RZ. Der bewaffnete Kampf der RAF war unerbittlich.

Geschichte des Scheiterns

„Die Geschichte der RAF ist die Geschichte ihres Scheiterns“, betont der Politologe und Extremismusforscher Eckhard Jesse. Das Scheitern bedeute zweierlei: „Die RAF war politisch schon nach kurzer Zeit gescheitert, stellte sich doch schnell ihre Isolation heraus, moralisch von Anfang an.“ Die Taten seien selbst im linksextremistischen Milieu kaum mehr „vermittelbar“ gewesen. Durch die Konzentration der zweiten Generation auf die Gefangenenbefreiung sei der Eindruck entstanden, als kreise alles nur um die RAF. Das Sympathisantenumfeld wurde immer schwächer. Zudem war der Zusammenbruch des kommunistischen Weltsystems ein schwerer Schlag für die Terroristen, von denen einige in der DDR unter falscher Identität Aufnahme gefunden hatten.

Kaum jemand, der nicht Opfer dieser stummen Gewalt geworden ist, kann verstehen, was das heißt: allein zu sein mit dieser Stille, in der Fragen verhallen ohne Echo. Allein zu sein mit dem Zorn, der keinen Adressaten kennt.

Carolin Emcke, Autorin und Publizistin, über den Mord an ihren Patenonkel Alfred Herrhausen

Trotz der Auflösung der RAF 1998 sind ihre Verbrechen für viele auch heute noch eine offene Wunde. Das kollektive Bekenntnis der Terroristen zu den Morden genügt nicht dem Wunsch der Angehörigen, die unmittelbaren Täter und den genauen Hergang einer Tat zu kennen. Vielmehr hat die Selbststilisierung der RAF-Mitglieder zu Märtyrern lange Zeit das Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen überdeckt. So ist bis heute nicht geklärt, wer die tödlichen Schüsse auf Siegfried Buback und seine Begleiter abgab oder wer auf Alfred Herrhausen und Detlev Karsten Rohwedder.

Tatort der Ermordung von Buback und seinen Begleitern in Karlsruhe (April 1977)
Tatort der Ermordung von Buback und seinen Begleitern in Karlsruhe (April 1977) Foto: Stadtarchiv Karlsruhe

„Die Angehörigen der Opfer leiden (…) weiterhin an den Verbrechen der RAF und den ungeklärten Fragen, die mit ihnen verbunden sind“, schreibt Sabrina Müller, eine der beiden Kuratoren der Ausstellung „RAF – Terror im Südwesten“, die vor gut zehn Jahren im Haus der Geschichte Baden-Württemberg zu sehen war, im Ausstellungskatalog. Sie zitiert dabei die deutsche Autorin und Publizistin Carolin Emcke, die 18 Jahre nach dem Mord an ihrem Patenonkel und guten Freund Alfred Herrhausen schrieb: „Das ist das Gewalttätigste an der Gewalt des Terrors: die Sprachlosigkeit, in der die Angehörigen der Opfer zurückgelassen werden.“

Das kollektive Bekenntnis der Täter zu ihren Taten reicht den Nachkommen der Opfer nicht aus. Ein eindrucksvolles Zeugnis davon ist das Buch „Der zweite Tod meines Vaters“ von Michael Buback, das 2008 erstmals erschien. Siegfried Bubacks Sohn, Nebenkläger im Prozess gegen die Ex-Terroristin Verena Becker, schreibt darin auch über seinen Verdacht, dass deutsche Geheimdienste an der Ermordung seines Vaters beteiligt gewesen sein könnten oder zumindest im Vorfeld darüber informiert waren. Dies wurde eine Zeit lang als Verschwörungstheorie bezeichnet. Der Politologe und RAF-Experte Wolfgang Kraushaar, Autor des Buches „Die blinden Flecken der RAF“ (2017), hält den Verdacht jedoch durchaus für eine begründete Vermutung. Demnach stellte sich die Frage, ob Verena Becker schon vor 1977 für den deutschen Verfassungsschutz gearbeitet habe, um ihre RAF-Komplizen auszuspionieren.

Emcke empfindet das Schweigen über die Hintergründe der Morde als weiteren Akt der Gewalt: „Kaum jemand, der nicht Opfer dieser stummen Gewalt geworden ist, kann verstehen, was das heißt: allein zu sein mit dieser Stille, in der Fragen verhallen ohne Echo. Allein zu sein mit dem Zorn, der keinen Adressaten kennt.“ Auch Daniela Klette hat die Aussage bislang verweigert. Während ihr Strafverteidiger kritisiert, dass seine Mandantin isoliert und fast durchgehend videoüberwacht ist, schweigt sie beharrlich.

Das Schweigen der Täter

Zwar endeten 26 Prozesse gegen führende Angehörige der RAF mit lebenslangen Haftstrafen, aber die Täterzeugen hielten dicht. „Die RAF ist nicht Geschichte“, schreibt Sabrina Müller, „weil ihre Taten nicht hinreichend aufgeklärt sind.“ An der Stelle in Karlsruhe, an der Siegfried Buback, Wolfgang Göbel und Georg Wurster am 7. April 1977 ermordet wurden, befindet sich ein Gedenkstein. Ich bin unzählige Male dort vorbeigefahren.

Tatort der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Ermordung seiner Begleiter im September 1977
Tatort der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Ermordung seiner Begleiter im September 1977 Foto: Ullstein

Die Erinnerung an den Deutschen Herbst, der im Frühling begann, ist nach wie vor wach. Doch droht sie nicht, die größere Gefahr des Rechtsextremismus zu verharmlosen? Nicht nur ist die rechte Gewalt gegen Menschen aufgrund ihres Aussehens, ihrer Herkunft und Kultur, ihrer Sexualität oder Religion bittere Alltagsrealität. Rassistische Anschläge wie in Hanau (2020) oder anderswo, aber auch die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) um Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die in elf Jahren unentdeckt zehn Menschen ermordeten, Sprengstoffanschläge verübten und Raubüberfälle begingen, sind nur die Spitzen eines Eisbergs aus Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus und Queerfeindlichkeit sowie rechter Strukturen und nicht zuletzt eines bedrohlichen Aufstiegs der rechtsextremen AfD.

Welle der rechten Gewalt

Rechte Gewalt in Europa hat eine lange Geschichte. Der Hashtag #saytheirnames gibt deren Opfer in Deutschland ein Gesicht oder einen Namen zurück. Die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene und im Mai 2022 veröffentlichte Studie „Rassistische Realitäten“ verdeutlicht diese Gefahr. Seit 1990 starben in Deutschland mindestens 219 Menschen an den Folgen rassistischer Gewalt, die Dunkelziffer dürfte viel größer sein. Erst seit 1990 registriert das Bundeskriminalamt (BKS) rechtsextreme Tatmotive bei Tötungsdelikten als Hasskriminalität gegen bestimmte Personengruppen. Es zählt allerdings nur 109 Todesopfer. Zudem wird oft von isolierten, individuellen Fällen gesprochen. Dabei besteht eine Kontinuität und gibt es eine Verharmlosung.

Sind Justiz und Polizei auf dem rechten Auge blind? Im Juni 2011 erklärte der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich: „Eine akute Gefahr rechtsextremistischer Terroranschläge in Deutschland besteht nicht.“ Fünf Monate später kam die bis zu diesem Zeitpunkt längste rechtsextremistische Terrorserie der Bundesrepublik ans Licht.

Während jedes linke autonome Jugendzentrum unter Beobachtung geriet, wurden im Umgang mit Rechtsextremismus lange keine Konsequenzen gezogen. Dabei ist das rechtsextremistische Personenpotenzial in Deutschland allein in den Jahren 2021 bis 2022 von 33.900 auf 38.800 (also um 4.900) Personen angestiegen, das der gewaltorientierten Rechten beläuft sich auf etwa 14.000 – deutlich höher als das der Linken.

Unter anderem sind militante Neonazigruppen wie die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ oder die „Kameradschaft Süd“, „Combat 18“, „Oldschool Society“ oder die „Gruppe Freital“ zu nennen, aber auch gut vernetzte Einzeltäter, sogenannte Einsame Wölfe. Auch hierbei sind die Motive nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft zu finden. „Staatliche Behörden haben Rechtsextremen gewissermaßen eine Art Karenzzeit gegeben. Denken Sie an die NSU-Morde“, erinnert Carolin Görzig, Leiterin der Forschungsgruppe „Wie Terroristen lernen“ aus Halle. Während der religiöse, vor allem islamistische Terrorismus in den 2020er-Jahren langsam abzuflauen scheint, erkennt Görzig eine neue Welle von Attentaten – von rechts.

Am Tatort: Gedenkstein für den am 7. April 1977 ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine ebenfalls getöteten Begleiter
Am Tatort: Gedenkstein für den am 7. April 1977 ermordeten Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine ebenfalls getöteten Begleiter Foto: Stefan Kunzmann