GroßbritannienViele Unterhaus-Abgeordnete streben zum Ausgang

Großbritannien / Viele Unterhaus-Abgeordnete streben zum Ausgang
Caroline Lucas im EU-Parlament in Straßburg im März 2012: Die prominente britische Grünenpolitikerin will sich mehr dem Klima- und Umweltschutz widmen Foto: European Union 2009 - EP

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Ein Jahr vor der nächsten Unterhauswahl im Vereinigten Königreich bereiten viele Abgeordnete ihren Rückzug aus dem Parlament vor.

Die Mehrheit gehört der konservativen Regierungspartei von Premier Rishi Sunak an, was angesichts der Umfragen wenig verwunderlich ist. Denn nach mehr als 13 Jahren Tory-Regierung steuert die Labour-Opposition auf einen Erdrutschsieg zu. Überraschend hat jetzt auch die langjährige Galionsfigur und einzige Mandatsträgerin der Grünen angekündigt, sie wolle sich nicht mehr um ihr Mandat bewerben. Sie brauche, findet Caroline Lucas, „mehr Zeit für den Kampf gegen die Natur- und Klimakrise“.

Seit ihrer ersten Wahl 2010 hat sich die Vertreterin für die südenglische Universitätsstadt Brighton, die zuvor die Grünen schon elf Jahre lang im EU-Parlament vertreten hatte, einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Im Unterhaus gibt es nur wenige Abgeordnete, denen genau zugehört wird, egal bei welchem Thema. Der Premierminister gehört dazu, das bringt das Amt mit sich. Auch Sunaks Vorgängerin Theresa May genießt als „elder stateswoman“ stets ungeteilte Aufmerksamkeit.

Auf den Oppositionsbänken kann kaum eine Caroline Lucas das Wasser reichen. Wenn die 62-Jährige ihre Stimme erhebt – ob zur globalen Klimapolitik, zum Völkermord an den Uiguren durch die kommunistische Diktatur China oder zum sozialen Wohnungsbau in ihrem Wahlkreis –, senkt sich Stille über den Plenarsaal. Dabei wendet die einzige Grüne unter 650 Abgeordneten gar keine besonderen rhetorischen Tricks an. Doch verfüge sie über unaufdringliche Überredungskunst, hat die erfahrene Medienberaterin Scarlett McGwire beobachtet: „Sie klingt immer vernünftig, wenn sie ihre Anliegen vorträgt.“

Das bei weitem bekannteste Gesicht der grünen Partei auf der Insel entstammt eher der Friedens- als der Ökobewegung. Während ihrer Studienzeit an der Uni Exeter und der Arbeit an einer Promotion über Renaissance-Literatur verbrachte Lucas in den 1980er Jahren viel Zeit im Protestcamp Greenham Common gegen die Stationierung von US-Atomwaffen. In der grünen Partei machte sie als Vertreterin der Fundi-Tradition Karriere: „Ich halte nichts von Machtbeteiligung, solange wir nicht erheblich stärker sind. Sonst werden wir für Entscheidungen mitverantwortlich gemacht, die wir nicht beeinflussen können.”

Zuwächse bei den Kommunalwahlen

In Brighton waren die Grünen auf lokaler Ebene nicht nur an der Macht beteiligt, sie übten sie sogar aus, wenn auch nicht immer glücklich. Die krachende Niederlage der Ökopartei bei der jüngsten Kommunalwahl wird Lucas nicht gerade darin bestärkt haben, ihr Mandat zu verteidigen. Dementsprechend bringt ihr Rückzug die Ökopartei in arge Bedrängnis. Im britischen Mehrheitswahlrecht wiegt der Amtsbonus schwer für all jene Abgeordnete, die sich wie Lucas Beliebtheit auch über Parteigrenzen hinaus erfreuen.

Unverdrossen weisen die Grünen auf erfreuliche Zuwächse bei den Kommunalwahlen hin, nicht nur in einer Universitätsstadt wie Bristol, sondern auch in ländlichen Gegenden wie in der ostenglischen Grafschaft Suffolk. Dass solche örtlichen Ergebnisse sich auf eine nationale Wahl übertragen lassen, glauben freilich nur Optimisten.

Auf der Liste derjenigen, die dem Unterhaus in der kommenden Legislaturperiode nicht mehr angehören werden, trägt Lucas die Nummer 55. Zur Prominenz der Amtsmüden zählen Ex-Minister wie Dominic Raab (Außenamt, Justiz) ebenso wie Sajid Javid (Finanzen, Inneres, Gesundheit), aber auch Veteraninnen der Arbeiterpartei wie die einflußreiche Hinterbänklerin Margaret Hodge (78) oder die Ex-Vizeparteichefin Harriet Harman.

Sunak will peinliche Schlappen vermeiden

Hingegen scheint Premier Sunak in der noch laufenden Legislaturperiode vorhersehbare peinliche Schlappen für seine Partei vermeiden zu wollen. Deshalb strich er die überlange Liste von Ordens- und Titelverleihungen, mit denen Ex-Premier Boris Johnson seine Getreuen belohnen wollte, gründlich zusammen. Zu den geplanten „Rücktritts-Ehrungen“, wie es im Jargon heißt, zählte nicht nur der Ritterschlag für Johnsons Vater Stanley. Vor allem wollte der blonde Großverdiener vier amtierende Abgeordnete zu Lords im Oberhaus machen. Dafür hätte das Quartett seine Mandate niederlegen müssen, was automatisch Nachwahlen zur Folge gehabt hätte.

Stattdessen müssen sich die Johnson-Getreuen nun mindestens bis zum kommenden Jahr gedulden, ehe sie zur Überfüllung der ungewählten, aber für das Funktionieren des Parlaments bedeutenden oberen Kammer beitragen können. Ex-Kulturministerin Nadine Dorries wollte die Zurückweisung nicht auf sich sitzen lassen. Am Freitagabend legte sie „mit sofortiger Wirkung“ ihr Mandat nieder, nachdem sie noch vormittags beteuert hatte, sie wolle eine Nachwahl vermeiden.

Die parlamentarische Zukunft des blonden Großverdieners selbst bleibt in der Schwebe: Erst zu Monatsende will der zuständige Ausschuss sein Verdikt zur Frage veröffentlichen, ob Johnson wissentlich das Parlament belogen hat.