GroßbritannienNicht nur beim Bahnverkehr und im Gesundheitssektor drohen dramatische Arbeitskämpfe

Großbritannien / Nicht nur beim Bahnverkehr und im Gesundheitssektor drohen dramatische Arbeitskämpfe
Züge der Piccadilly-Linie stehen in ihrem Depot, während Mitglieder der Gewerkschaft Rail, Maritime and Transport (RMT) im Streit um Löhne, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen mit neuen landesweiten Streiks drohen. Zugreisende in Großbritannien müssen sich über die Feiertage wohl auf Ausfälle und Verzögerungen einstellen.  Foto: Frank Augstein/AP/dpa

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Bei solch einem Namen schreiben sich die Schlagzeilen in den konservativen Boulevardzeitungen von selbst. Mike Lynch wird zum Grinch, der den Briten das Weihnachtsfest stehlen will. Der Chef der größten britischen Eisenbahnergewerkschaft RMT kündigte soeben zusätzliche Streiks für die zweite Dezemberhälfte an, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen.

Die RMT will neben den Streiks in der nächsten Woche jetzt auch von Heiligabend an bis einschließlich 27. Dezember in den Ausstand treten und droht damit, die Reisepläne von Millionen Briten zu ruinieren. Mike Lynch machte für die Störungen die Regierung verantwortlich, die den Bahngesellschaften die Hände für eine Einigung binde.

Nicht nur auf den Schienen tobt der Arbeitskampf im Königreich. Auf die Briten rollt eine Streikwelle zu. Bis zum Weihnachtsfest wird kein Tag vergehen, ohne dass nicht irgendwer irgendwo in den Ausstand tritt. Denn auch Krankenschwestern, Rettungswagenfahrer, Feuerwehr, Hochschuldozenten, Briefzusteller, Lehrer, Gepäckabfertiger, Busfahrer und andere mehr wollen ihren Dienst verweigern. Es wird geschätzt, dass durch die Ausstände im Dezember 1,2 Millionen Arbeitstage verloren gehen.

Die RMT steht in einem Disput mit den Arbeitgebern von Network Rail, dem Betreiber des britischen Schienennetzes, und verschiedenen Bahngesellschaften. Mike Lynch verlangt eine Lohnerhöhung, die die Inflationsrate von zur Zeit 11,1 Prozent widerspiegelt. Das letzte Angebot der Arbeitgeber lag bei einer Erhöhung von fünf Prozent in diesem und vier Prozent im nächsten Jahr. Lynch versprach, darüber abstimmen zu lassen, aber rät ausdrücklich gegen eine Annahme. Schon in der nächsten Woche dürften somit mehr als 40.000 RMT-Mitglieder in zwei 48-stündigen Ausständen den Reiseverkehr lahmlegen. Der Schaden für die Volkswirtschaft wird auf 1,7 Milliarden Pfund geschätzt.

Würden sämtliche Gehälter im öffentlichen Dienst in der Höhe der Inflation angehoben, kostet das zusätzliche 18 Milliarden Pfund.

James Forsyth, Publizist

Die Bahnindustrie hat keinen finanziellen Spielraum, um der Gewerkschaft entgegenkommen zu können, da sie die dafür nötigen Gelder von der Regierung erhalten müsste. Die Lockdowns während der Corona-Pandemie hatten schwere Auswirkungen auf den Bahnverkehr, der Staat musste mit Subventionen von rund 16 Milliarden Pfund aushelfen. Man habe ihm seitens der Bahnunternehmen gesagt, enthüllte Lynch, dass das Verkehrsministerium „einen Deal gestoppt“ habe. Der Transportminister Mark Harper hatte zuvor Lohnsteigerungen in Höhe der Inflation als „unbezahlbar“ zurückgewiesen.

Die Regierung will möglichst eine durch Lohnerhöhungen angefachte Inflationsspirale verhindern. Zurzeit liegt die Rate der Lohnsteigerungen im öffentlichen Dienst bei 2,3 Prozent und im privaten Sektor bei 6,8 Prozent. Zugleich fehlt für Großzügigkeit einfach das nötige Geld im Staatssäckel. „Würden sämtliche Gehälter im öffentlichen Dienst“, argumentierte der Publizist James Forsyth in der Times, „in der Höhe der Inflation angehoben, kostet das zusätzliche 18 Milliarden Pfund.“

Erster Arbeitskampf seit über 100 Jahren

Finanzieren ließe sich das nur durch Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben, die allerdings schon jetzt einem Sparprogramm unterliegen, oder durch Steuererhöhungen, zum Beispiel durch eine dreiprozentige Steigerung bei der Einkommenssteuer, was der Regierung der Konservativen jedoch schon deswegen nicht möglich ist, weil sie so etwas im letzten Wahlprogramm kategorisch ausgeschlossen hatten. Daher hält man jetzt mit aller Macht dem Druck der RMT-Gewerkschaft stand, um einen Dammbruch bei weiteren Streiks im öffentlichen Dienst zu verhindern.

Denn bald droht im Streit zwischen Beschäftigten und dem Staat ein dramatischer Höhepunkt. Zum ersten Mal in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte ruft das Royal College of Nurses (RCN) ihre Mitglieder zum Arbeitskampf auf. Am 15. und 20. Dezember werden rund 100.000 Krankenschwestern in den Streik treten. Koordiniert wird das mit einem Ausstand der Rettungswagenfahrer und anderer im staatlichen Gesundheitssystem NHS Beschäftigter. Ein Arbeitskampf im Gesundheitssektor ist natürlich hochsensibel. Man werde die Akutbehandlung aufrechterhalten, versicherte das RCN, aber sicherlich dürfte der Streik direkte Auswirkungen für die Gesundheit von vielen Patienten haben.

Dennoch treffen die Arbeitskampfmaßnahmen der Krankenschwestern auf öffentliche Zustimmung – in Umfragen haben sie einen Rückhalt von 65 Prozent der Befragten. Das RCN verweist auf den Lohnstopp für ihre Mitglieder, der mit dem Antritt der konservativen Regierung 2010 einsetzte, und verlangt eine Anhebung der Gehälter von fünf Punkten über dem Einzelhandelspreisindex, also 19 Prozent. Die Regierung dagegen will nur 4,75 Prozent anbieten.