NordirlandKommunalwahlen als Bewährungsprobe für den Brexit-Kompromiss

Nordirland / Kommunalwahlen als Bewährungsprobe für den Brexit-Kompromiss
Michelle O’Neill will die Regierungsfähigkeit ihrer Partei Sinn Féin beweisen Foto: Niall Carson/PA Wire/dpa

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Man könnte sagen, es seien nur Kommunalwahlen. Doch wenn die Nordiren an die Urnen treten, geht es um mehr. Die britische Provinz sucht nach politischer Stabilität. Noch immer.

Eigentlich geht es um die Müllabfuhr, die lokale Straßenbeleuchtung und das ewige Ärgernis riesiger Schlaglöcher auf den vielen ländlichen Sträßchen der Region. Mehr noch als sonst aber gelten die Kommunalwahlen in Nordirland an diesem Donnerstag als wichtiger Gradmesser für die politische Stimmung im britischen Nordosten der grünen Insel. Welche 462 Frauen und Männer die knapp zwei Millionen Nordiren in die elf Kommunalvertretungen schicken, dürfte weitreichende Auswirkungen auf die Verwaltung der gesamten Provinz haben.

Erst im April hatten die Nordiren den 25. Jahrestag des Friedensabkommens vom Karfreitag 1998 begangen. Dieses machte dem langen Bürgerkrieg zwischen der katholisch-nationalistischen, auf die Republik im Süden hin orientierten Bevölkerung und den königstreuen protestantischen Unionisten ein Ende. Die wichtigste damals geschaffene Institution aber liegt wieder einmal brach: die Allparteien-Regierung in Belfast.

Juniorpartner mit radikalem Nebenbuhler

Dadurch kann der Windsor-Vertrag nicht zum Tragen kommen, auf den sich London und die EU im Februar geeinigt hatten. Er legt die Grundlage für die Beseitigung der schlimmsten Brexit-Folgen, ja macht Nordirland sogar zur „spannendsten Wirtschaftszone der Welt“, wie der britische Premier Rishi Sunak stets beteuert: eine Sonderstellung im EU-Binnenmarkt bei gleichzeitigem Verbleib im Vereinigten Königreich. Doch für die Umsetzung der hochfliegenden Rhetorik bedarf es des Engagements der regional Verantwortlichen.

Genau dies wird seit mehr als einem Jahr von der größten Unionistenpartei DUP verweigert. Erstmals müssten sie als Juniorpartner in die Allparteien-Regierung eintreten, weil bei der Regionalwahl im vergangenen Jahr die republikanische Sinn-Féin-Partei (SF) die Nase vorn hatte. Damit hat die SF-Regionalchefin Michelle O’Neill den Anspruch auf das Amt der Regierungschefin.

Im Kommunalwahlkampf lächelt die 46-Jährige von den Laternenpfählen mit ihrem Motto „bereit zur Arbeit für alle“ – wenn das die Unionisten nur endlich zulassen würden, sollen sich die Nordiren dazudenken. Umfragen zufolge dürfte SF mit diesem subtilen Appell Erfolg haben und Mandate hinzugewinnen. Ob sich dann bei der DUP die Vernunft durchsetzt? Die Rede in Belfast ist von neuen Gesprächen mit London und Dublin, die zur Einsetzung der Regionalregierung im Sommer führen könnten.

Pflichtgemäß hat DUP-Chef Jeffrey Donaldson alle diesbezüglichen Spekulationen weit von sich gewiesen, schließlich richtet sich der DUP-Wahlkampf nicht zuletzt gegen die noch kompromisslosere Unionistenpartei TUV. Ob ihn die prophezeiten Mandatsverluste wirklich zum Einlenken bewegen, wie die Konservativen in London hoffen? Deren Vorgehen beäugen die Unionisten derzeit, wenn möglich, noch misstrauischer als ohnehin schon, darin unterstützt von den heimischen Volksvertretern, die gern von eigenen Fehlern ablenken. Dabei stelle das Verhalten der DUP in den letzten Jahren „eine Fallstudie von Totalversagen“ dar, glaubt Professor Anand Menon vom Londoner King’s College.

Sinn Féin flirtet mit der NATO und der EU

Offenbar um an gemäßigte Wählerschichten zu appellieren, hat die Dubliner Sinn-Féin-Führung dieser Tage ihre eisenharte Haltung gegen jede Verteidigungskooperation mit der NATO und der EU aufgeweicht. Man werde die bisherige Zusammenarbeit mit dem EU-Projekt Pesco und der NATO-Assoziation PfP nicht – wie bisher stets versprochen – sofort aufgeben, teilte der außenpolitische SF-Sprecher Matthew Carthy auf Medienanfragen mit.

Militärisch hat die grüne Insel wenig zu bieten, ihr Luftraum wird von der britischen Royal Air Force überwacht. Dass sich SF aber auch dem westlichen Verteidigungsbündnis anzunähern scheint, vollendet die Kehrtwende der einst linkssozialistischen Partei, die noch vor 20 Jahren auch gegen die EU zu Felde zog. In die gleiche Kategorie dürfte die Teilnahme der designierten nordirischen Regierungschefin Michelle O‘Neill an der Krönung von Charles III. zu Monatsbeginn fallen. Die Republikanerpartei will Regierungsfähigkeit demonstrieren, wozu freundliche Beziehungen zum nächsten Nachbarn gehören. Am Boykott des Parlaments von Westminster hingegen halten die sieben gewählten SF-Abgeordneten fest.

An die Mitte der Gesellschaft appelliert die konfessionsübergreifende Allianz. Den Fachleuten zufolge könnte die liberale Partei die beiden kleineren Gruppierungen, die unionistische UUP und die nationalistische SDLP, überflügeln und sich als Nummer drei im Land etablieren. Freilich haben die Nordiren schon häufiger den gemäßigten Kräften im Land einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Auszählung der Stimmen nach dem modifizierten Verhältniswahlrecht dürfte erst am Wochenende zu verlässlichen Ergebnissen führen.