VenezuelaDie Rache des Apparatschiks: Wie ein Dichter sich nicht vom Staatsapparat einspannen lässt

Venezuela / Die Rache des Apparatschiks: Wie ein Dichter sich nicht vom Staatsapparat einspannen lässt
Rafael Cadenas war immer das Gegenteil eines Apparatschiks Foto: Guillermo Ramos Flamerich, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Ihn kann nichts mehr umhauen. Nicht der Cervantes-Preis, die höchste Auszeichnung für spanischsprachige Literatur, die er als erster Dichter seines Landes dieses Jahr erhalten hat, nicht die venezolanische Regierung von Nicolás Maduro. Und auch nicht das Referendum am vergangenen Sonntag, bei dem die Wähler Venezuelas für die Teil-Annexion des Nachbarlandes Guyana aussprachen. Rafael Cadenas war früher Kommunist, musste unter der früheren rechten Diktatur von Marco Pérez Jiménez (1952-1958) ins Gefängnis und ging danach ins Exil nach Trinidad und Tobago. Eine Leidensgeschichte mit pikaresken Elementen, die aus der Feder eines lateinamerikanischen Schriftstellers stammen könnte.

Der 93-Jährige hat dem Kommunismus längst entsagt und sich in seine Heimatstadt Barquisimeto zurückgezogen, die unter anderem für das berüchtigte Gefängnis Uribana bekannt wurde, wo nach einem Bericht der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte Kämpfe zwischen Gefangenen für ein Publikum veranstaltet wurden und bei Unruhen vor zehn Jahren mindestens 61 Menschen ums Leben kamen.

Cadenas hat dies alles nicht kaltgelassen. Vor zehn Jahren war er noch eigens nach Caracas gekommen, um bei einer Solidaritätsaktion an die Oppositionellen zu erinnern, die bei den Protesten gegen Präsident Nicolás Maduro gestorben waren. Den autoritären Staatschef nennt er genauso wie dessen Vorgänger Hugo Chávez nicht beim Namen, sondern sagt nur „dieser Mann“. Unter beiden linken Caudillos sah er sein Land verfallen.

Cadenas wählte sodann das innere Exil. Zu den linken Populisten passt sein Satz: „Das Problem jeder Ideologie ist, dass sie bereits gemacht ist, was das freie Denken hindert.“ Es ist der ideologische Überbau, mit dem Potentaten ihre Macht legitimieren: Bei Chávez war es die „Bolivarische Revolution“, eine Mixtur marxistischer Ideen und lateinamerikanischer Befreiungsmythen, aufbauend auf der Verstaatlichung der Schlüsselindustrie, um den Ölreichtum des Landes zur Finanzierung des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu steigern, und der eigenen Klientelpolitik.

Misswirtschaft und Unterernährung

Fast ist er in Vergessenheit geraten: der Begriff des Apparatschiks. In den realsozialistischen Staaten war er der Inbegriff eines Funktionärs, der seine gesellschaftliche Stellung und Macht vor allem dem Partei- und Staatsapparat verdankt. Nicht wenigen wie etwa Leonid Breschnew oder Walter Ulbricht gelang es sogar, bis an die Spitze des Staates oder der Partei vorzustoßen. Mit dem Ende der Sowjetunion und ihrer mittel- und osteuropäischen Satellitenstaaten schien die Figur des Apparatschiks der Geschichte anheimgefallen. Dabei hat die spezifisch in autoritären und totalitären Staaten vorzufindende Spezies durchaus überlebt. Die meisten dürfte es in China geben. Andere Länder kultivieren ebenso noch dieses personifizierte Relikt.

Mit lateinamerikanischen Revolutionären verbindet man am ehesten Fidel Castro und Ernesto „Che“ Guevara, später vielleicht noch den nicaraguanischen Sandinisten-Führer Daniel Ortega und den venezolanischen Machthaber Hugo Chávez. Während Castro, Guevara und Chávez längst das Zeitliche gesegnet haben und Ortega sowohl geistig als auch körperlich sichtlich beeinträchtigt ist, siechen ihre Staaten, denen sie einst fadenscheinigen Glanz verliehen haben, dahin. So sitzt zum Beispiel Venezuela auf den wohl größten Ölreserven der Welt, hat aber seit zehn Jahren einen Einbruch der Wirtschaft von 75 Prozent verzeichnet – und damit den wohl stärksten ökonomischen Niedergang, den ein Land erlebt, das nicht in einen Krieg verwickelt sei, schrieb im Mai die Neue Zürcher Zeitung. Es fehlt sogar Benzin, sodass die Autofahrer stundenlang vor den Tankstellen auf den subventionierten Sprit warten. Die einst größte Raffinerie ist ein Schrotthaufen, das Land verfällt unter der Misswirtschaft seiner Regierung von Präsident Maduro. Die Versorgungslage wird immer prekärer. Die weit verbreitete Unterernährung wird „Maduro-Diät“ genannt.

Fidel Castro und Hugo Chávez erlangten für ihre Reden Berühmtheit, die manchmal mitreißend und unterhaltsam, vor allem aber lang waren: Der Máximo Lider brachte es auf einen Rekord von mehr als sieben Stunden – es wurden sogar zwölf Stunden behauptet –, bei Chávez war es ähnlich. Während die beiden Caudillos als schillernde Figuren glänzten, besitzt Maduro den diskreten Charme des Apparatschiks. Venezuelas Präsident – er löste Chávez 2013 nach dessen Krebstod ab – ist seit zehn Jahren im Amt. Nach dem umstrittenen Referendum über die Annektierung der ölreichen Region westlich des Flusses Essequibo im Nachbarland Guyana rief er dazu auf, die Region zu einer venezolanischen Provinz zu erklären und Lizenzen für die Ölförderung auszugeben. Politische Beobachter sehen darin ein Ablenkmanöver von der Not im eigenen Land und einen Versuch, die im kommenden Jahr vorgesehenen Wahlen zu verschieben. Angesichts der Tatsache, dass selbst China zur friedlichen Beilegung des Konflikts aufgerufen hat, kann Maduros Ansinnen auch als Starrsinn gedeutet werden. Unterschätzt werden darf Maduro jedoch keinesfalls.

Instabilität in ganz Lateinamerika

Lateinamerika steckt nach einem weiteren „verlorenen Jahrzehnt“ – als solches werden üblicherweise die 1980er-Jahre bezeichnet, die Hochphase der lateinamerikanischen Schuldenkrise – und den verheerenden Auswirkungen der Covid-Pandemie erneut in einer turbulenten Situation der politischen und ökonomischen Instabilität: von Argentinien, wo der Anarchokapitalist Javier Milei neulich zum Präsidenten gewählt wurde, und Chile, wo kommende Woche einmal mehr über einen neuen Verfassungstext abgestimmt werden soll, bis Mexiko, wo im kommenden Jahr am 2. Juni Präsidentschaftswahlen stattfinden – Claudia Sheinbaum, einst Regierungschefin von Ciudad de Mexico, kandidiert hierbei aussichtsreich gegen die indigene Oppositionskandidatin Xóchitl Gálvez. In vielen anderen Ländern herrscht Unruhe, etwa in Peru oder Ecuador. Dabei ist den Menschen in Lateinamerika nichts mehr zu wünschen als eine stabile Perspektive für die Zukunft.

Rafael Cadenas war immer das Gegenteil eines Apparatschiks. Während sich manche Dichter in den Dienst von Ideologie und Staatsapparat einspannen ließen, blieb er sich selbst treu. Einst Mitglied der literarischen Gruppe „Tabla redonda“, war er etliche Jahre in der Universidad Central de Venezuela beschäftigt. Politik entleere den Sinn der Wörter, so Cadenas. Einige seiner Gedichte sind als „Klagelieder im Gepäck“ auf Deutsch erschienen. Das berühmteste dürfte Nicolás Maduro nicht gefallen. Es heißt „La derrota“ (die Niederlage). Denn Diktatoren verlieren nicht gern. Denn nach einer Niederlage bleibt ihnen nicht mehr viel – weder Macht noch Apparat.