VerteidigungDeutschland will bald eine Übersicht über eine mögliche Wehrpflicht haben

Verteidigung / Deutschland will bald eine Übersicht über eine mögliche Wehrpflicht haben
Pistorius will bis Mitte April eine „Übersicht“ auf dem Schreibtisch haben, welche Modelle der Wehrpflicht überhaupt denkbar sind Foto: AFP/Ronny Hartmann

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Kommt in Deutschland wieder ein Wehrdienst als Teil einer allgemeinen Dienstpflicht? Verteidigungsminister Boris Pistorius will das Land wieder wehrfähig machen und hat dazu auch eine Debatte über eine neue Wehrpflicht angestoßen.

Unlängst in Norwegen, 400 Kilometer nördlich des Polarkreises, hörte Deutschlands Verteidigungsminister beim Besuch der Grenze zu Russland – wie auch einen Tag später in Finnland — eine Vokabel, die bei ihm Aufmerksamkeit auslöste: „total defense“. Dem deutschen Verteidigungsminister war sofort klar, dass eine wörtliche Übersetzung ins Deutsche höchst heikel wäre. Spräche er von „totaler Verteidigung“, dann wäre es gedanklich nicht mehr weit zum historisch verbrannten Begriff vom „totalen Krieg“. Vorsicht an der Bahnsteigkante! Ein guter Brandmelder und Instinkt sind notwendige Tugenden an der Spitze des vermutlich kompliziertesten Ministeriums im Bundeskabinett. Also spricht Boris Pistorius lieber vom „Prinzip der Gesamtverteidigung“, das „weit in die Gesellschaft“ reiche, als er dieser Tage bei einem Auftritt in Dresden laut über einen Beitrag jedes Einzelnen „für die Sicherheit des eigenen Landes nachdenkt“ – zur äußeren wie zur inneren Sicherheit.

Vor Wochen erst hat der Verteidigungsminister die Idee in die öffentliche Debatte eingespeist, wie es das Land im nun dritten Jahr des Ukraine-Krieges mit der eigenen Verteidigungsfähigkeit hält – und dabei auch eine Wehrpflicht beziehungsweise einen Wehrdienst wieder ins Gespräch gebracht. Pistorius spricht auch von der „Kriegstüchtigkeit“ Deutschlands. Er weiß, es ist ein heikler Begriff – „das hässliche Wort Krieg und das altmodische Wort tüchtig“ miteinander zu verbinden. Aber die Vokabel „Kriegstüchtigkeit“ will der SPD-Politiker denn auch als „Diskussionstrigger“, als „Wachrüttler“ verstanden wissen, wenn es um die Zukunft der Truppe geht. Schließlich stehe schon im Grundgesetz, dass die Bundesrepublik zu ihrer Verteidigung Streitkräfte aufstelle. Und diese Streitkräfte bräuchten auch die Fähigkeit, Krieg zu führen, wenn das Land angegriffen werde, so der Minister. Kurzum: „Kriegstüchtigkeit“. Teile der politischen Konkurrenz regen sich darüber auf, wie ein deutscher Verteidigungsminister die eigenen Streitkräfte nun kriegstüchtig machen wolle und dabei auch eine Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht angezettelt habe. Dabei lebte das Land doch längst seit mehr als zehn Jahren gut ohne die praktizierte Wehrpflicht. Aber nun haben der Ukraine-Krieg und die Zeitenwende andere Bedingungen geschaffen. Deutschland muss sich wappnen und rüsten.

Wehrpflicht „light“ in Schweden

Der Verteidigungsminister will im Ministerium bis Mitte April eine „Übersicht“ auf dem Schreibtisch haben, welche Modelle der Wehrpflicht überhaupt denkbar sind. Welche sind tatsächlich in die Praxis übertragbar? Wofür braucht das Land die Wehrpflicht? Wie schnell kann die Bundeswehr ein solches Modell mit welchen Kapazitäten aufbauen? Ab Mai will der Minister dann mit den politischen Akteuren, aber eben auch mit der Öffentlichkeit eine Diskussion über einen möglichen Wehrdienst der Zukunft führen, denn ein solcher Dienst müsste natürlich auch von der Bevölkerung verstanden und mitgetragen werden.

Pistorius war selbst Wehrpflichtiger, Fahrer des Regimentskommandeurs. Er war neun Tage im Amt des Verteidigungsministers, als er in seinem ersten großen Interview der Süddeutschen Zeitung auf die Frage nach der Wehrpflicht folgenden Satz sagte: „Wenn Sie mich als Zivilisten fragen, als Staatsbürger, als Politiker, würde ich sagen: Es war ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen.“ Damals hätten an jedem zweiten Küchentisch Wehrpflichtige gesessen. „Aber das lässt sich jetzt nicht einfach so zurückholen.“ Was und wie es sich zurückholen lässt, dies lässt Pistorius nun prüfen. Vergangene Woche betonte der Minister bei einer SPD-Veranstaltung in Dresden: „Es wird keine bloße Wiedereinsetzung der Wehrpflicht von damals sein. Das ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen kaum vorstellbar.“ Vielleicht läuft die Debatte auch in Richtung einer allgemeinen Dienstpflicht für alle jungen Frauen und Männer, von der ein Wehrdienst ein Teil davon wäre, siehe „total defense“ in Skandinavien.

Bei der schwedischen Musterungsbehörde in Stockholm ließ sich der Minister unlängst durch die Test- und Fitnesslabore der Probanden führen. Schweden hat eine Art Wehrpflicht „light“, bei der die Pflicht zunächst ein Fragebogen ist, den alle jungen Frauen und Männer ausfüllen müssen. Etwa ein Drittel der potenziellen Kandidaten muss dann wirklich zur Musterung. Davon wiederum spricht der schwedische Staat nur die Besten der Besten an, die dann aber nicht Nein sagen können, weil es eben eine Wehrpflicht gibt. Etwa zehn Prozent eines Jahrgangs müssen dann in die Armee. Pistorius sagt, er habe ein Faible für das schwedische Modell. In Schweden, wie auch in Norwegen und in Finnland, herrscht bei jungen Menschen eine hohe Akzeptanz der Wehrpflicht, die, ist sie erst einmal absolviert, auch Karrierewege im zivilen Leben öffnet. Es gilt einfach die Devise: Verteidigung geht alle an.