„Wir müssen verdammt umdenken“

„Wir müssen verdammt umdenken“
(Tageblatt/Alain Rischard)

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Im Süden des Landes wird demnächst ein neuer Krankenhauskomplex entstehen: das „Südspidol“. Über die Vorteile bzw. die Notwendigkeit dieses Projekts hat sich das Tageblatt mit dem Generaldirektor des „Centre hospitalier Emile Mayrisch“, Dr. Michel Nathan, unterhalten.

Und in diesem Kontext über die Zukunft der aktuellen Einrichtungen in Esch, Düdelingen und Differdingen sowie über die politisch nicht unumstrittene Standortfrage für das neue Krankenhaus.

CHEM-Generaldirektor Michel Nathan. (Bild: Tageblatt/Alain Rischard)

Was sind Sinn und Zweck eines zukünftigen „Südspidol“? Oder anders gefragt: Was haben auf der einen Seite die Patienten, auf der anderen Seite die Ärzte bzw. das Personal davon?

Michel Nathan: „Die Strategie eines Krankenhauses, eine ordentliche Zukunftsstrategie, muss man lange im Voraus vorbereiten. Dies geht nicht einfach von Monat zu Monat oder von Jahr zu Jahr.

Bei einem Betrieb von der Größenordnung und der Komplexität des CHEM („Centre hospitalier Emile Mayrisch“) setzt das voraus, dass man am Puls des Fortschritts bleibt, um zeitig das zu planen, was man zukünftig braucht. Ohne vorausschauenden Plan läuft man immer hinterher. Der Leidtragende in diesem Fall wäre der Patient, der nicht in den Genuss der neuesten medizinischen Fortschritte käme. Kurzum: Durch eine schlechte medizinische Planung verliert der Patient an Chancen.

Der Angestellte seinerseits verliert ebenfalls an Chancen. Ganz einfach, weil er auf lange Sicht den Verlust seines Jobs riskiert.

In der Medizin ist es wie in der Küche. Wie Küchenchef Tony Tintinger sagt: ‚On ne fait du bon qu’avec du très bon‘. Der Arbeitsmarkt der Ärzte ist heutzutage problematisch. Es ist sehr schwer, gute Spezialisten zu bekommen. Will man diese Spezialisten aber erreichen, muss man attraktiv für diese Leute sein. Mediziner wollen eine gewisse Dynamik, ein gewisses Entwicklungspotenzial spüren. Andernfalls suchen sie sich anderswo einen Job. Aber ohne gute Spezialisten kann man keine gute Medizin machen.

Wenn man aktuell also nichts unternimmt, um sich attraktiver zu präsentieren, wird über kurz oder lang die Qualität der medizinischen Versorgung abnehmen. Auch weil wir hierzulande ein allgemeines Problem mit der Erneuerung der Ärzteschaft haben. Etliche Mediziner werden in den kommenden Jahren in Rente gehen und die Nachfolge ist nicht garantiert. Man muss also schon hoch gesteckte Ziele verfolgen, um ein realistisches Ziel zu erreichen.

Hinzu kommt, dass laut Gesetz ein Krankenhaus sich stärker spezialisieren und weniger alles anbieten muss. Was beinhaltet, dass das Krankenhaus eine Strategie entwickeln und sich überlegen muss, auf welche Bereiche es sich konzentrieren will. Was in meinen Augen übrigens auch sehr sinnvoll ist. Eine gezielte Spezialisierung setzt aber voraus, dass man in besagten Bereichen zu den Besten gehört. Nicht nur hier im Land.

Wenn man nun die Situation im Süden des Landes betrachtet, dann muss man ein paar Dinge sehen. Einerseits erlaubt die Tatsache, dass die Süd-Krankenhäuser sich unter einem Hut befinden, gemeinsam eine Strategie zu entwickeln, ohne dass ein Krankenhaus das andere fürchten müsste. Aus dem, was einst eine Konkurrenzsituation war, ist heute eine Solidaritätssituation geworden. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.

Andererseits haben wir auch als Arbeitgeber eine Verantwortung. Das CHEM ist mit der größte Arbeitgeber im Süden.

Last but not least haben wir die Situation, dass die Universität nach Esch kommt und dass bereits einige Bereiche wie die Biomedizin sich hier angesiedelt haben. Ein Krankenhaus im Kontext der personalisierten Medizin muss dies als Chance für seine Patienten sehen.

Es muss sowohl gebäudetechnisch als auch strukturell etwas passieren. Das Gebäude, das, was die Menschen sehen, ist dabei aber nur das Instrument, das Ziel ist das, was im Inneren dieses Gebäudes passiert.“

Kann man dieses Ziel nicht mit drei Standorten erreichen?

„Nein, dadurch, dass wir an drei Standorten so wie heute funktionieren, sind wir überproportional teuer. Bei gleicher Leistung. Dies haben uns unabhängige Studien bestätigt. So verbrauchen wir zum Beispiel überproportional viel Energie und wir können unser Potenzial nicht so einsetzen, wie wir das wollen. An drei Stellen müssen wir zum Beispiel Bereitschaft machen, wir brauchen an drei Stellen Krankenschwestern, Pförtner usw. Das ist schwierig und teuer.

Wenn wir heute das Gleiche an einem Standort machen würden, dann würden wir ohne weiteres Zutun, wie uns die Schweizer Experten bescheinigt haben, 15 Prozent Kosten einsparen. 15 Prozent von 180 Millionen pro Jahr. Das ist schon eine gewaltige Summe, die einzig und alleine durch ein neues Gebäude eingespart werden könnte.

Hinzu kommt aber auch, dass die Bedürfnisse der Menschen sich im Laufe der Jahre verändern. Wenn sie heute in ein Krankenhaus gehen, dann wollen die Patienten einerseits eine korrekte Betreuung, sie wollen Wartezeiten, die so gering wie nur möglich sind – wobei Wartezeiten nicht immer zu vermeiden sind – und sie wollen so kurz wie nur möglich im Krankenhaus bleiben. Andererseits wollen jene, die im Krankenhaus bleiben müssen, so viel Komfort wie möglich. Schon heute will eine Mehrheit der Patienten ein vielleicht kleineres, dafür aber ein eigenes Zimmer, mit eigenem Bad und eigenem WC. Besonders Frauen äußern diesen Wunsch.

Gleichzeitig erklärt aber auch eine Reihe der Patienten, dass sie am liebsten morgens ins Krankenhaus kämen, um es dann bereits am Abend wieder zu verlassen. Diese Patienten brauchen nicht unbedingt ein eigenes Zimmer. Auch in diesem Sinne, entsprechend den Wünschen der Patienten, müssen wir umplanen.

Ein weiteres Argument für einen Standort ist, dass wir in den vergangene Jahren enorm gewachsen sind, damit auch die sogenannten Zirkulationsflächen. Diese muss man heizen, kühlen … dies ist genauso irrational wie die großen zurückzulegenden Strecken in den langen Gängen.

Ein Krankenhaus ist des Weiteren ein Betrieb, der sehr teuer in Bezug auf das nötige Material und die entsprechende Logistik ist. Dies mit drei Standorten bzw. in einem Gebäude, das quasi ein Puzzle von Gebäuden aus einem Jahrhundert ist, zu optimieren, ist sehr schwierig.“

Die derzeitigen drei Standorte sollen aber nicht ganz aufgegeben werden?

„Unser Ziel ist, der Bevölkerung im Süden des Landes in den kommenden zehn, 20 Jahren eine korrekte und hochwertige Medizin zu bieten. Zu diesem Zweck müssen wir einerseits im Krankenhaus, das wie gesagt nur ein Teil, nur ein Gebäude ist, unsere Kompetenzen bündeln. Andererseits müssen wir aber auch verstärkt auf die Bevölkerung zugehen. Nicht jeder muss bei Kleinigkeiten ins Krankenhaus. Daher auch das Konzept der „Maisons médicales plus“.

In Düdelingen sind wir derzeit ja auch dabei, ein Konzept zu erproben, wo man sich am Tag bei kleineren Unfällen oder Erkrankungen untersuchen und behandeln lassen kann.

Andererseits haben wir aktuell eine Konzentration der Dienste in Esch plus Differdingen. Hier werden wir dahingehend diskutieren müssen, dass der Notdienst weiterhin hier, dort, wo das „Südspidol“ hinkommen wird, bestehen bleiben soll und dass wir uns mit den Allgemeinmedizinern so arrangieren müssen, dass an den anderen Standorten ein medizinischer Bereitschaftsdienst garantiert ist.

Verstärkt auf die Bürger zugehen müssen wir auch deshalb, weil die Bevölkerung immer älter wird. Wir müssen Anstrengungen unternehmen, mehr informieren und aufklären (z. B. zu den Themen Diabetes, Schlaganfälle, …), so dass die Menschen weniger ins Krankenhaus gehen müssen, weniger krank werden.

Unserer Meinung nach ändert sich die Rolle des Krankenhauses in Zukunft grundlegend. Das Krankenhaus der Zukunft wird nicht mehr eine Einrichtung sein, wo die Dienstleistung am Eingang beginnt und am Ausgang endet, sondern sich auch darüber hinaus um die Menschen kümmert, sie begleitet und betreut.“

Gibt es in diesem Zusammenhang Modelle im Ausland, an denen Sie sich inspiriert haben?

„Ja und nein. Das richtige, das ideale Modell gibt es in der Medizin ohnehin nirgends. Genauso wenig wie bei der Finanzierung der Medizin.

Hinzu kommt, dass in der Medizin immer eine Generation den Kopf über die Irrtümer der vorherigen Generation schüttelt. In diesem Sinne müssen wir einfach versuchen, aus dem was wir wissen, aus dem was wir haben, das Optimum zu ziehen.

Auch kommen auf ein Krankenhaus mit der Entwicklung der Universität noch andere Aufgaben zu. Wir müssen uns an der dort betriebenen Forschung beteiligen. Außerdem werden wir uns zukünftig verstärkt bei der Ausbildung einbringen müssen, unseren Teil dazu beitragen. In Belgien z. B. wollen Sie unsere Studenten zum Teil nicht mehr. Wir müssen uns jetzt für die Zukunft aufstellen, wir dürfen nicht stehen bleiben. Und uns den entsprechenden Diskussionen nicht verschließen.“

Von welchem Zeithorizont reden wir hier?

„Von zirka zehn Jahren.“

Für viele Außenstehende ist es schwierig nachzuvollziehen, dass ein Krankenhaus wie das in Esch, das eben umgebaut wurde, bereits kurze Zeit später schon nicht mehr „modern“ sein soll … Die denken sich: die Verantwortlichen können nicht planen …

„Solche Überlegungen kann ich durchaus verstehen. Aber es gibt eben eine Erklärung: die Gebäude, die jetzt realisiert wurden, sind zum größten Teil Projekte, die auf die 90er-Jahre zurückgehen. Diese wurden alle – mit Ausnahme von Düdelingen, wo ein Projekt rund um die älteren Menschen plus kleiner Poliklinik funktioniert – in einer Vision ‚jedes Krankenhaus für sich‘ realisiert. Die Fusion mit Differdingen hat sich gemacht, als hier das Projekt ‚Artur‘ z. B. schon in der Umsetzung war.

Und das, was derzeit hier steht, ist zum großen Teil nur eine ‚Mise en conformité‘ des Bestehenden. Hinzu kommt, dass mit dem Projekt ‚Artur‘ die Radiotherapie sowie die Notaufnahme auf die nötige Größe ausgebaut wurden.

Wir haben außerdem unsere chirurgische Poliklinik umgebaut. Stillstand können wir uns, Sparzwänge hin oder her, nicht leisten. So wird kurzfristig die Reanimation modernisiert, wir werden eine onkologische Poliklinik schaffen (hier müssen die Patienten derzeit im Flur warten, das geht nicht), wir werden ein regionales Brustzentrum ins Leben rufen, eine regionale Apotheke … diese Projekte stehen allesamt an, und es werden weitere hinzukommen. Und wir werden diese realisieren und in Niederkorn wollen wir die Umweltklinik genau wie ein Rückenzentrum ansiedeln.

Wir werden uns also in jedem Fall weiterentwickeln, wobei, wie ich bereits erwähnt habe, die Gebäude nur die Struktur darstellen. Entwickeln müssen wir uns vor allem auch in unseren Köpfen. Und das ist nicht immer ein leichtes Unterfangen. Ärzte sind oft konservativ.

Allerdings muss man sagen, dass die Diskussion um die verschiedenen Projekte bereits jetzt eine neue Dynamik mit sich gebracht haben und sich sehr gut entwickeln.“

Im Verwaltungsrat ziehen alle Mitglieder an einem Strang, obwohl diese politisch unterschiedlich gefärbt sind?

„Wir haben vor rund zwei Jahren ein Konzept für eine langfristige Entwicklung vorgelegt. Der Verwaltungsrat hat daraufhin eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben. Die Experten kamen zu dem Schluss, nachdem sie sieben verschiedene Szenarien im Detail durchleuchtet und durchgerechnet hatten, dass das rationalste, das wirtschaftlichste Projekt, das des Baus eines neuen Krankenhauses sei.

Prinzipiell wollen wir investieren, um weniger auszugeben. Eines der Ziele ist z. B., 30 Prozent an Energie einzusparen. Das sind klare Ziele, klare Angaben.

Der Verwaltungsrat hat daraufhin beschlossen, ein neues Krankenhaus zu bauen.“

Das kling jetzt sehr rational, sehr harmonisch. Gibt es in der Standortfrage aber nicht doch einige (lokalpolitische) Reibereien?

„Die Standortfrage ist dabei, beantwortet zu werden. Ein externes Unternehmen – Paul Wurth – bewertet derzeit mögliche Standorte nach einer Reihe objektiver Kriterien. Ich weiß nicht, wie diese Bewertung ausfallen wird. Ist diese abgeschlossen, wird das Dossier dem Verwaltungsrat vorgelegt, dann muss dieser entscheiden.

Außerdem ist, meiner Ansicht nach, die Standortfrage unwichtig. Wichtig ist, dass die Patienten das Südspital ohne Schwierigkeiten mit dem öffentlichen Transport erreichen können. Wenn dann das Krankenhaus noch in der Nähe der Universität läge, wäre dies sicher von Vorteil für beide Strukturen.“

Die Politik sieht diese Frage aber wahrscheinlich nicht ganz so nüchtern wie Sie?

„Das mag wohl so sein. Das, was für mich wichtig ist, ist aber wie und was nachher im neuen Krankenhaus passiert.

Wir als Krankenhaus wissen, wo wir stehen und wir wissen, wo wir hin wollen. Wie lange die Zeit dazwischen ausfällt, ist kruzial dafür, wie die Projekte sich entwickeln werden. Da gibt es keine politischen Hintergedanken. Wichtig ist, welche Leistungen ein luxemburgischer Patient in zehn Jahren erwarten kann. In einem Solidaritätsmodell mit gleichen Rechten für alle. Dieses Ziel zu erreichen ist keine leichte Operation. Dazu müssen wir verdammt umdenken. In vielen Ländern Europas gibt es ein zwei Klassen Gesundheitssystem. Das wollen wir hier nicht. Was aber nicht bedeutet, dass wir dies erreichen wollen zu egal welchen Kosten, das können wir nicht mehr verantworten. Wir müssen rational planen und dementsprechend jetzt denken. Und wir müssen Schwerpunkte setzen. Das Gesetz spricht von Kompetenzzentren.“

Sie sind also optimistisch, dass das geforderte Umdenken auch wirklich einsetzen wird?

„Dass wir eine korrekte, bezahlbare Medizin auch noch in zehn Jahren hierzulande anbieten müssen, die mit derjenigen im Ausland Schritt halten kann und muss, leuchtet allen Verantwortlichen ein. Von der Standortfrage einmal abgesehen (schmunzelt)… Aber das ist, wie gesagt, nicht meine Diskussion.

Meine Diskussion ist, von den oben genannten Bedingungen der Erreichbarkeit und der etwaigen Nähe zur Universität, dass die Ärzte, wenn wir ein neues Krankenhaus bauen, im Krankenhaus präsent sein müssen. Anders als bisher sollen die Spezialisten, die dort arbeiten werden, ihre Sprechstunde auch im Krankenhaus abhalten.“

Stichwort Universität. Wie sehen Ihre gegenseitigen Beziehungen derzeit aus?

„Wir haben die Uni Luxemburg von Anfang an in unser Projekt eingebunden. Wir sind der Meinung, dass wir der Universität sehr viel bringen können. Und umgekehrt. Der Kontakt zwischen Kliniker und Forscher kann, unserer Auffassung nach, ein sehr positiver werden. Persönlich glaube ich auch, dass das Konzept der personalisierten Medizin dem Patienten sehr viel bringen wird.

Mit unserer Universität sind wir meiner Meinung nach optimal eingestellt, um in diese Richtung in die Zukunft gehen zu können.

Wichtig in diesem Kontext ist auch zu betonen, dass die Medizin sich ändern wird, die Wissenschaft auch, bettenmäßig größer werden wir aber nicht werden.“

Was ist mit der angedachten Idee eines transnationalen, großregionalen Krankenhauses?

„Diese Idee ist nicht aktuell. Uns geht es jetzt prioritär darum, entsprechend dem Gesetz, der luxemburgischen Bevölkerung die bestmögliche medizinische Versorgung zukommen zu lassen.“

Was bedeutet das „Südspidol“ für die übrigen Regionen des Landes?

„Nicht mehr und nicht weniger als bisher. Unser Ziel ist es, zwei oder drei nationale Kompetenzzentren im Süden anzusiedeln und den Notdienst für unsere Region zu garantieren.

Mit den übrigen Krankenhäusern im Land wollen wir uns so verzahnen, dass wir die Patienten dahin orientieren können, wo sie am besten behandelt werden. Immerhin ist Luxemburg als Land noch immer kleiner als jede Großstadt.“