Sonntag26. Oktober 2025

Demaart De Maart

Der andere Blick der Kerstin Hess

Der andere Blick der Kerstin Hess

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Wie haben Europäer, die in Tunenien leben den Umschwung erlebt? Kerstin Hess ist seit 2009 die Repräsentantin von LuxairTours vor Ort. Sie lebt seit 1984 in Tunesien.

Das Gespräch mit der 52-Jährigen über eine wackelige Handyverbindung ins weit entfernte Hammamet ernüchtert.

Aus zweierlei Gründen: Erstens macht die zweifache Mutter, die 22 Jahre lang mit einem Tunesier verheiratet war, weder einen eingeschüchterten noch gar im Nachhinein panischen Eindruck ob des Geschehens der vergangenen Wochen. Zweitens schleichen sich angesichts der „Live“-Schilderungen aus einer der tunesischen Touristenhochburgen Zweifel angesichts der Art und Weise der Berichterstattung ein.

Nichts verspürt

„Gar nichts“ hätten die Touristen mitbekommen, wenn sie nicht Fernsehen geschaut hätten, sagt Kerstin Hess. Hammamet liegt 50 Kilometer von Tunis entfernt. Sicherlich habe es in dem Touristenort hier und da Brandstiftung gegeben, auch Plünderungen.

Die Reaktion sei jedoch eine prompte gewesen. „Sofort wurden überall Bürgerwehren organisiert“, berichtet Hess. Die Hotels seien sowieso nicht betroffen gewesen. Zudem halten sich hartnäckig Gerüchte, dass die „Ausschreitungen“ vom alten Regime inszeniert worden seien, um die Bevölkerung zu verunsichern.

Beliebtes Ferienziel

Luxemburger reisen gerne in das nordafrikanische Land. Als Repräsentantin von LuxairTours konnte Hess gerade erst 2009 einen Zuwachs von 17 Prozent an luxemburgischen Gästen verzeichnen. Vor allem die Zahl der Senioren, die für zwei bis drei Monate kommen, steige kontinuierlich, hat sie festgestellt.

„Die letzten Gäste habe ich am 6. Februar verabschiedet, sie sind über Rom nach Luxemburg zurückgeflogen.“ Manche seien aber auch gegen Unterschrift dageblieben. Sehr viele hätten sowieso widerwillig abgebrochen“. Die Unterschrift entlastet den Reiseveranstalter.

Tunesier sind „erfinderisch“

Haben wir eine falsche Einschätzung vom Land? Gab es nicht Behinderungen beim Zugang zu Informationen? Gab es. Gleichzeitig gab es aber auch hierfür schon unter dem alten Regime eine Antwort. „Die Tunesier sind ungeheuer erfinderisch und hatten schnell raus, wie man über Schleichwege auf YouTube oder an Internetseiten kommt, die gesperrt waren“, sagt Hess.

Sie spricht tunesisch-arabisch, versteht also heimisches Fernsehen. Die Tunesier bezeichnet sie als „sehr wissensdurstig“. Neue Häuser seien noch nicht verputzt, da stehe die Satellitenschüssel schon auf dem Dach. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Bevölkerung des Landes im Vergleich zu anderen arabischen Ländern über einen sehr hohen Bildungsgrad verfügt. Die Einschulungsquote liege bei fast 100 Prozent, die Alphabetisierungsquote bei 80,6 Prozent. Heute würden mehr Mädchen als Jungen studieren. Die jungen Frauen seien sehr emanzipiert, betont die Repräsentatin.

Modernes Land

Hess nennt weitere Beispiele dafür, wie modern Tunesien ist. Sehr gute Straßen zur Überraschung ihrer Gäste, ein gut ausgebautes Stromnetz, sogar in den Oasen, die sie noch ohne kennt. Von einem Stromausfall war während der Unruhen auch nichts zu vernehmen.

Wenn das alles so stimmt, was war es dann, was die Menschen auf die Straße getrieben hat? Hess lebt seit immerhin 27 Jahren in dem Land. Sie hat Ben Alis Vorgänger Bourguiba noch abdanken sehen. „Ich glaube, Ben Ali ist an dem gescheitert, was er dem Land gegeben hat“, sagt sie, „Bildung“.
Gescheite Leute hätten das Bedürfnis, ihre Meinung frei zu äußern – nicht nur auf der Straße, sondern auch bei Wahlen. „Die Wahlen hier waren eine einzige Farce“, sagt sie, „das wusste jeder“.

Niederige Löhne

Und die Arbeitslosigkeit? Zehn Prozent Akademikerarbeitslosigkeit sagen offizielle Schätzungen.
Bei Kerstin Hess hört es sich eher nach schlechtem Lohnniveau an. „Ein Lehrer verdient im Tourismus mehr als in seinem Beruf“, sagt sie, „deswegen gibt es ja auch Akademiker, die als Oberkellner arbeiten“. In der Branche gilt die Rechnung: Ein 250-Betten-Haus ernährt 80 Tunesier. Sie erklärt auch, dass Tunesien ein demografisches Problem bekommen wird. „In den frühen Siebzigern gebar jede Tunesierin noch sieben Kinder. Aktuell kommen nur noch statistische 1,5 Kinder pro Frau zur Welt.“

Spürt sie irgendwelche Veränderungen? „Als Verbraucher nicht“, sagt sie, „aber ich habe das Gefühl, es ist alles transparenter geworden“. Die Abschottung der politischen Kaste funktioniere nicht mehr wie vorher. Neu sei auch, dass Wahlberichterstatter- und -beobachter willkommen seien. Sollte in sechs Monaten wirklich erstmalig frei gewählt werden.