„Tausend Zeilen Lüge“: Die schwierige Enttarnung des Spiegel-Fälschers Claas Relotius

„Tausend Zeilen Lüge“: Die schwierige Enttarnung des Spiegel-Fälschers Claas Relotius

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Wie lässt sich ein gefeierter Reporter als Hochstapler entlarven? Der Fall des „Spiegel“-Autors Relotius hat die Fundamente der Medienrepublik erschüttert. Sein Gegenspieler Moreno schildert erstmals umfassend den verzweifelten Kampf gegen gefälschte Storys.

LINK

Eine Leseprobe aus dem Buch gibt es hier als PDF.

Das Buch sei „keine Abrechnung“, weder mit dem „Spiegel“, noch mit seinen damaligen Chefs oder Claas Relotius. „Spiegel“-Autor Juan Moreno beschreibt in „Tausend Zeilen Lüge“, wie er die Machenschaften seines Ex-Kollegen enttarnte. Der Name Relotius steht für einen der größten Skandale im deutschen Nachkriegsjournalismus. Jahrelang hat der heute 33-Jährige für seine gefeierten Reportagen Szenen, Ereignisse, ganze Existenzen erfunden. Vor allem für den „Spiegel“, aber nicht nur. Angesichts der Fülle der betroffenen Medien beschreibt Moreno eine „Presseschau des Grauens“.

„Der „Spiegel“ wird es nicht mögen“, kündigt Moreno an. Es habe aber auch weder Rückendeckung noch Kooperation gegeben, so der Autor, der weiter für das Magazin schreibt. Er zitiert Chefredakteur Steffen Klusmann: „Ein Buch über den Fall wird es so oder so geben. Und da ist es mir lieber, es schreibt einer, der wirklich nah dran war, und nicht irgendein Honk.“

Auf 280 Seiten berichtet Moreno von dem langen und schwierigen Weg, der schließlich im Dezember zur Enttarnung von Relotius führte. Vieles davon ist bereits bekannt, doch liefert Moreno als direkt Beteiligter jene entscheidenden Details, die seine lesenswerte Schilderung immer wieder zu einem spannenden Krimi werden lassen.

Frühe Zweifel an der Arbeit des anderen

Weite Teile des Buches befassen sich mit der schwierigen Entstehung und den dramatischen Folgen der Reportage „Jägers Grenze“, die Moreno und Relotius zusammen verfassen sollten. Die Story hatte zwei Blickwinkel. Morenos Part bestand darin, in Mittelamerika einen Flüchtlingstreck Richtung US-Grenze zu begleiten. Relotius sollte auf der anderen Seite eine paramilitärische Bürgerwehr ausfindig machen, selbst ernannte Wächter der Grenze zwischen den USA und Mexiko.

Moreno bekommt früh Zweifel an dem, was Relotius als Recherche präsentiert. Fotos stimmen nicht, Identitäten passen kaum zueinander, geschilderte Ereignisse wirken für befragte Experten unglaubwürdig. Doch jeder neue Hinweis Morenos auf Ungereimtheiten bei Relotius an die gemeinsamen Vorgesetzten in Hamburg scheint nur deren Unzufriedenheit zu erhöhen. Die Chefs glauben Moreno nicht, stehen zu ihrem vermeintlichen Star-Reporter Relotius. Moreno bleibt dran, recherchiert hinter Relotius her. „Ich war wie besessen“, beschreibt sich Moreno selbst.

Erst viel später wird der „Spiegel“ vom „wunderbaren Misstrauen des Juan Moreno“ schreiben. Es gelang ihm schließlich aufzudecken, dass der Relotius-Teil der trotz der vehementen Bedenken veröffentlichten Geschichte weitgehend erfunden war. „Es ist schlimmer als jeder Alptraum“, heißt es laut Moreno nun im Ressort.

„Der schlechteste Verdächtige“

Moreno, verheirateter Vater von vier Kindern, hat als freier Autor keine Absicherung. Sein Vertrag mit dem „Spiegel“ kann jederzeit gekündigt werden. Aus Morenos Sicht waren die Reaktionen auf seine Vorwürfe gegen Relotius, der als Ressortchef in die Leitungsebene der Redaktion aufrücken sollte, nicht unbedingt absehbar. „Ich ahnte, dass Relotius als netter Kerl galt. Aber mir war völlig unklar, wie beliebt und wie wichtig er für das Ressort war. Ich hatte mir den denkbar schlechtesten Verdächtigen ausgesucht.“

Relotius setzte nach Morenos Schilderung systematisch auf Auslandsthemen, Einsätze im Inland wollte er nicht. Die Basis für Journalismus ist Vertrauen, von Kollegen, von Lesern. „Mehr Vertrauen als bei kaum überprüfbaren Auslandsreportagen aus Krisengebieten ist kaum denkbar. Ein ideales Feld, um dieses Vertrauen zu missbrauchen.“

Auch für den rasanten Aufstieg des noch jungen und eher unauffällig auftretenden Journalisten Relotius hat Moreno eine Erklärung: „Es blieb nur eines, um bekannt zu werden: Er musste einen Journalistenpreis gewinnen.“ Es wurden dann mehr als 40 Auszeichnungen. Moreno erklärt den Erfolg auch mit der medialen Sinnkrise in ökonomisch harten Zeiten: „Seine Reportagen schienen die Lösung für eine Branche zu sein, die zutiefst verunsichert ist.“

Der „Reporter-Populist“ (Moreno über Relotius) lieferte einfache, plausible Geschichten – nur halt erfunden. „Relotius war nie ein Reporter, er war ein Hochstapler.“ Erstaunlich erscheint bis heute, warum das Kartenhaus nicht früher in sich zusammenfiel, auch wenn es mitunter knapp gewesen sein muss. „Relotius war von Berufsskeptikern umgeben. Sie alle hatte er über Jahre mühelos umtänzelt“, schreibt Moreno. Und: „Ganz gleich wie groß die Gefahr schien, am Ende gelang es ihm immer, sie zu bannen.“

Immer neue Zweifel

Moreno beschreibt auch jenes Gefühl, das viele Kollegen und Leser inzwischen befällt, wenn sie heute eine der vielen gefälschten Relotius-Storys zur Hand nehmen: „Begegnet man seinen Texten mit Zweifeln und nicht wie üblich mit Bewunderung, endet es immer gleich, wirklich immer: mit noch größeren Zweifeln.“

Der „Spiegel“ hat die Relotius-Affäre unter anderem in einer umfangreichen Dokumentation (hier als PDF) und neuen Arbeitsabläufen aufgearbeitet. Es gab auch personelle Konsequenzen: Anders als geplant wurde Ullrich Fichtner nicht Chefredakteur des gedruckten Magazins, Matthias Geyer nicht Blattmacher. Beide waren Vorgesetzte von Relotius, galten als seine Förderer, beide reagierten lange Zeit nicht auf Morenos Zweifel.

Chefredakteur Klusmann reagierte am Montag auf das Buch: „Es war Ende 2018 nicht der „Spiegel“ mit seiner Recherchepower, der Claas Relotius des Betrugs und der Lüge überführte. Es war Juan, der freie Reporter.“ Er habe dafür seine berufliche Existenz riskiert. „Wir haben ihm viel zu lange nicht geglaubt.“

Moreno nimmt das Magazin, für das er weiter arbeitet, trotz seiner Erfahrungen in Schutz. „Der „Spiegel“ ist keine Fälscherbude. Relotius ist ein Fälscher.“ Und die Folgen? „Im Haus ist man heute weitestgehend der Meinung, man sei mit einem blauen Auge davongekommen. Ob das wirklich stimmt, wird die Zeit zeigen.“