AfghanistanDie wachsende Not in Afghanistan wird zur größten Herausforderung für die Taliban

Afghanistan / Die wachsende Not in Afghanistan wird zur größten Herausforderung für die Taliban
Straßenszene in Kabul: Ein Taliban-Kämpfer geht über einen Straßenmarkt Foto: AFP/Hoshang Hashimi

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Nach der Machtübernahme der Taliban steckt die Wirtschaft in einer tiefen Krise. Auch, weil die internationale Hilfe abrupt eingestellt wurde.

Die neue Herrschaft der Taliban in Afghanistan beginnt mit langen Schlangen vor den Banken, explodierenden Preisen auf den Basaren, einer rasch steigenden Inflation und einem Verfall der Währung. Die wachsende wirtschaftliche Krise ist die größte Herausforderung für die Extremisten. Sie verschärft die täglichen Sorgen der Bevölkerung und das Elend in dem Land, in dem bereits jetzt mehr als ein Drittel der Menschen von weniger als zwei Dollar pro Tag leben müssen. Hinzu kommt die Furcht vor Anschlägen etwa des selbst ernannten Islamischen Staates, die das öffentliche Leben lähmt.

Selbst wer vergleichsweise wohlhabend ist, muss sich Tag für Tag dem Kampf stellen, Essen auf den Tisch zu bringen und die Familie mit dem Nötigen zu versorgen. Viele Büros und Geschäfte sind noch immer geschlossen. Seit Wochen wurden keine Gehälter mehr gezahlt. „Alles ist jetzt teurer, die Preise steigen jeden Tag“, berichtet Selgai, der in der Hauptstadt Kabul lebt. Tomaten, die am Vortag noch 50 Afghani gekostet hätten, würden jetzt für 80 Afghani angeboten.

Um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, wurden die Banken, die nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15. August geschlossen wurden, angewiesen zu öffnen. Doch zugleich wurde streng limitiert, wie viel Geld pro Woche abgehoben werden darf. Und noch immer warten vor den Bankfilialen viele Menschen darauf, an ihr Guthaben zu kommen.

Dürre und Landflucht

Auf dem Land könnte es zu einer Katastrophe kommen, weil die Bauern mit einer schweren Dürre zu kämpfen haben. Hilfsorganisationen warnen zudem, dass Tausende Arme sich gezwungen sehen, in die Städte zu fliehen und dort irgendwie unterzukommen. Menschen, die sich in notdürftigen Zelten an den Straßenrändern und in Parkanlagen drängen, seien ein alltäglicher Anblick, berichten Anwohner der Städte.

Afghanen warteten am Dienstag in Kabul auf die Wiedereröffnung der Banken
Afghanen warteten am Dienstag in Kabul auf die Wiedereröffnung der Banken Foto: AFP/Hoshang Hashimi

In einer auf Bargeld beruhenden Wirtschaft, die bei der Versorgung mit Lebensmitteln und dem Grundbedarf stark auf Importe angewiesen ist und der nun Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe fehlt, ist der Druck auf die Währung immens. Der Afghani wurde unlängst in Kabul und Dschalalabad mit 93 bis 95 zum Dollar bewertet. Kurz vor dem Fall Kabuls waren es noch 80 Afghani. Doch der Wechselkurs ist nur ein Indikator, denn der normale Geldhandel ist ausgetrocknet.

In der pakistanischen Stadt Peshawar, die nahe an der Grenze zu Afghanistan liegt, weigern sich viele Geldwechsler, die Währung des Nachbarlandes zu handeln. Der Kurs des Afghani ist viel zu schwankend, als dass er richtig bewertet werden könnte. Nur die schiere Knappheit an Bargeld hat verhindert, dass er noch weiter gefallen ist. „Im Basar kann man für etwas über 90 umtauschen, aber es geht auf und ab, weil es nicht offiziell ist“, sagt ein Händler. Wenn die Börsen wieder öffnen, werde der Kurs wohl auf über 100 steigen, da sei er sich sicher.

Lebensmittelpreise steigen

Der Wertverlust des Afghani führt dazu, dass die Preise für viele Grundnahrungsmittel täglich in die Höhe getrieben werden. Das verschlechtert die Lage der Menschen, die nicht nur ihre Gehälter verloren haben, sondern auch wegen der Bankschließungen nicht an ihre Ersparnisse kommen. In Kabul berichten Markthändler, dass sie einen 50-Kilogramm-Sack Mehl für 2.200 Afghani verkaufen – das sind etwa 30 Prozent mehr als vor dem Fall der Hauptstadt. Ähnlich sieht es bei Speiseöl und Reis aus. Die Preise für Gemüse stiegen um 50 Prozent, die für Benzin sogar um 75 Prozent.

Auch Überweisungen aus dem Ausland sind nicht mehr möglich, da Geldtransferunternehmen wie Western Union geschlossen wurden. Immer mehr Menschen versuchen, Schmuck oder Teile ihres Haushalts zu verkaufen – auch wenn sie nur einen Bruchteil des Wertes dafür bekommen.

Vertreter der Taliban versichern, die Probleme würden sich lösen, sobald eine neue Regierung eingesetzt sei, die für Ordnung auf dem Markt sorge. Sie appellieren an andere Länder, die Wirtschaftsbeziehungen zu Afghanistan aufrechtzuerhalten. Doch die strukturellen Probleme des Landes reichen tief. Selbst als die Wirtschaft noch von ausländischem Geld angetrieben wurde, hielt ihr Wachstum nicht mit dem der Bevölkerung Schritt. Abgesehen von illegalen Drogen hat Afghanistan keine nennenswerten Exporte aufzuweisen. Und die internationale Hilfe, die mehr als 40 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachte, ist schlagartig verschwunden.

Zwar wurde bereits ein neuer Zentralbankchef ernannt. Doch Banker außerhalb Afghanistans halten es für schwierig, das Finanzsystem des Landes ohne die Spezialisten wieder in Gang zu bringen, die das Land auf der Flucht vor den Taliban verlassen haben. Zudem befinden sich rund neun Milliarden Dollar an Devisenreserven außerhalb Afghanistans und damit der Reichweite einer Taliban-Regierung, die noch nicht offiziell eingesetzt, geschweige denn international anerkannt ist. (Reuters)

EU-Minister beraten in Slowenien

Die Außen- und Verteidigungsminister der EU-Staaten beraten an diesem Donnerstag bei Treffen in Slowenien über den Umgang mit den Entwicklungen in Afghanistan. Thema der Beratungen der Außenminister wird unter anderem sein, wie mit den neuen Taliban-Machthabern umgegangen werden soll und wie nach dem internationalen Truppenabzug weiter Unterstützung für hilfsbedürftige Menschen geleistet werden kann. Für die Verteidigungsminister stellt sich unterdessen die Frage, welche militärischen Lehren aus den Entwicklungen zu ziehen sind. Weitere Themen der getrennt organisierten Gespräche dürften unter anderem die Versuche von Belarus sein, Migration als Waffe gegen die EU einzusetzen. Bei den Verteidigungsministern soll es zudem um den geplanten strategischen Kompass und die laufenden EU-Einsätze in Ländern wie Mali gehen. Für Luxemburg werden Verteidigungsminister François Bausch („déi gréng“) und Außenminister Jean Asselborn (LSAP) zu den Gesprächen erwartet. Sie finden in Slowenien statt, weil das Land derzeit den rotierenden EU-Ratsvorsitz innehat.