Frankreich mit der Türkei vergleichbar?

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(dpa)

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Die türkische Regierung hat bei der Verhängung des Ausnahmezustands quasi im Vorgriff auf Kritik aus dem Ausland auf den Fall Frankreich verwiesen.

Europäische Länder hätten bereits bei weniger gravierenden Anlässen als einem Putschversuch den Ausnahmezustand verhängt, sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf Kritik an seiner Entscheidung, den Ausnahmezustand in seinem Land zu verhängen. Wer dazu schweige, habe „definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren“.

Welche Erfahrungen hat Frankreich in den vergangenen Monaten mit dem état d’urgence gemacht?

Grundlage für den Ausnahmezustand in Frankreich ist ein Gesetz von 1955, das nach der Terrorserie von Paris im November 2015 teils geändert wurde. Der Versuch, den Ausnahmezustand in der Verfassung zu verankern, scheiterte im Frühjahr 2016: Die Regierung gab die Reform auf, nachdem es heftige Proteste gegen den Plan gegeben hatte, verurteilten Terroristen mit doppelter Staatsbürgerschaft den französischen Pass abzunehmen.

In Frankreich räumt der Ausnahmezustand den Sicherheitsbehörden Sonderrechte ein. Sie dürfen: Hausarreste ohne Richterbeschluss verhängen, Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss anordnen, Webseiten sperren, radikale Vereine oder Organisationen auflösen, Versammlungen verbieten, die Bewegungsfreiheit einschränken, besondere Zonen zu Schutzgebieten erklären, Veranstaltungsorte, Treffpunkte oder Kneipen schließen, auch legal erworbene Waffen einziehen.

Derzeit stehen 77 Menschen in Frankreich unter Hausarrest – seit Verhängung des Ausnahmezustands waren es zeitweise mehrere Hundert. Die Durchsuchungen wurden vor allem in den ersten Monaten nach den November-Anschlägen stark genutzt, dann ging die Zahl deutlich zurück. Bis zum 25. Mai wurden fast 3600 Durchsuchungen durchgeführt. Danach wurden sie zunächst ausgesetzt, sind jetzt aber wieder vorgesehen. Sie führten zu 600 Justizverfahren, die wenigsten davon aber im Zusammenhang mit Terrorismus. Vor allem Bürgerrechtsorganisationen zweifeln deshalb am Nutzen der Maßnahmen.

Welche Möglichkeiten gibt das Ausnahmerecht in der Türkei

Der Ausnahmezustand gilt zunächst für 90 Tage. Der Beschluss muss ans Parlament übermittelt werden, das seine Dauer verändern und auf Bitte des Kabinetts um je vier Monate verlängern kann.

Während des Ausnahmezustands kann die Regierung Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen; sie werden dem Parlament zur nachträglichen Zustimmung vorgelegt und sind auch vor dem Verfassungsgericht nicht anfechtbar. Die Presse kann zensiert, Grundrechte können ausgesetzt werden, doch bleibt das Recht auf Leben unverletzlich.

Auch im Ausnahmezustand gilt die Unschuldsvermutung: Niemand ist schuldig, bevor ein Gericht ihn nicht verurteilt hat. Niemand darf wegen seiner Religionszugehörigkeit oder Meinung bestraft werden. Allerdings hat die türkische Regierung bereits vor Verhängung des Ausnahmezustands mehr als 8500 angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung festgenommen und Zehntausende in Militär, Polizei, Justiz, Schulen und Hochschulen suspendiert. Vielen Akademikern wurde die Ausreise verboten, bevor die Sonderregelung in Kraft trat.