Bettel: „Wir müssen Antworten liefern“

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Kurz vor der Jahreswende sprach das Tageblatt mit Staatsminister Xavier Bettel. Die Themen reichten von Terrorismus, Europapolitik über soziale Fragen bis hin zur direkten Demokratie.

Tageblatt: 2001, nach den Anschlägen vom 11. September, sprach Ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker vom Ende der Spaßgesellschaft. Wie sehen Sie, nach dem jüngsten Anschlag von Berlin (und vielen weiteren in den vergangenen Jahren), die Lage heute?

Xavier Bettel: Ich habe so meine Schwierigkeiten zu verstehen, was damit („das Ende der Spaßgesellschaft“) gemeint war, denn es gab auch vor dem 11. September Attentate. Der Terrorismus ist also kein neues Phänomen. Was aber stimmt, ist, dass der Fanatismus heute keine Grenzen kennt. Unsere gesellschaftlichen Werte werden heute angegriffen, während der frühere Terror (etwa jener in den 70ern und 80ern) eher politischer Natur war.

Die aktuellen Terroristen verhöhnen dabei auch eine Religion; keine Religion verlangt, dass Menschen umgebracht werden. Es handelt sich um Fanatiker, um Verrückte („Mëller“), die – und das ist das Gefährliche – radikal sind. Alles Radikale, und es gibt viele Formen der Radikalität, muss bekämpft werden.

Ist Luxemburg bedroht?

Luxemburg ist keine Insel; es besteht allerdings keine direkte Gefahr, keine präzise Bedrohung. Dies bedeutet nicht, dass hier nichts geschehen kann, wir müssen uns die Mittel geben, alles Präventive zu unternehmen, was möglich ist.

Kommen wir zu Europa. Hat die Union noch eine Zukunft, wenn wir uns anschauen, wie sich der Populismus, der ja auch etwas mit Radikalismus zu tun hat, in verschiedenen Ländern entwickelt? Die deutsche europafeindliche AfD jubiliert zurzeit ja quasi über die Attentate, die ihr Wähler bescheren könnten.

Politischen Profit aus dem Unglück anderer Menschen ziehen, ist keine Politik. Populismus gehört nicht zu dem, was ich in meinem Spektrum als Politik sehe. Es ist auch immer gefährlich, wenn traditionelle Parteien versuchen, populistischen Bewegungen nachzueifern.

„Trump-Wähler sind keine Faschos“

Zwei Elemente gilt es hierbei zu betrachten. Nehmen wir das Beispiel Brexit. Viele behaupten, die Menschen, die für den Brexit gestimmt haben, seien „Faschos“ und hätten nichts verstanden … Fehler! Jene, die für Trump gestimmt haben, sind keine Faschos oder Extremisten.

Diese Menschen haben Fragen und Sorgen und die finden heute in der politischen Klasse keine Antworten. Und hier haben wir (die Politiker) die verdammte Mission, den Menschen Antworten zu liefern auf die Fragen, die sie haben. In Luxemburg zum Beispiel haben wir im Rahmen der Verfassungsreform versucht, mit den Menschen Modelle zu entwickeln.

Es reicht nicht – wie beim Referendum, bei dem ich ja meine Erfahrungen gemacht habe –, die Bürger mit Ja oder Nein antworten zu lassen … Man muss die Menschen in den demokratischen Prozess mit einbinden. Das haben wir gemacht.

Und man sollte den Menschen die Wahrheit sagen und ihnen die Dinge erklären. Populisten sagen z.B.: „Wenn Flüchtlinge kommen, so besteht das Risiko, dass Terroristen darunter sind.“ Der Terrorist von Berlin war dabei auch Terrorist in Syrien, er hat nie gelitten und war nie gefährdet, war nie ein richtiger Flüchtling.

Bedeutet dies nun, dass wir alle Asylbewerber verurteilen müssen, weil ein Terrorist unter ihnen sein könnte?

Einige der Syrien-Kämpfer stammen von hier

Außerdem darf nicht vergessen werden, dass einige der Verrückten, die in Syrien kämpfen, von hier sind, es sind auch einige Luxemburger darunter, das wissen wir ja. Dies bedeutet, dass präventiv gegen den Radikalismus zu arbeiten, wichtig ist.

Und Europa ist für mich eine Antwort. Die Union ist nicht das Problem, sondern Teil der Antwort. Wir vergessen oft, was Europa uns bringt und heben stattdessen hervor, was in Europa nicht funktioniert. Frontex z.B. funktioniert, mit der Türkei haben wir einen Flüchtlings-Deal gefunden, der einigermaßen klappt. Dies sagt niemand, ebenso wenig wird erwähnt, dass Europa seit 1957 ein Friedensprojekt ist, dass es den Euro gibt, dass wir problemlos in anderen Ländern studieren können, krank werden können, einkaufen, arbeiten usw.

Wir müssen uns daran erinnern, was Europa uns gebracht hat und nicht ausschließlich betonen, was nicht klappt.

Schön gesagt, die Realität ist aber die, dass immer mehr Menschen europakritisch sind, nicht wegen Europa an sich, sondern weil die Union als Sündenbock benutzt wird.

Ja, das ist auch meine Schuld. Wenn ich „meine“ sage, dann sind damit wir Politiker gemeint. Wie viele verteidigen heute noch Europa?

Wenn etwas in einem Land nicht klappt, dann verweisen die nationalen Politiker allzu oft auf Brüsseler Direktiven. Wer aber entscheidet diese? Ein Rat, zusammengesetzt aus nationalen Politikern. Europa sollte nicht für alles Mögliche schuldig gemacht werden. Es liegt somit eine Teilverantwortung bei uns selbst.

Die Fragen stellte Robert Schneider

Den vollständigen Wortlaut des Gesprächs in der Samstagsausgabe des Tageblatts