Interview mit Frank-Walter Steinmeier: Sagen, was Sache ist

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Frank-Walter Steinmeier wurde am Donnerstag von Jean-Claude Juncker und Jean Asselborn empfangen und sprach mit der LSAP-Fraktion. Der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister stellte sich dem Tageblatt zum Interview.

Sascha  Bremer, Jean Rhein

Tageblatt: Im Nachrichtenmagazin Spiegel stand zu lesen, dass die SPD in sozialpolitischer Hinsicht das Original ist. Wurde sie nicht wegen Hartz IV abgestraft und wird Hartz IV nicht zur sozialdemokratischen Erbsünde?
Frank-Walter Steinmeier: „Wir haben eine bittere Niederlage erlitten, das ist wahr. Aber sie lässt sich nicht durch ein Gesetzgebungsprojekt erklären. Wir haben uns in der Vergangenheit häufig als zu zerstritten dargestellt, wir hatten zu viele Wechsel in der Parteiführung. Richtig bleibt und ist, dass die SPD das Original ist und sich sicher auch selbstbewusst präsentieren wird in Fragen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Ich hielte es für den falschen Weg, den Leuten durch Populismus Steine statt Brot zu geben. Sondern wir müssen den Menschen sagen, was ist. Sagen, was geht. Und vor allem jetzt die Antworten auf die wichtigste Frage des nächsten Jahrzehnts entwickeln: Woher kommt die Arbeit von morgen?“

„T“: Auf den heutigen Tag ist die CDU-FDP-Regierung hundert Tage im Amt. Welche Bilanz ziehen Sie aus den ersten Monaten der Regierungsarbeit?
F.-W. S.: „Vor hundert Tagen haben wir drei Parteivorsitzende – den der CDU, den der CSU und den der FDP – erlebt, welche vor Kraft kaum laufen konnten. Und keiner von den dreien hätte sich vorstellen können, dass die Bilanz – nahezu völlig übereinstimmend in der deutschen Landschaft – katastrophal ausfällt.

Diese Koalition ist kein Regierungsbündnis, weil sie nicht vorbereitet war, zu regieren. Sie regiert zufällig. Von Tag zu Tag. Auf Grundlage eines Koalitionsvertrages, der kein Projekt enthält, außer schwammigen Beschreibungen von Steuersenkungen, und das in einer Zeit, in der kein Geld in den Kassen ist. In der im Gegenteil Deutschland auf den höchsten Schuldenstand der Nachkriegszeit zutreibt.
Ich werfe der Regierung nicht vor, dass wir in einer Wirtschaftskrise sind, und selbstverständlich weiß ich, dass eine Wirtschaftskrise auch Steuermindereinnahmen mit sich bringt. Ich werfe der Regierung allerdings vor, dass sie in einer solchen Situation die schraube auch noch andreht und mit überflüssigen, falschen und ungerechten Steuersenkungen eigene Wählergruppen bedient, ohne das gemeine Wohl im Auge zu behalten.“

„T“: Ich beziehe mich in meiner nächsten Fragen auf ein berühmt gewordenes Zitat. Sind deutsche Interessen noch am Hindukusch zu verteidigen?
F.-W. S.: „Ich bin froh darüber, dass wir in Deutschland eine offene und öffentliche Afghanistan-Debatte haben. Die Politik muss sich den Fragen der Bevölkerung nach dem Sinn und nach der Dauer des Einsatzes stellen.

Nach dem Anschlag vom 11.9.2001 hatten wir Angst in Europa, dass uns terroristische Attentate auch hier erreichen könnten. Tatsächlich haben sie uns erreicht, in Madrid und London. Es war richtig, mit anderen zu versuchen, dafür zu sorgen, dass Afghanistan nicht länger Ausbildungslager für islamistischen Terrorismus bleibt.

Wir sind auch vorangekommen beim zivilen Aufbau. Ganz ohne Zweifel ist die Sicherheitslage schlechter geworden.
Ich sage, wir sind nicht kopflos nach Afghanistan reingeraten, wir dürfen auch nicht kopflos hinaus. Wir müssen jetzt die Voraussetzungen definieren, unter denen der militärische Teil unseres Engagements auch beendet wird. Ich halte dies für machbar in einem zeitlichen Korridor bis 2015. Wenn wir Bereitschaft haben, das Notwendige zu tun für die Ausbildung und Ausstattung der afghanischen Sicherheitskräfte.“

„T“: Als ehemaliger Außenminister-Kollege und persönlicher Freund von Jean Asselborn beantworten Sie uns vielleicht noch folgende Frage. Wie gut tut es der europäischen Außenpolitik, wenn ein Außenminister wie Jean Asselborn sich nicht immer an den öffentlichen Konsens der Political Correctness hält?
F.-W. S.: „Wir schätzen uns nicht nur gegenseitig als Personen, sondern auch für unsere außenpolitische Kompetenzen, gerade die Dinge in Krisenregionen zu beurteilen. Und dazu ist das offene Wort ebenso notwendig wie das diplomatische Geschick, Konfliktparteien zusammenzuführen. Beides hat Jean Asselborn, und deshalb sehe ich nicht, dass die Grenzen von Political Correctness überschritten sind, sondern kluge Außenpolitik muss sich das ganze Spektrum von Möglichkeiten offen halten.“