Französische Poesie

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„Warum muss ein Kind, dessen Eltern aus Deutschland kommen und in Luxemburg arbeiten, sich mit französischer Poesie auskennen?“ Diese Frage warf vergangene Woche der Chef-Volkswirt der Luxemburger Handelskammer, Carlo Thelen, in einem Tageblatt-Gespräch auf. / Tom Wenandy

Thelen plädierte in diesem Kontext dafür, das Luxemburger Schulsystem in vorrangig deutsch- und vorrangig französischsprachige Klassen aufzuteilen. Man müsse der heterogenen Bevölkerung im Lande Rechnung tragen. Zudem forderte er – „um sicherzustellen, dass in den Schulen auch das gelehrt wird, was die Wirtschaft benötigt“ –, Vertreter aus der Privatwirtschaft in die verschiedenen Gremien zu entsenden, die über Schulprogramme entscheiden.
Zu diesen Worten einige Überlegungen: Carlo Thelen hat mit seinen Aussagen selbstverständlich nur seine Arbeit als Chef-Volkswirt der Handelskammer getan und im Sinne seines Arbeitgebers, einer Interessenvertretung der Wirtschaft, argumentiert. Dies kann man nicht bestreiten, bis zu einem gewissen Grad vielleicht sogar nachvollziehen. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grad.
Denn Thelen überlegt so, wie man es von einem klassischen, auf Gewinnmaximierung in den Unternehmen gepolten Wirtschaftswissenschaftler erwartet: Er stellt die Wirtschaft in den Mittelpunkt allen Handelns, die Wirtschaft ist für ihn der alleinige Motor der Gesellschaft. Dabei vergisst er – bewusst oder unbewusst –, dass das eigentliche Verdienst in Bezug auf den in der Wirtschaft geschaffenen Mehrwert dem Arbeitnehmer zukommt.

Kinder oder Wirtschaft?

Um nicht missverstanden zu werden: Sicherlich sollte die Schule nicht isoliert vom Rest der Gesellschaft und damit auch von der Wirtschaft unterrichten. Die Schule sollte, soweit sie dies vermag, den sozialen und für den Arbeitsmarkt relevanten Anforderungen und Veränderungen Rechnung tragen. Das Wesentliche sollte man dabei aber nicht aus den Augen verlieren.
Sowohl die Politiker als auch die Bürger müssen sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen: Welches Schulsystem wollen wir? Wer soll im Mittelpunkt der Schule und des Unterrichts stehen? Sollen es die Schüler mit ihren individuellen Bedürfnissen oder Kompetenzen sein oder eher die in den allermeisten Fällen lediglich an „humanen Ressourcen“ interessierte Wirtschaft? Diese Frage kann und darf nur eine Antwort kennen. Und genau diese Antwort wurde von der Regierung in Form der Schulreform gegeben. Nicht die Eltern, nicht die Lehrer oder Politiker und schon gar nicht die Wirtschaft – nein, das Kind soll im Mittelpunkt aller bildungspolitischen und erzieherischen Anstrengungen stehen. Denn die Schule hat die Aufgabe, die Schüler auf das Leben vorzubereiten, nicht auf die Wirtschaft. Und genau aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Kinder ein möglichst großes Allgemeinwissen erlangen. Gleichzeitig sollen aus den Schülern kritisch denkende, selbstbewusste und eigenständige Personen werden mit soliden transversalen, also fächerübergreifenden Kompetenzen (persönliche Fähigkeiten, Werte und Ethik). Dieses Ziel erreicht man nur, indem Schülern – immer im Rahmen der jeweiligen persönlichen Möglichkeiten und Ziele versteht sich – ein möglichst breites Bildungsangebot unterbreitet wird. Zu diesem zählen in gleichem Maße eine natur- sowie eine humanwissenschaftliche Ausbildung. Gleichzeitig sollte die Mehrsprachigkeit mehr als Chance denn als überflüssige Qual verstanden werden. Konsequenterweise sollte eine Spezialisierung so spät wie möglich erfolgen.
Nur auf diese Weise erlangt ein Kind die erforderlichen menschlichen und auch intellektuellen Grundlagen, um in einer sich konstant verändernden Welt zu bestehen. Gleichzeitig wird es unabhängiger von einer Wirtschaft, die zu großen Teilen (und wenn überhaupt) nur eine Beschäftigungsgarantie für wenige Jahre bieten kann, ansonsten aber frei nach dem Prinzip des „fire and hire“ agiert.
Womit wohl auch die Frage beantwortet wäre, warum ein Kind jeden Ursprungs sich bis zu einem gewissen Punkt mit französischer Poesie auskennen sollte.

twenandy@tageblatt.lu