V wie Verschiebung

V wie Verschiebung

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Bis hierhin war zu verschieben die Darstellung der eigenen Beobachtung des Verfassers über manche einschlägige Phänomene. Die merkwürdigsten Beispiele lieferte die Königlich-Preußische Steinkohlenzeche Wellesweiler, die Grube im Bergamtsbezirk Saarbrücken. Sie bildet einen Teil der großen, im Saarbrückenschen sehr verbreiteten Steinkohlenniederlage der eigentlich so genannten Steinkohlenformation. Diese Flözpartie macht im Felde der genannten Grube einen flachen Hauptsattel mit vielen wellenförmigen, schwächeren Biegungen, welche aber außerdem durch viele durchsetzende Rücken und Verschiebungen so sehr zerstückt ist, dass die genaue Ausmittelung der Flöz-Verhältnisse sehr schwierig ist.

Dieter Heimböckel ist Professor für Literatur und Interkulturalität an der Uni Luxemburg. Seine Beiträge erscheinen im Tageblatt (samstags) und an dieser Stelle im Zwei-Wochen-Takt.

Die Kolumne trägt den Namen Flöz und lädt zu einer Suchbewegung durch das ABC gedanklicher Rohstoffe ein. Was dabei genau herauskommt, liegt wie im Flöz allerdings noch im Verborgenen.

Es sind bis dreißig Meter mächtige Kohlenflöze bekannt, doch treten die bedeutenderen Mächtigkeiten mehr bei lager- oder stockförmigen Einlagerungen als bei eigentlichen Flözen auf. Häufig stören Verwerfungen die ursprüngliche Lage und unterbrechen den Zusammenhang der Flöze. Solche Faltungen, Knickungen, Überkippungen und Verschiebungen der Flöze bereiten dem Abbau oft enorme Schwierigkeiten. Nichts aber ist für eine Gesellschaft von größerer Wichtigkeit als die Klassifikation ihrer Sprachen. Diese Klassifikation ändern, das Sprechen verschieben heißt, eine Revolution durchzuführen.

Da die gewöhnlichen Flöze der Horizontallage sich nähern, so finden sich doch andere mehr oder weniger geneigt, wie auch wohl stark abhängig dem Vertikalen sich nähernd und endlich sogar überhängig. Hier glaubt man nun annehmen zu müssen, dass diese Flöze erst in horizontaler Lage entstanden, nachher aber durch ein von innen bewirktes Aufheben des Berges in diese widernatürliche Lage gekommen sind. Durch geologische Sprünge und Verschiebungen hört ein Flöz plötzlich auf und findet sich dann zum Beispiel viele Meter tiefer wieder. Der Erfolg dieser Verschiebung ist, dass der Trauminhalt dem Kern der Traumgedanken nicht mehr gleichsieht, dass der Traum nur eine Entstellung des Traumwunsches im Unbewussten wiedergibt. Die Traumentstellung aber ist uns bereits bekannt; wir haben sie auf die Zensur zurückgeführt, welche die eine psychische Instanz im Gedankenleben gegen eine andere ausübt. Die Traumverschiebung ist eines der Hauptmittel zur Erzielung dieser Entstellung.

Die größte Verschiebung, die man im Ruhrgebiet kennt und die auch über Tage sichtbar ist, ist die Sutan-Überschiebung in Essen-Heisingen am Baldeneysee. Der Name leitet sich von der in der Nähe verlaufenden Sutans-Verschiebung ab, einer geologischen Störung, die an dieser Stelle noch heute gut sichtbar ist. Das Gestein verhielt sich im Störungsbereich so brüchig, dass dem Bergmann das Schimpfwort „Satan“ auf der Zunge lag. Aber um das Unglück nicht herbeizurufen, wurde aus „Satan“ „Sutan“. In dieser Verschiebung verschwimmen die Grenzen zwischen Heim und Welt; und auf mysteriöse Weise werden Privates und Öffentliches jeweils zum Teil des anderen, und sie nötigen uns zu einer Sichtweise, die ebenso gespalten wie desorientierend ist. So verschieben sich die Bereiche des Sinnlosen und des Unsichtbaren jenseits davon, in ihrer doppelten Wirkung: einerseits eine Herausforderung (hier erprobt die eigene Sprache ihre Biegsamkeit, hier werden die alten und bekannten Wörter, Sätze und Bilder schillernd und geheimnisvoll), andererseits etwas, das man niederzwingen und zu verleugnen hat; was der Blick sucht und was er verfehlen und über was er, verfangen in ein Netz von Begriffen, hinweggehen muss.

In Wellesweiler sind noch bedeutende Kohlengruben. Man baut auf sechs schalenförmig übereinanderliegenden Flözen, jedes von vier bis sechs Fuß Mächtigkeit. Sie zeigen ungefähr dieselbe Wölbung wie die Außenfläche des Berges und erleiden bedeutende Verschiebungen. Im Schiefertone dieses Werkes hat man einen an zehn Fuß hohen aufrecht stehenden Baumstamm gefunden, der noch an Ort und Stelle zu sehen ist.

(Verschoben wurden Texte von Roland Barthes, Homi K. Bhabha, Sigmund Freud, Johann Wolfgang Goethe, Peter Merian, Jakob Nöggerath, Karlheinz Rabas, Thomas Stangl, Michael Tiedt sowie aus Geocaching und Meyers Konversationslexikon.)