Real-Poetik im Schlafzimmer

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Na dann: Gute Nacht, ihr Völker Europas. Ein Blick auf Guy Helmingers Stück über die europäische Idee.

In Guy Helmingers neuestem Stück verzahnen sich das Intime und das Kollektive in einer Fiktion zwischen Slapstick und Essay, die den Engpass und die Beschuldigungen, die der europäischen Idee mittlerweile anhaften, auf eine trialektische Art und Weise durchdiskutieren. Dank grandioser One-Liners, herrlich beklopptem Schauspiel und subtilen Doppelallegorien bietet das Stück sowohl treffende Denkanstöße zum Thema Europa als auch eine humorvolle Fiktion über Beziehungen.

Spielplan

Das Stück läuft noch bis Dienstag im Kasemattentheater.

EU-Präsident René Thill muss eigentlich nur noch seine Rücktrittsrede halten, bevor er seine Karriere bei Goldman Sachs fortsetzen kann. Nur hatte René Thill am Vortag ein oder siebzehn Gläschen zu viel. Das wäre ja eigentlich gar nicht mal so schlimm, schließlich passiert dies ja auch dem aktuellen Kommissionspräsidenten. Und einen Kater vertilgen, das schafft doch eigentlich jeder. Viel beunruhigender ist allerdings die Tatsache, dass René Thill eine Rede geschrieben hat, die das Ende der EU bedeuten könnte.

Drei Stunden, um die EU zu retten

Nun ist es an Patrick Lemmer (Roland Bonjour) – der in verschiedenen Kreisen auch als Mozart der Redenschreiber bezeichnet wird –, die Sache wieder geradezubiegen und Thills Rede diskret zu entschärfen. Zur Seite stehen ihm dabei die fesche Sekretärin Ana Santos (grandios: Fabienne Hollwege) und die EU-Kommissarin Wiltraud Rüttenberger (Désirée Nosbusch), die den (auch libidinös) devoten Lemmer ganz schön herumkommandieren. Es bleiben ihnen drei Stunden, um die EU zu retten.

In Helmingers Text lässt sich eigentlich fast jedes persönliche Element politisch lesen – und jedes politische Element bietet im Gegenzug wiederum Material, um eine Parabel des Zusammenlebens auf der intimen Ebene zu verdichten.

Devoter S&M-Hund

So sind private Beziehungsprobleme immer schon Metaphern für das unlösbare europäische Problem – sogar der Kater kann für die im Rausch gefassten, kollektiven politischen Fehlentscheidungen stehen. Diese Doppelallegorie, in der die Semiotik des Verweises fast ad absurdum geführt wird (im Sinne von: X steht für Y, aber Y steht wiederum für X), funktioniert aus drei Gründen besonders gut.

Erstens ist sie im Entstehungsmythos Europas – womit Marc Limpach subtil den mythologisch-politischen Faden dieser Saison weiterführt – eingeschrieben: Wir erinnern uns an die Entführung der schönen Europa durch einen als Stier getarnten Zeus. Auch wenn hier, Slapstick oblige, der Mann eher devoter S&M-Hund als testosterongeladener Stiergott ist.

Aporie, mehr oder weniger

Zweitens wird das Spiel mit der Doppelallegorie auch auf der Bühne ausgelebt: Wenn zum Beispiel Wiltraud Rüttenberger meint, mit René Thill verliere „Europa einen Liebhaber und ich einen Präsidenten“. Machtspiele im Schlafzimmer und Machtspiele auf der politischen Bühne verzahnen sich zu einer (real-)poetischen Verdichtung, in der das Wechselspiel der Themen auf universalmenschliche Schwächen hinweist. Und drittens funktioniert sie dank der Slapstickeinlagen – ja, Politik ist eine Farce, und die Inszenierung zieht dies radikal durch.

„Wenn ihr Europa von hinten nach vorne lest, was kommt dann dabei heraus?“, fragt eine der Figuren in einem dieser Momente, in denen das Stück die vierte Wand zu durchbrechen scheint. Aporie, mehr oder weniger. Helmingers neuer Text ist durch und durch politisch – glücklicherweise ist er aber mehr als nur das und riskiert so zu (fast) keinem Zeitpunkt, zu einem bloßen fiktionalen Begleitstück seines polemischen Essays über die EU zu werden (nachzulesen in der ersten Ausgabe der neu aufgelegten „cahiers luxembourgeois“, die man nach der Vorstellung ergattern kann).

Bewusst überspitzt

Vielmehr reiht sich das zweite Guy-Helminger-Stück dieser Saison in eine theatralische Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Gegebenheiten ein: Hatte Helminger mit „Performance“ eine bittere Abrechnung mit dem luxemburgischen Wohlstand vollzogen, erweitert er hier seinen Cocktail aus Fiktion und Theorie, um sich mit der EU auseinanderzusetzen. Neben der formalen Gemeinsamkeit wird hier auch ein ähnliches Thema aufgeworfen – um es kurz auszudrücken: die Beschissenheit des Markts.

Weil der freie Markt maßgeblich an der Verunstaltung des europäischen Traums schuld ist, und die EU immer mehr droht, zu einem puren Freihandelsabkommen zu werden. Die verschiedenen Positionen gegenüber der EU werden im Stück von den drei Figuren teils bewusst überspitzt, teils aber auch subtil verwoben. Dabei sind die drei Schauspieler allesamt so hervorragend, dass ihre Figuren genügend Tiefe haben, um nicht bloß als Ideenbehälter zu fungieren. Anderswo eignen sie sich das Karikaturenhafte aber durchaus an.

Die Metapher der Werkstatt

Hier trumpft Helminger dann auch mit starken Bildern. Die Metapher der Werkstatt vergleicht das Verhältnis des Bürgers zu Europa mit dem des Autobesitzers zu seinem Wagen: Man weiß meistens ja auch nicht, was genau falsch läuft und wie das Auto funktioniert, aber man vertraut halt den Mechanikern. Dies entspricht genau dem, was man Arbeitsteilung nennt: Man vertraut darauf, dass andere wissen, was sie tun, um sich selbst der Verantwortungsschleife zu entziehen.

Vielleicht ist die eine oder andere Slapstick-Einlage zu viel des Guten, vielleicht werden irgendwo offene theoretische Türen eingerannt und vielleicht gibt es auch den einen selbstgefälligen Einzeiler, durch die Bank aber ist Guy Helmingers neues Stück vor allem fantastisch geschrieben, außergewöhnlich gut gespielt, clever inszeniert und bietet im aktuellen politischen Kontext mehr als genügend Denkanstöße.