„Ich fühle mich denen zugehörig, die nicht dazugehören“

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Ob als Hans Esser bei der Bild, als Gastarbeiter Ali oder beim Backen von Aufbackbrötchen für Lidl – seit Jahrzehnten deckt der deutsche Journalist und Schriftsteller Günter Wallraff Ausbeutungs- verhältnisse auf, bringt Lügen ans Licht und kämpft für soziale Gerechtigkeit. Anlässlich des „Bicherdag“ in Esch sprach er mit dem Tageblatt über seine Pläne, über sich...

Tageblatt: Sie werden in ein paar Tagen 66 Jahre alt. Andere Leute denken da an Rente. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Günter Wallraff: „Ich bin im ständigen Unruhestand, wie man so schön sagt. Gerade jetzt, wo ich wieder bei Kräften bin. Ich hatte Knochenprobleme, musste nach einer Operation neu laufen lernen. Jetzt, wo ich sogar wieder Marathon laufe – 4h12 ist zwar verbesserungsfähig, dennoch ganz passabel –, habe ich noch einiges vor. Ich bräuchte noch drei Leben, um all das zu bewerkstelligen, was ich mir vorgenommen habe.“
„T“: Wie sehen Ihre Pläne konkret aus?
G. W.: „Von meinen Anfängen bis heute ist eine Kontinuität zu erkennen. Ich dringe nach wie vor in Arbeitsverhältnisse ein, wo soziale Rechte außer Kraft gesetzt werden. Zurzeit nimmt das überall zu. Da braucht es mich, da kann ich mich nützlich machen. Ich decke Ausbeutungsverhältnisse in allen möglichen Bereichen der Gesellschaft auf. Doch meine Geschichten bleiben nicht bei den Arbeitern, sondern gehen bis in die Managerebenen hinein.“
„T“: Heißt das, Sie wechseln aus der Industrie auch in die Finanzwelt?
G. W.: „Nein, selbst schaffe ich das nicht. Ich komme da altersbedingt nicht rein. Doch mittlerweile gibt es Menschen, die sich mir anvertrauen, das gab es früher nicht. Heute kommen Führungskräfte, die auf der Strecke geblieben sind, zu mir. Von ihnen erfahre ich Zustände, an die man sonst nur oberflächlich herankommt. Das nutze ich natürlich, auch wenn ich meine Quellen anonymisiere.“
„T“: Werden Sie Ihre Geschichten, die Sie regelmäßig in der Zeit veröffentlichen, auch als Buch herausbringen?
G. W.: „Ja, ich erweitere sie und bin dafür gerade viel unterwegs. Im nächsten Herbst werden die Reportagen unter dem voraussichtlichen Titel ‚Aus der schönen neuen Arbeitswelt‘ erscheinen.“
„T“: Viel hat sich bei der Bild nicht verändert, seit Sie sich vor drei Jahrzehnten als Undercoveragent in die Redaktion eingeschlichen hatten und Sie die Bild in Ihrem Buch „Der Aufmacher“ als Hetz- und Lügenblatt entlarvt haben. Woher nehmen Sie immer wieder neue Motivation weiterzumachen?
G.W.: „Ich finde schon, dass sich etwas verändert hat. Konkret bei der Bild gibt es inzwischen mehr, die sich bei Extremfällen, Fälschungen oder auch Verzerrungen aufregen.“
„T“: Der Bildblog zum Beispiel.
G.W. „Ja, die Bildblog-Leute sind auch ein Resultat. Ich habe sie inspiriert und mit ihnen zusammengearbeitet. Ich werde demnächst über die neuen Methoden der Bild schreiben. Sie haben jetzt so etwas wie eine Pseudo-Blattkritik eingerichtet, bei der vor allem Politiker im Internet eher Werbung für das Blatt machen als Kritik zu üben, da sie sich an die Texte nicht herantrauen. Unter dem jetzigen Chefredakteur ist die Bild wieder ein regelrechtes Kampfblatt geworden, gerade zu Wahlzeiten. Dennoch ist die Auflage mittlerweile wenigstens unter die vier Millionen gerutscht und geht weiter zurück. Das lässt hoffen.“
„T“: Na ja, bei anderen Zeitungen bröckeln die Auflagen ja auch.
G.W.: „Da haben Sie wohl recht.“
„T“: Warum machen Sie, was Sie machen? Was treibt Sie an?
G.W.: „Es kommt vieles zusammen. Meine Arbeit hat viel mit Selbstfindung, mit Realitätssuche zu tun. Vor allem sehe ich mich aber als Beschleunigerteilchen. Ich möchte etwas bewirken, Menschen zu ihrem Recht verhelfen, von Fall zu Fall schlimmstes Unrecht aufdecken und abstellen. Aber von Zeit zu Zeit spielt natürlich auch Abenteuerlust und Neugierde mit.“
„T“: Für diese Art von Arbeit bedarf es besonderer Eigenschaften. Als was für einen Menschen würden Sie sich selbst beschreiben?
G.W.: „Ich war in meiner Jugend kontaktscheu, introvertiert, schüchtern und hab mir erst durch meine Arbeit eine soziale Zugehörigkeit erarbeitet. Ich war Einzelgänger, und auch heute würde ich sagen, dass ich mich eher denen zugehörig fühle, die nicht dazugehören. Ich bin mein eigener Maskenbildner. Ich setzte mir ständig neue Masken auf, um mich zu suchen. Durch dieses Spiel der Selbstfindung über andere habe ich Selbstbewusstsein gewonnen.“
„T“: Welche Ihrer Geschichten liegt Ihnen besonders am Herzen?
G.W.: „Ich habe fünf Tochter, es wäre das Gleiche, wenn Sie mich jetzt fragen würden ‚welche Tochter ist Ihnen die liebste?‘. Dennoch, die Griechenland-Aktion war wohl meine prägendste und risikoreichste.“

Angst?

„T“: Kriegen Sie es nicht auch manchmal mit der Angst zu tun? Gerade in Situationen, in denen richtig etwas schiefgehen kann, wie in der von Ihnen angesprochenen Widerstandsaktion gegen den Terror unter der Militärdiktatur in Griechenland?
G.W: „Es kann alles schief gehen. Ich kann jeden Tag von einem Auto überfahren werden. Das ist eine Frage der Abwägung. Wenn ich sehe, was ich mit meiner Arbeit so alles erreiche und welchem Unrecht ich weltweit auf den Grund gehen und es bekannt machen kann, da verliere ich die Angst.“
„T“: Was hat sich verändert, von den Anfängen Ihrer Arbeit bis heute?
G.W.: „In letzter Zeit passiert etwas ganz Merkwürdiges. Das mit dem Feindbild funktioniert nicht mehr. Früher stand ich immer mit dem Rücken zur Wand. Ich war der, der unverschämte, ja kriminelle Methoden anwendete. Heute sehen mich die Leute so nicht mehr. Sie haben wohl erkannt, dass man in gewissen Bereichen nur mit meinen Mitteln Wahrheit erforschen kann. Sie haben verstanden, dass ich meine Geschichten nicht um der Sensation willen veröffentliche. Die Sympathie geht sogar so weit, dass mir das Bundesverdienstkreuz angeboten wurde. Das habe ich aber abgelehnt. Mir stehen keine Orden.“
„T“: Stört Sie diese Popularität? Sie werden ja gerne als Störenfried in Talkshows herumgereicht.
G.W.: „Nein, wenn ich in solchen Sendungen etwas herüberbringen, Sachen sichtbar machen kann, dann übernehme ich diese Rolle gerne. Ich suche ja auch aus, welche Einladung ich annehme. Ich suche mir ein Gegenüber, einen Gegner, bei dem ich etwas hervorlocken kann. Das ist meine Stärke. Ich bin ein guter Schachspieler. Ich kann den Zug des Gegners erahnen, ich schaffe es manchmal, mein Gegenüber kenntlich zu machen, und, wenn es denn sein muss, auch zu entblöden.“
„T“: Was sagen Sie zum Parteienchaos in Deutschland? Wie stehen Sie zur Neuen Linken?
G.W. „Ich habe nie einer Partei angehört. Ich bin Wechselwähler. Doch habe ich immer gesagt, wir brauchen eine unabhängige sozialistische Partei in Deutschland. Und so lange die Linke um die 10/15 Prozent haben, haben sie verdammt noch mal eine Berechtigung. Sie sind für eine Demokratie äußerst wichtig, weil sich die etablierten Parteien so ähnlich sind, dass es zwischen ihnen kaum noch eine Unterscheidbarkeit gibt. Da kann die Linke stören. Sie können auch die SPD anspornen, dass es in ihr vielleicht doch noch eine Erneuerung zu ihren sozialen Wurzeln gibt. Auch wenn es im Moment nicht danach aussieht, im Gegenteil. Alles, was an Sozialprogrammen vertan und an Fehlern gemacht wurde, wird jetzt, nach dem Abgang von Beck, noch stärker zementiert.“
„T“: Sind Sie nicht mit Oscar Lafontaine befreundet?
G.W.: „Ich kenne ihn aus frühen Zeiten, als er noch Oberbürgermeister in Saarbrücken war. Er war sehr engagiert. Ich habe ihn gemocht, weil er wirklich glaubwürdig war und auch sozial einiges auf die Beine gestellt hat. Zum Beispiel hat er Strafgefangene resozialisiert, indem er sie bei sich wohnen ließ. Und er machte Veranstaltungen gegen die Bild. Jetzt ist mir einiges zu simpel, obwohl er in der jetzigen Bankenkrise vieles schon sehr früh erkannt und thematisiert hat. Er hat sehr früh gefordert, dass man den Banken mit ihren wahnsinnigen Spekulationsmethoden einen Riegel vorschieben müsse. Dennoch ist mir in der Linken zu viel DDR-Nostalgie, vor allem im Osten.“
„T“: Was wird aus Ihrer Idee, in einer Moschee aus Salman Rushdies Werken zu lesen?
G.W. „Zunächst einmal wurde der Vorschlag abgelehnt. Mir wurde vorgehalten, das wäre dasselbe, als wenn ich einen ökumenischen Schwulengottesdienst im Kölner Dom oder im Vatikan verlangen würde, was ich auch für längst überfällig halte, in einer Männergesellschaft, in der sich homosexuelle Priester ständig verleugnen müssen. Ich würde das machen und auch die heimlichen Geliebten und Lebensgefährtinnen der Priester, so wie ihre Kinder, die ohne Vaterbild aufwachsen, mit einladen. Es gibt Untersuchungen, dass jeder zweite katholische Priester in solch heimlichen Verhältnissen lebt, was ja auch folgerichtig ist. Denn es sind alles Menschen, die ihren Naturtrieb nicht einfach ausknipsen können.“
„T“: Also ökumenischer Schwulengottesdienst statt Rushdie-Lesung?
G.W.: „Die Lesung aus den ‚Satanischen Versen‘ Rushdies in einer Moschee wird wohl im Spätherbst in einer kleinen Gemeinde nun doch klappen. Die Gemeinde hat zugesagt, nur haben sie nun plötzlich wieder Sicherheitsbedenken. Sie hätten die Lesung am liebsten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die sind lustig. Dann bringt so eine Lesung ja nichts. Deshalb muss ich wohl noch Überzeugungsarbeit leisten. Aber ich bin zuversichtlich. Ich könnte mit dieser Lesung wirklich ein Tabu brechen und in islamischen Ländern, wo seine Bücher bisher verboten sind, Nachdenklichkeit erzeugen.“