Eine Frage der PerspektiveZwei Experten diskutieren die juristischen Hintergründe des Bettelverbots

Eine Frage der Perspektive / Zwei Experten diskutieren die juristischen Hintergründe des Bettelverbots
Auch die neue luxemburgische Verfassung spielt eine zentrale Rolle in den juristischen Fragen rund um das Bettelverbot Foto: Chambre des députés

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Von der Gemeindeverordnung der Stadt Luxemburg über das luxemburgische Strafgesetzbuch und die neue Verfassung bis zur europäischen Menschenrechtskonvention: In der Debatte um das Bettelverbot kommen verschiedene Rechtsnormen zum Tragen. An der Universität Luxemburg haben zwei Experten über juristische Interpretationen und Perspektiven debattiert – ein Überblick über die wichtigsten Streitfragen.

Ist Artikel 563 Punkt 6 aufgehoben?

Eine der zentralen juristischen Streitfragen in der Debatte um das Bettelverbot dreht sich um Artikel 563 des luxemburgischen Strafgesetzbuches („Code pénal“), genauer: um die Frage, ob Punkt 6 dieses Artikels aufgehoben ist, in dem Landstreicher und Bettler als Straftäter festgeschrieben werden, die mit einer Geldstrafe von 25 bis 250 Euro belegt werden können.

Gutachter für Gloden: Hicham Rassafi-Guibal
Gutachter für Gloden: Hicham Rassafi-Guibal Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Hicham Rassafi-Guibal bezieht eine klare Position: Punkt 6, und somit die Straftat des Bettelns, ist nicht aufgehoben. Seine Argumentation geht wie folgt: Artikel 563 des Strafgesetzbuches enthält einen einleitenden Satz (die Höhe der Geldstrafe) und eine Liste mit Straftatbeständen. Der strittige Punkt 6 besteht aus zwei Sätzen. „Landstreicher und diejenigen, die als Bettler aufgefunden wurden“ und „Die Regierung kann sie an die Grenze abschieben lassen, wenn sie Ausländer sind“. Die juristische Unklarheit entsteht nun durch Artikel 157 Absatz 2, ein Gesetz über die Freizügigkeit von Personen und Einwanderung, das 2008 erlassen wurde. Dort heißt es über Artikel 563, „der Punkt 6 des zweiten Absatzes wird gestrichen“. Rassafi-Guibal erläutert, dass es der Logik der luxemburgischen Rechtsförmlichkeit nach in Artikel 563 jedoch gar keinen zweiten Absatz gebe. Artikel 157 Absatz 2 ist seiner Meinung nach „ein Gesetz, das etwas aufhebt, das nicht existiert“. Es habe also keine normative Wirkung.

Für Rassafi-Guibal gibt es zwei zulässige Interpretationen, um diese juristische Unklarheit aufzulösen. Erstens: Das Gesetz von 2008, Artikel 157 Absatz 2, ist gänzlich ohne Effekt. Der Straftatbestand der Bettelei bleibt bestehen. Zweitens: Artikel 157 Absatz 2 hat in Realität den zweiten Satz in Artikel 563 Punkt 6 gestrichen – und nicht Punkt 6 von Absatz 2, wie es im Text heißt. Diese letztere Interpretation stützt sich auf die Suche nach der Intention des Gesetzgebers. Im Exposé der Motive im Text zum Gesetzesprojekt lässt sich laut Rassafi-Guibal nachlesen, dass man den Passus über die Abschiebung zur Grenze streichen wolle. Der zweite Satz von Punkt 6. Der erste Satz von Punkt 6 und die Straftat der Bettelei sei demnach nicht aufgehoben.

Zur Person

Hicham Rassafi-Guibal ist Doktor des öffentlichen Rechts und in Frankreich als „Maître de conférences des Universités“ qualifiziert. Seit 2017 gehört er der Kanzlei Thewes & Reuter an, die im Auftrag von Innenminister Léon Gloden zwei juristische Gutachten zum Bettelverbot erstellt hat. Zuvor war Rassafi-Guibal als Forscher an der Universität Luxemburg tätig.


Der Text von Artikel 563 Punkt 6 existiere noch, sagt Luc Heuschling, das stehe außer Frage. „Aber ist er noch eine Norm?“ Wenn der Text im Strafgesetzbuch noch gültig wäre, so der Jurist, würde er die Bettelei auf einem nationalen Niveau verbieten. „Ich kann dann vom Innenminister verlangen, dass er auch in Esch die Polizei dazu aufruft, die Bettler zu räumen.“ Wenn er dem nicht nachkomme, wenn er das nur in der Stadt Luxemburg zulassen würde, aber nirgendwo sonst, so Heuschling weiter, dann stünde das im Widerspruch zum Strafgesetzbuch. In anderen Worten: „Wenn der Innenminister in seiner juristischen Interpretation recht hat (Anm. d. Red.: und Artikel 563 Punkt 6 nicht aufgehoben ist), dann ist die Gemeindeverordnung der Stadt Luxemburg illegal.“ Das Strafgesetzbuch verbietet die Bettelei auf nationalem Niveau, die Verordnung der Stadt Luxemburg verbietet die Bettelei jedoch nur in der Oberstadt. In Belair ist sie erlaubt. „Sehen Sie die Absurdität?“, fragt Heuschling.

Der Verfassungsrechtler geht noch einen Schritt weiter: Wenn Artikel 563 noch gültig ist, handelt es sich dabei um ein totales Verbot von Bettelei. Es finde sich aber in jedem Fall mindestens ein Menschenrecht in der Verfassung Luxemburgs, das die Bettelei schützt, so Heuschling. Ein totales Verbot stehe also im Widerspruch zur neuen Verfassung. Die neue Verfassung wiederum habe alle Gesetze und Verordnungen aufgehoben, die widersprüchlich sind. Heuschlings Konklusion: „Mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung am 1. Juli 2023 sind die Worte von Artikel 563 Strafgesetzbuch immer noch da, aber dahinter steckt nichts mehr, es ist eine implizite Aufhebung.“


Rassafi-Guibal möchte Heuschling in einem Punkt korrigieren: Die neue Verfassung habe die widersprüchlichen Gesetze und Verordnungen nicht aufgehoben, sondern sie seien nicht mehr anwendbar. Im juristischen Sinne ist das ein Unterschied. Aufgehoben würde bedeuten, so Rassafi-Guibal, dass die Norm nicht mehr existiert. Nicht mehr anwendbar wiederum, dass die Norm noch existiert, sie aber keinen Effekt mehr produzieren kann.


Was ist Bettelei und gibt es ein Recht darauf?

Über den Umgang mit organisierter Bettelei und Banden herrscht politisch wie juristisch Einigkeit. Sie ist im Strafgesetzbuch verboten. Streitfrage ist die sogenannte einfache Bettelei.

Verfassungsexperte: Luc Heuschling
Verfassungsexperte: Luc Heuschling Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Heuschling möchte zunächst klären, was überhaupt hinter dem Begriff des Bettlers steckt, um dann die unterschiedlichen juristischen Normen zu betrachten, die angewendet werden können. Er imaginiert eine einzelne Person, sitzend oder stehend, an einem öffentlichen Ort. Diese Person gibt zu verstehen, dass sie etwas möchte. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen: in Stille (mit einem Becher), etwas aktiver nach Geld fragend oder auf aggressive Weise fordernd oder drohend. Diese Person kann außerdem den öffentlichen Ort verschmutzen, kann verbal oder physisch aggressiv sein, einen aggressiven Hund haben oder unter Drogeneinfluss stehen. Im Kern der Debatte, so Heuschling, stehe aber eine friedliche Form des Bettelns – in Stille oder mit einer höflichen Frage. Andere aufgeführte Formen der Bettelei seien im Strafgesetzbuch bereits verboten.

Zusätzlich sei ein kurzer Blick in die Geschichte wichtig, um die aktuelle Koexistenz und das Zusammenspiel von Verfassungsrecht, den Menschenrechten, auf der einen Seite, und dem Strafrecht zu verstehen. Während Bettelei bis zum Mittelalter vor allem unter religiösen Gesichtspunkten betrachtet wurde, komme es mit dem Zeitalter der Aufklärung zu radikalen nationalen Verboten im Strafgesetz: in der Schweiz, in Frankreich, Luxemburg, Deutschland, Österreich, Italien. „Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der radikalen und systematischen Verbote“, sagt Heuschling. Was passiert auf der Ebene der Verfassungen? „Die Bettler sind zu dieser Zeit nicht das Problem der Verfassung oder der Konstitutionalisten. On s’en fout!“ Ein Recht auf Bettelei existiere nicht, so Heuschling. Nicht in den Texten und nicht im Geiste derer, die diese Texte geschrieben haben. Auch heute werden Bettler in den Verfassungstexten nicht explizit erwähnt. Aber in der Rechtsprechung und in der wissenschaftlichen Literatur würden heute Menschenrechte gesucht, die sich dann auch auf Bettler anwenden lassen. So habe beispielsweise der US-amerikanische Supreme Court 2012 geurteilt, eine Restriktion von Landstreicherei sei nicht mit der Verfassung vereinbar – aufgrund der Meinungsfreiheit.

Zur Person

Luc Heuschling lehrt als Professor an der „Faculty of Law, Economics and Finance“ der Universität Luxemburg. Eines seiner Fachgebiete ist das Verfassungsrecht.

Bettelei wird also nirgendwo explizit als Menschenrecht aufgeführt, aber es ließen sich verschiedene Menschenrechte heranziehen, die Bettelei implizit schützen, so Heuschling. Da wäre zum einen die Wirtschaftsfreiheit (wenn man Bettelei als quasi-wirtschaftliche Aktivität interpretiert), die individuelle Freiheit, die Meinungsfreiheit (in den USA und vom österreichischen Verfassungsgericht bevorzugt, weil der Bettler in eine Kommunikation geht) sowie die Freiheit der Privatsphäre und die Menschenwürde. Zu guter Letzt gebe es auch noch das Egalitätsprinzip, so Heuschling. „Wenn ich beweisen kann, dass bestimmte Leute nach luxemburgischen Recht legalen Handlungen nachgehen können, die sehr nahe dran sind am Betteln, dann haben wir ein Problem mit der Egalität“, so Heuschling. Solche Fälle könnten zum Beispiel junge Studenten sein, die auf der Straße Geld für NGOs sammeln. Oder Kinder an „Liichtmëssdag“.


Um zu klären, was genau sich hinter dem Begriff „Bettler“ verbirgt, zieht Rassafi-Guibal das Wörterbuch der „Académie française“ zurate. Dort ist Betteln als „Bitte um Almosen“ definiert – und diese wiederum als eine „wohltätige Spende an eine bedürftige Person“. Auch hierin steckten wieder die persönlichen Umstände und die Notwendigkeit des Lebensunterhalts, so Rassafi-Guibal. Dies träfe per Definition nicht auf die von Heuschling erwähnten Kinder an „Liichtmëssdag“ oder Spenden sammelnde Studenten zu. „Das sind keine bedürftigen Personen und deshalb ist das auch nicht dieselbe Aktivität“.

Das Verhältnis von Menschenrechten und Bettelei erläutert Rassafi-Guibal anhand des Lacatus-Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der Fall in Kürze: Eine im Schweizer Kanton Genf lebende Romni, die ihren Lebensunterhalt mit Betteln verdiente, wurde zu einer Geldstrafe von 500 Schweizer Franken verurteilt, die in eine Gefängnisstrafe von fünf Tagen umgewandelt wurde. Bettelei ist nach Artikel 11a des Genfer Strafgesetzes verboten. Das Gericht entschied damals, dass die Menschenwürde der Beschuldigten durch das Verbot ernsthaft gefährdet sei, weil ihr keine anderen Mittel zur Verfügung stünden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen – und sie außerdem für die wirtschaftliche Situation ihrer gesamten Familie verantwortlich sei. Deshalb sei, so das Gericht damals, Artikel 8 der europäischen Menschenrechtskonvention anwendbar. Rassafi-Guibal macht aber deutlich, dass dies im Urteil immer nur als Ausnahme aufgrund einer außergewöhnlichen persönlichen Situation argumentiert werde. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs beziehe sich außerdem auf die Unverhältnismäßigkeit der Gefängnisstrafe. „Das ist das, was Lacatus sagt. Nicht mehr und nicht weniger“, so Rassafi-Guibal. Unter den persönlichen Umständen extremer Vulnerabilität habe das Gericht das Verbot der Bettelei als Eingriff ins Privatleben angesehen. Zu keinem Zeitpunkt treffe die Entscheidung jedoch eine systemische Aussage über das Verbot der Bettelei.


Ein allgemeines Verbot von Bettelei sei verfassungswidrig, so Heuschling, weil es die Essenz des Rechts auf Privatsphäre und Selbstbestimmung berühre, den „Wesensgehalt“. Es bleibe also nur ein Verbot unter bestimmten Bedingungen, wie – in der Polizeiverordnung umgesetzt – an bestimmten Ort. Aber auch hier gelte noch immer das Egalitätsprinzip, so der Verfassungsrechtler. „Das, was für die Oberstadt gilt, muss auch für Belair gelten. Und für Bonneweg.“


Laut Rassafi-Guibal mache man an dieser Stelle einen Perspektivenfehler: Das Recht auf Privatsphäre lasse sich nicht reduzieren auf das Recht des Bettelns. „In dem Sinne: Wenn man das Betteln verbietet, leert man das Recht nicht von seiner Substanz, seinem Wesensgehalt.“ Das Recht auf Betteln ist nur ein kleiner Teil des Rechts auf Privatsphäre. Um das zu veranschaulichen, macht Rassafi-Guibal ein weiteres Beispiel: Das Recht auf Selbstbestimmung könne auch das Recht auf Waffenbesitz beinhalten. Wenn man jedoch Waffenbesitz verbiete, ginge man auch nicht an die Essenz des Rechts auf Privatsphäre.


Ist die Polizeiverordnung verhältnismäßig?

Damit ein Gesetz oder einer Verordnung überhaupt verhältnismäßig sein kann, braucht sie laut Luc Heuschling ein legitimes Ziel. „Lacatus sagt da etwas Interessantes: Ein legitimes Ziel darf kein ästhetisches Kriterium sein, beispielsweise: die Schönheit einer Stadt zu erhalten.“ Was ist das Ziel in Luxemburg-Stadt? Die Bürgermeisterin sagt, dass man nicht die einfache Bettelei verbieten wolle. „Es gibt also kein legitimes Ziel“, so Heuschling.

Der Text von Artikel 42 der Gemeindeverordnung selbst beginnt mit einem Motiv: „Im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit ist auch jede andere Form des Bettelns verboten (…).“ Heuschling fragt sich, was genau „Sicherheit“ und „Gesundheit“ in diesem Kontext bedeuten sollen. Statt vager Begriffe hätte man Bettelei in konkreten Situationen verbieten können. Heuschling nennt New York als Beispiel. Dort habe man das Betteln unter anderem in der U-Bahn (aus Platzgründen und Unfallgefahr) und in einem bestimmten Radius um einen Bankautomaten verboten. 


Rassafi-Guibal möchte keine Aussage über die Legalität der Polizeiverordnung der Stadt Luxemburg treffen. Er spricht aber über eine allgemeine juristische Unklarheit, die auch in einem der Gutachten behandelt wird, die seine Kanzlei für Minister Gloden angefertigt hat. Dabei geht es um die Spannung zwischen der neuen Verfassung und dem Kommunalgesetz. Im Gutachten heißt es: Die jüngste Entwicklung des luxemburgischen Verfassungsrechts führe wahrscheinlich zu einer Schwächung der kommunalen Regulierungsbefugnis – aufgrund fehlender Rahmengesetzgebung. Begriffe wie „Sicherheit“ und „Gesundheit“ würden keine ausreichende Rechtsgrundlage liefern, damit Gemeindeverordnungen in Angelegenheiten erlassen werden könnten, die die neue Verfassung in Artikel 124 Absatz 2 dem Gesetz vorbehält.

Grober J-P.
11. Februar 2024 - 10.06

Was ist Bettelei und gibt es ein Recht darauf?
Wenn ich mich neben eine Bank im Park setze und meinen Hut neben mich ablege!?
Man definiere Bettelei und was daran strafbar ist, bitte!