HintergrundZum Jahrestag der Nawalny-Vergiftung: Der Kreml zieht die Zügel an, die Menschen reagieren mit Apathie

Hintergrund / Zum Jahrestag der Nawalny-Vergiftung: Der Kreml zieht die Zügel an, die Menschen reagieren mit Apathie
Für den Kreml hat Nawalny keinen Namen: An diesem Freitag jährt sich die Vergiftung des 45-Jährigen Foto: AFP/Olga Maltseva

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Ein Jahr nach der Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny werden die Freiräume für Russlands Aktivisten, Journalisten und Oppositionelle immer kleiner. Der Staat zieht die Zügel an, die Menschen reagieren mit Apathie.

Bei Wladislaw Sorwjonkow hatten die Polizisten in Zivil kurz vor Mitternacht geklingelt. Seine E-Mail-Adresse sei in der Spendenliste des Antikorruptionsfonds von Alexej Nawalny aufgetaucht. Der Kreml-Kritiker sitzt seit Monaten in einer Strafkolonie ein, seine Organisationen hat der Staat mittlerweile für extremistisch erklärt und verfolgt jeden, von dem er meint, dieser habe eine wie auch immer geartete Verbindung dazu.

Auch Wladislaw Sorwjonkow sollte sich erklären, irgendwelche Papiere unterschreiben, wie er beim Kurznachrichtendienst Twitter gleich nach dem Vorfall schrieb. Er war nicht der Einzige in der Nacht auf diesen Mittwoch. Laut dem russischen Mediendienst OWD-Info, der auf Berichte über Festnahmen spezialisiert ist und auch Rechtsbeistand leistet, statteten Sicherheitskräfte mindestens 20 Menschen in Moskau einen nächtlichen Besuch ab. Die Einschüchterungstaktik des Staates hat innerhalb weniger Monate zugenommen, die Lage verhärtet sich drastisch.

Für den Kreml hat Nawalny keinen Namen

An diesem Freitag jährt sich die Vergiftung des 45-jährigen Nawalny. Am 20. August war der russische Oppositionspolitiker auf einem Flug von Tomsk in Sibirien nach Moskau schreiend zusammengebrochen. Allen Erkenntnissen nach sollte der Kreml-Kritiker mit dem international verbotenen Nervengift Nowitschok getötet werden, ausgeführt von russischen Geheimdiensten. Gegen diesen Vorwurf wehrt sich der russische Staat. Nawalny aber überlebte und kehrte nach seiner Behandlung und Rehabilitation in Deutschland im Januar zurück nach Russland, im Wissen, dass er nicht lange in Freiheit bleiben dürfte. Sicherheitskräfte nahmen den Zurückgekommenen noch an der Passkontrolle in Moskau fest, am Folgetag wurde ihm auf einer Polizeiwache ein kurzer wie absurder Prozess gemacht. In Haft erreichte der unter starken Schmerzen Leidende erst durch einen Hungerstreik eine angemessene Behandlung.

Für den Kreml hat Nawalny keinen Namen. Das Regime will nicht nur ihn, sondern auch all die Strukturen zerstören, die er und seine Mitstreiter quer durchs Land aufgebaut und etliche liberal eingestellte und kritische Geister angezogen hatten. Seine Mitstreiterinnen wie Ljubow Sobol oder seine Pressesprecherin Kira Jarmysch wurden zu „eingeschränkter Freiheit“ verurteilt, Sobol hat Russland jüngst verlassen. Auf Nawalny selbst wartet eine neue Anklage – wegen „Anstiftung zum Verstoß gegen Hygieneregeln“. Er soll trotz Covid-Bestimmungen zu Protesten aufgerufen haben. Das Ziel dabei: Freiheitsentzug, so lange wie möglich.

Polizisten nehmen auf einer Impfgegner-Demo einen Mann fest – er trägt ein „Schlau wählen“-Plakat vor sich her 
Polizisten nehmen auf einer Impfgegner-Demo einen Mann fest – er trägt ein „Schlau wählen“-Plakat vor sich her  Foto: AFP/Dimitar Dilkoff

Das Label „Extremist“ verhindert auch die Teilnahme an jeglichen Wahlen. So schafft sich das Regime kritische Stimmen vom Hals. Und selbst die geduldete Opposition wird mittlerweile ausgebremst. Die Wahlkommission hatte erst kürzlich den Moskauer Unternehmer Pawel Grudinin, ein Zugpferd der Kommunisten, nicht zur Wahl zugelassen. Grudinin, der vor den Toren Moskaus Erdbeeren anbaut und sich bei der Präsidentenwahl 2018 nicht nur Freunde machte, genießt auch bei bürgerlich eingestellten Russen durchaus Ansehen.

Doch alles, was sich der direkten Kontrolle des Kremls entzieht, darf nach der Logik des Staates gar nicht erst existieren. Deshalb werden Gesetze verschärft, deshalb werden Kritiker als Feinde und Verräter gebrandmarkt, werden Andersdenkende verurteilt, oppositionelle Politiker ins Exil getrieben. Der Sicherheitsapparat, die sogenannten Silowiki, weitet seinen Einfluss immer mehr aus. Die kritischen Stimmen verstummen nicht, doch nimmt ihnen der Staat jeglichen Raum und vielen Menschen eine Zukunft, wie diese sie für sich und ihre Kinder wünschen, in Freiheit.

Atmosphäre der Angst von einem Staat in Angst

Stattdessen müssen Lehrer ihre Schüler im Patriotismusunterricht schulen, Hochschullehrer dürfen gewisse Themen, vor allem solche, die sich mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts befassen, nur so behandeln, wie der Staat das vorgibt. Anwälten, die Angeklagte in politisch motivierten Prozessen vertreten, wird mit dem Entzug der Anwaltslizenz gedroht, Journalisten werden zu „ausländischen Agenten“ abgestempelt, nachdem die Medien, für die sie gearbeitet haben, bereits zuvor zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt wurden. Die Medienlandschaft verödet, für Medienschaffende wie auch für die Konsumenten.

Das Gefühl, ohnehin nicht gegen den monströsen Staat ankommen zu können, hat sich längst breitgemacht. Zur Duma-Wahl am 19. September will kaum einer gehen. Auch wenn selbst die Unpolitischsten in der Provinz den Graben zwischen der Schönrednerei des Staates und der Realität vor ihren Augen satthaben, etwas selbst in die Hand zu nehmen, bereitet ihnen Unbehagen – weil das Regime teils jeden Tag zeigt, wohin solch ein Einsatz führen kann: zum Verlust der Arbeit, zum Eingesperrtsein.

Gerade bei der Verschärfung solcher Gesetze wie über „ausländische Agenten“ und „unerwünschte Organisationen“ läuft vieles intransparent ab. Es gibt kein Ermittlungsverfahren, keine Anklage, keinen Prozess. Es gibt lediglich die Brandmarkung: „Du bist unser Feind.“ „Ausländische Agenten“ sind längst nicht mehr nur Organisationen wie die unabhängigen Online-Medien Meduza oder The Insider, sondern auch einzelne Journalisten und Journalistinnen, mittlerweile sind es 18. Sie müssen die Behörden über jede Auslage im Detail informieren. Jeder, der will, kann diese Informationen auf der Homepage des Justizministeriums einsehen. Machen sie Fehler, drohen Geldstrafen, bei Wiederholung bis zu zwei Jahre Haft.

Polizeibesuche, Überprüfungen im Job oder an der Uni, sie schaffen eine Atmosphäre der Angst. Jeder, der in Russland öffentlich Kritik übt am Staat, weiß, dass er der Nächste sein kann. Denn Angst hat auch der Staat: vor dem Erstarken kritischer Geister.