Zu spät? Anja Di Bartolomeos neuer Erzählband enttäuscht

Zu spät? Anja Di Bartolomeos neuer Erzählband enttäuscht

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Nach dem prämierten Band „Chamäleons“ erscheint mit „Nicht zu spät“ ein zynischer Band, in dem die Autorin Randexistenzen an der Grenze des Scheiterns porträtiert. Eine unglaubwürdige, fast gänzlich empathielose Figurenzeichnung verleiht den Erzählungen eine unangenehm voyeuristische Dimension, die Sprache ist effektheischend und lässt die nüchterne Einfachheit des vorherigen Bandes vermissen.

„Nicht zu spät“ von Anja Di Bartolomeo, Op der Lay 2019, 125 Seiten, ISBN 978-2-87967-238-0

In seiner Luxemburgensia-Reihe bespricht das Tageblatt neue Werke der luxemburgischen Autoren Tomas Bjørnstad, Anouk Mahr, Anja Di Bartolomeo, Claudine Muno, Jean-Marc Lantz und Jean Portante.

Ein Pilot verbreitet Schrecken und Terror bei seinen Mitarbeitern. Ein übergewichtiger Junge wird von seinen Mitschülern gehänselt, ein Familienvater von seiner Gattin und seinem Sohn herumkommandiert. Eine Frau ohne Freunde geht ins Wasser, ein gelähmter Revoluzzer vereinsamt in einem Krankenhaus und ein karrierebesessener Partner reagiert weder auf den psychischen noch auf den körperlichen Verfall seiner Freundin.

In Anja Di Bartolomeos neuem Erzählband „Nicht zu spät“ wird die Menschheit von ihrer dunkelsten Seite beleuchtet. Die zentrale Frage, die alle dargestellten Schicksale verbindet, ist dabei schön säuberlich im Titel abzulesen und wird gebetsmühlenartig im Laufe der neun Erzählungen wiederholt – wann ist es zu spät?

Zu welchem Zeitpunkt überschreiten wir die Grenzen und verderben uns die Beziehung zu unseren Mitmenschen? Wie lange danach kann man noch auf Verzeihung hoffen? Wie strapazierbar ist die Geduld der anderen, und wie weit darf der andere gehen, bis uns der Kragen platzt? Wann genau lassen wir uns in die Enge treiben, werden wir zu den Spießern, denen wir sonst nur Verachtung schenkten, geben wir uns der Einsamkeit und der Verzweiflung hin? Wann, um es mit Paul Valéry zu sagen, reduziert sich die Vielzahl der möglichen Lebensstränge auf die nackte Sicherheit, sodass wir nur noch diesen einen Lebensweg einschlagen können?

Placere et movere

Di Bartolomeo will in ihrem Band sowohl unterhalten als auch bewegen. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden: Guter Literatur gelingt es nämlich oftmals, kaputte, graue Existenzen in ein helles literarisches Licht zu rücken, sei es durch eine empathische Figurenzeichnung oder durch das Zurückgreifen auf einen durchgeknallten, verheerenden Humor, der allmögliche absurden und unfairen Schicksalsschläge transzendiert.
Leider wirkt es, als glaube die Autorin, es würde ausreichen, knappe Sätze aneinanderzureihen, um zu bewegen. „Eine Grille zirpte. Ein Bach plätscherte. Das Gras raschelte. Die ersten Fliegen surrten. Und doch war es still. So still.“

Weil Di Bartolomeo auf diesen bedeutungsschwangeren Minimalismus in fast jeder Erzählung zurückgreift, werden ihre Texte plakativ, pathosgeladen und effektheischend – das angekündigte Unheil lässt einen auch deswegen kalt, weil es (nicht nur) stilistisch offenkundig und voraussehbar ist. Dies ist umso ärgerlicher, da ein solch aufgesetzter Versuch, Empathie aufkommen zu lassen, meist zu spät kommt – oft wurden die Figuren vorher schon durch den schrillen Humor der Autorin so sehr ins Lächerliche gezogen, dass einem ihr Werdegang herzlich egal ist. Die Figuren sind entweder dumm, bösartig oder beschränkt – und oftmals sogar all das zusammen.

So nippen die Freundinnen der depressiven Marlene Fischer mit „rot glänzenden Botox-Lippen am kühlen Champagner“, ihr Mann Richard verlässt sie erst mal nicht, weil sie die Klienten des Ehemannes mit einer „Seele wärmenden“ Suppe bekocht. Nach dem Essen fühlt sich Marlene dann bloß wie „eine Champagnerwolke“ und rollt kichernd mit dem Besteck in die Küche. Sogar als Kritik einer misogynen Gesellschaft funktioniert die Erzählung nicht – Marlene Fischers darauffolgender Selbstmordversuch ist weder sozialkritisch noch nachvollziehbar und zeugt eher von der Einfallslosigkeit eines Bandes, der im eigenen Pathos ersäuft.

Zäh und süß wie Erdbeerkaugummi

Dem Leser wird hier bis ins letzte Detail alles vorgekaut – was irgendwie passt, strickt der Erzählband doch ein semantisches Netz, das auf eine sehr angestrengte Art eine Erzählwelt einfangen will, in der die Figuren Erdbeerkaugummi kauen, bunte Kleider tragen, zu Florian Silbereisens Schlager tanzen, in Afrika auf Elefanten reiten und in Indien – wie sollte es anders sein – mit den Buddhisten beten. Die Banker sind böse, die Politiker lügen, Studenten lullen einen mit ihren „Thesen“ ein – Sympathieträger sind stets versponnen, färben sich die Haare blau, tragen Kosenamen wie Marx oder Che, pfeifen die Internationale und lieben Rockmusik (weshalb sie natürlich Joe Cocker „vergöttern“ (sic!)).
Als hätte man nicht verstanden, dass Pilot Michalsky ein widerwärtiger, misogyner, menschenverachtender Typ wäre, insistiert die Erzählerin und beschreibt ebenjenen Klaus Michalsky als „selbstsüchtigen, großkotzigen Egomanen“.

Eine Seite später erfährt man, dass er ein „rücksichtsloses, widerliches Arschloch“ ist. Um ganz sicherzugehen, dass auch jeder verstanden hat, dass Michalsky eine luziferische Gestalt ist, opfert Di Bartolomeo gar den guten Geschmack und die Glaubwürdigkeit der Erzählwelt: Weil eine übergewichtige Frau an Bord ist, meldet Michalsky via Funk eine „unberechenbare Moby-Dick-Spezies“ – woraufhin die Feuerwehr und das SOS-Zoo-Team zur „Evakuierung des mutmaßlichen Riesenbiestes“ anrücken und das Passagierflugzeug umzingeln.

Man liest aus diesen Zeilen den Stolz der Autorin auf den eigenen Humor heraus – nur zahlt Di Bartolomeo dies mit einer Respektlosigkeit gegenüber den fiktionalen Figuren, die der programmatischen Ernsthaftigkeit der angesprochenen Themen unwürdig ist und die Frage nach dem literarischen Ethos aufwirft.

Metaphern und Klischees

Auch die Bildsprache der Autorin ist mangelhaft: Alles ist knallig und bunt – und wenn eine Metapher nicht zündet, bekommt man sie gleich mehrmals serviert. Der Erzähler von „Gleis 7“ lässt sich von den klugen Thesen seiner zukünftigen Ehefrau verblenden. Jahre später formuliert er während einer fiktionalen Bestellung am Fast-Food-Tresen sein Bedauern, der Frau verfallen zu sein: „Hallo, möchten Sie Zwiebeln auf Ihren Burger? Ja, aber bitte mit Verblendung. Und bitte eine große Prise Kontrollverlust dazu. Als Getränk bitte eiskalte Berechnung und zum Dessert einen großen Terrorshake. Ja, gerne auch mit Despotenstreuseln. Haha!“ Den Digestif zu diesem literarischen Trauerspiel schenkt man sich lieber gleich – er muss bitterer als die luxemburgische „Buff“ sein.

Klischees wie „Es gibt keine Zufälle“, „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“, „Eine Minute sind nichts und doch ein ganzes Leben“ runden die sprachliche Beliebigkeit ab. Dass die weniger plakativen, etwas ambivalenteren Erzählungen wie beispielsweise „Elisa tanzt nicht mehr“ dann auch nicht ganz klischeefrei sind, stört wenig – in diesen seltenen Momenten blitzt so etwas wie Empathie auf, die Autorin scheint sich für ihre Figuren zu interessieren, anstatt dem nächsten hohlen Wortwitz nachzujagen. Es bleibt unverständlich, wie und wieso Anja Di Bartolomeo auf die meistens überzeugenden Kurzgeschichten in „Chamäleons“ einen solch unausgegorenen Band folgen lässt.

jang_eli
11. September 2019 - 17.17

Ganz mit der Kritik einverstanden. Hatte die Autorin kein Lektorat bevor das Buch veröffentlicht wurde.