Corona„Wir wollen ja nicht, dass Menschen krank werden!“: Architekt hinter Schwedens Sonderweg im Tageblatt-Interview

Corona / „Wir wollen ja nicht, dass Menschen krank werden!“: Architekt hinter Schwedens Sonderweg im Tageblatt-Interview
„An unserer Strategie liegt es nicht“: Staatsepidemiologe Anders Tegnell hat Schweden mit seinem Corona-Sonderweg und einer hohen Todesrate international in die Schlagzeilen gebracht Foto: dpa/Pontus Lundahl

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Während große Teile der Welt in den totalen Corona-Lockdown gingen, entschied sich Schweden für einen anderen Weg. Es gab nie eine Maskenpflicht, fast alles blieb erlaubt und geöffnet. Der Arzt Anders Tegnell (64) ist Schwedens Staatsepidemiologe und der weltweit umstrittene Architekt des schwedischen Sonderweges in der Pandemie. Scharf kritisiert wurde Tegnell bereits für seinen Entscheid zur Massenimpfung der Bevölkerung bei der Schweinegrippe 2009 mit dem Impfstoff Pandemrix. Rund 400 Schweden leiden seitdem an Narkolepsie, einer schweren, unheilbaren Erkrankung.

Tageblatt: In Schweden sind Intensivstationsfälle, Tote und Neuerkrankungen deutlich zurückgegangen. Auch das Gesundheitssystem war nie überlastet – und all das ohne Lockdown. Wie ist das möglich?

Anders Tegnell: Das zeigt, dass man auch mit einem freiwilligen Ansatz, mit Empfehlungen, Erfolg haben kann. Das kann den gleichen Effekt haben, wie die gesamte Gesellschaft in einem Lockdown abzusperren. Und dies mit bedeutend weniger negativen Nebeneffekten. Zwangsmaßnahmen für die ganze Bevölkerung sind schwierig. Als Gesundheitsbehörde muss man auf die gesamte Volksgesundheit schauen und achtgeben, inwieweit die Effekte eines Lockdowns die Menschen so stark belasten, dass andere Sterblichkeitsraten steigen. Wie beispielsweise die Selbstmorde oder auch die Folgen daraus, wenn bei schwer kranken Menschen die Hemmschwelle zum Arztbesuch wegen eines Lockdown erhöht wird. Für Menschen ist es gesundheitlich schädlich, unfreiwillig isoliert zu werden.

Warum haben Sie nicht einmal eine Maskenpflicht eingeführt?

Wir wissen noch immer wenig darüber, inwieweit Masken die Pandemie überhaupt dämpfen können. Wir haben Länder mit scharfer Maskenpflicht, die dennoch unter einer sehr starken Corona-Ausbreitung leiden. Es ist natürlich möglich, dass Masken in bestimmten Situationen, in denen Menschen sich auf engem Raum drängen, einen gewissen Effekt haben. In Schweden haben wir keine Anzeichen, dass es eine große Ansteckungsgefahr etwa auf Transportwegen gibt. Wir haben ausreichende Kapazitäten in Schweden, um Abstand zu halten. Auch können Masken eine falsche Sicherheit bieten. In Schweden haben wir die Strategie, dass man zu Hause bleiben soll, wenn man krank ist, statt sich mit Masken hinauszubegeben. Zudem haben wir in Schweden seit Wochen immer weniger Neuinfizierte, Intensivstationspatienten und Tote. Bei dieser guten Entwicklung ist eine Maskenpflicht erst einmal nicht aktuell für uns.

Ihr Chef, Gesundheitsamtsdirektor Johan Carlson, sagte: „Wenn die Leute sagen, wir in Schweden machen ein Experiment mit unserem Sonderweg, würde ich antworten, dass es ein äußerst, äußerst kniffliges Experiment ist, die gesamte Bevölkerung Monate einzusperren.“ Wie stehen Sie zu dieser Aussage?

Genauso ist es. Es gibt insgesamt sehr wenig Evidenz für Maßnahmen gegen die Pandemie. Uns wurde oft unterstellt, das schwedische Modell sei noch weniger evidenzbasiert als die Lockdown-Modelle. Aber die Wahrheit ist, dass es auch für die Lockdown-Ansätze kaum Erfahrungen gibt. Unsere Tradition ist es, die gesamte Volksgesundheit durch langfristige Maßnahmen so lange wie möglich zu schützen. Dagegen gibt es für den scharfen Lockdown einer ganzen Gesellschaft eigentlich nur negative Erfahrungen von früheren Pandemien.

Grenzschließungen haben bei der Pandemie-Bekämpfung sehr oft äußerst negative Effekte

Anders Tegnell, Schwedens Staatsepidemiologe

Sie sind die ganze Zeit gegen Grenzschließungen gewesen. Warum?

Es gibt international keine Erfahrungen darüber, inwiefern Grenzschließungen als Pandemie-Bekämpfung funktioniert haben. Vielmehr haben sie sehr oft äußerst negative Effekte. Das haben wir unter anderem bei den Grenzschließungen während der Ebola-Epidemie in Westafrika gesehen.

Aber warum hatte Schweden so viel mehr Tote pro 100.000 Einwohner im Vergleich zu den allermeisten EU-Staaten? Mehr als 5.700 Menschen sind bei Ihnen gestorben.

Ein großer Anteil der Verstorbenen in Schweden, rund die Hälfte, wohnte in speziellen Altenheimen, wo die Ältesten und besonders Kranken leben. Insgesamt sind dort rund 70.000 Menschen untergebracht, die meisten sind also gesund geblieben. Einige Altenheime hatten für die Pandemie leider keine Bereitschaft und nicht das nötige Wissen, um die Ausbreitung zu verhindern. Im Grunde geht es beim Infektionsschutz in Altenheimen um Dinge, die permanent funktionieren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt. Weil das nicht der Fall war, hatten wir zu Beginn der Pandemie eine sehr umfassende Verbreitung von Corona in den Altenheimen. Auch in anderen europäischen Ländern waren diese Gruppen besonders betroffen – mit oder ohne Lockdown. Ich denke, dass punktuelle, fokussierte Maßnahmen etwa zum Schutz der Alten besser sind als große breite Maßnahmen wie Lockdowns ganzer Länder.

Hätte eine weniger lockere Strategie die vielen Toten nicht doch verhindern können? Schließlich haben unter anderem Pflegekräfte das Virus in die Altenheime gebracht.

Nein, der Grund dafür waren punktuelle Schwachstellen, die behoben wurden. Wir haben weiterhin die gleiche Grundstrategie und inzwischen eine minimale Covid-19-Ausbreitung in Altenheimen. Und die Ausbreitung in Altenheimen verschwand bereits, bevor die Ausbreitung in der Gesellschaft im Großen sank. Das zeigt, dass es ganz klare Indizien dafür gibt, dass auch die schwedische Strategie die Ausbreitung in Altenheimen verhindern kann. Wir haben inzwischen deutlich niedrigere Todeszahlen. Zudem hatten einige Lockdown-Länder höhere Todesraten als Schweden – an unserer Strategie liegt es also nicht.

Sie sprachen einmal von einem dritten Weg zwischen einem totalen Lockdown und dem schwedischen Weg, wenn Sie noch mal in die Situation kommen würden, eine Pandemie bekämpfen zu müssen – was meinten Sie damit?

Mit dem Wissen, das wir heute über den Verlauf der Pandemie haben, würden wir einige Sachen vielleicht etwas anders machen. Vor allem einen noch schnelleren Schutz der Altenheime durchsetzen. Aber wir haben relativ schnell reagiert.

Was ist mit der Herdenimmunität in Schweden? War das ein Ziel der Gesundheitsbehörde, dass sich viele anstecken und dann immun werden? Wird das in Schweden eine weitere Welle verhindern?

Es ist schwer, exakte Werte für die Herdenimmunität zu ermitteln. Aber wir glauben, bei 20 bis 40 Prozent Immunität in der Bevölkerung etwa in Stockholm zu liegen. Unser Ziel war aber nie eine Herdenimmunität. Wir wollen ja nicht, dass Menschen krank werden! Aber wir wissen auch: Je größer der Teil der Bevölkerung ist, der durch eine Erkrankung immun geworden ist, desto einfacher wird es, weitere Ausbrüche in der Zukunft zu bewältigen. Es gibt also Gründe, anzunehmen, dass die hohe Immunitätsrate eine weitere umfassende Corona-Welle bei uns verhindern könnte. Ausbrüche kann es aber weiterhin geben. Da muss man auf der Hut bleiben.

Ist die im Vergleich zu Lockdown-Ländern vermeintlich sehr fortgeschrittene Herdenimmunität in Schwedens Metropolen auch ein Grund dafür, dass in Schweden die Neuinfektionsfälle, die Anzahl der Intensivstationspatienten und die Totenrate so deutlich gesunken sind?

Ja, das glaube ich. Die verbesserte Lage kann mit der hohen Immunität im Volk gekoppelt werden. Denn wir haben ansonsten keine anderen Maßnahmen verändert. Der Rückgang der Pandemie war in Stockholm, wo es die meisten Kranken und nun immunen Menschen gab, besonders deutlich.

Wenn ein Impfstoff kommt, wird Schweden dann auf Freiwilligkeit setzen?

Das wird ganz klar eine freiwillige Sache sein. Zuerst werden wir den Impfstoff denjenigen anbieten, die ein großes Erkrankungsrisiko haben, aber definitiv auf freiwilligem Weg. Aber wir werden darauf achten, dass im Anschluss an das Impfangebot an die Risikogruppen auch das gesamte Volk Zugang zum Impfstoff erhält, den man dann freiwillig nehmen kann.

Die Politik kümmert sich um ihren Teil und wir um unseren – man mischt sich da traditionell nicht gegenseitig ein

Anders Tegnell, Schwedens Staatsepidemiologe

Ihr schwedisches Gesundheitsamt hat als Expertengruppe anscheinend einen völligen Freibrief im Umgang mit der Corona-Krise. Die Politiker hielten sich sehr zurück. Welchen konkreten Einfluss hat die Politik auf die schwedische Corona-Strategie genommen? Hätten Sie sich eine stärkere Einmischung gewünscht?

Wir haben die ganze Zeit einen sehr engen Dialog mit der Politik. Aber die Politik kümmert sich um ihren Teil und wir um unseren. Man mischt sich da traditionell nicht gegenseitig ein. In Schweden genießen Politik und Behörden traditionell ein sehr großes Vertrauen in der Bevölkerung – die Leute bauen darauf, dass wir alle das Bestmögliche in unseren jeweiligen Bereichen tun.

Ihr Chef hat gesagt, Ihre Kollegen von Gesundheitsämtern in anderen Ländern hätten sich unter der Hand darüber beklagt, dass die Politiker zu viel in der Pandemie übernommen haben, statt Entscheidungen den Experten zu überlassen. Haben Sie auch den Eindruck?

Ja, das sind Signale, die auch ich von meinen Kollegen der zuständigen Behörden in ziemlich vielen EU-Ländern bekommen habe. Viele Fragen zur Pandemie sind dort leider ziemlich politisiert worden.

Gab es in Schweden viel Kritik an Ihrem Sonderweg?

Nein, es gab eine kleine Forscher-Gruppe, die sehr kritisch war, aber wir haben ein sehr hohes Vertrauen in der Bevölkerung. 80 Prozent aller Schweden folgen unseren Empfehlungen, das ist eine hohe Zahl. Kritik an unserer Corona-Strategie aus der Bevölkerung hat es im Grunde nicht gegeben.

Warum kam gerade so viel Kritik von Medien aus dem Ausland?

Zahlreiche Medien aus vielen Ländern waren auch sehr interessiert und verständnisvoll. Das ist etwas gemischt. Aber es ist natürlich eine unliebsame, indirekte Kritik an der Strategie des eigenen Landes, wenn man auf ein Land wie Schweden schaut, das weniger dramatische Pandemie-Maßnahmen ergriffen und doch die gleichen Effekte erzielt hat. Gerade auch, wenn Zwangsmaßnahmen in Lockdown-Ländern sehr belastend für alle dortigen Bürger waren.

HTK
13. August 2020 - 16.36

Die Folgen des hysterischen Lockdown sind noch gar nicht abzusehen und wir stellen fest: Wenn wir uns an die drei Regeln halten,so wie wir jetzt verfahren,dann wäre der Lockdown eben nicht notwendig gewesen.Es ging darum die Risikogruppen abzuschotten solange bis ein Impfstoff da ist. Der Weg der Schweden war richtig bis auf eins: Sie haben eben ihre Risikogruppen vernachlässigt.

zyniker
13. August 2020 - 12.28

Er ist ein umstrittener Dorn im Auge der paranoïden Panikmacher. Die Zahlen geben ihm Recht auch wenn Schweden nicht verhindern konnte dass das Virus in Alten- und Krankenheime eingezogen ist (aber das ist auch in (fast) allen andern Europäischen Ländern passiert; Frankreich, Italien, Spanien um nur die grössten zu nennen) Aber wen interessiert Schweden schon. Weiter brav testen, sich nicht versammeln... Was nur mit den Schülern machen und deren Eltern die wieder zur Arbeit müssen. Das wird noch lustig. @Lucinlinburhuc Sie haben Recht.

Lucinlinburhuc
13. August 2020 - 11.11

Ich wünsche unserem Land auch solch ein offener Umgang mit den neuen Herausforderungen. In Luxemburg traut sich bloß keiner und sind wir Geiseln der Shame and Blame Kultur. Die neue Generation soll es biite anders machen. Vor allem die, die im Auslandsstudium die Augen öffnen :) oder geöffnet bekommen...

Zither
12. August 2020 - 20.23

„Wir wollen ja nicht, dass Menschen krank werden!“ Das wäre ja Absicht, ergo Mord. Wir nehmen den Tod der Menschen billigend in Kauf. Das wird Totschlag genannt.