Interview„Wir sind das Virus“: Der Historiker Philipp Blom über alte Seuchen und neue Sorgen

Interview / „Wir sind das Virus“: Der Historiker Philipp Blom über alte Seuchen und neue Sorgen
„Das Virus zeigt uns, wie groß die Auswüchse der Globalisierung sind“: Schriftsteller Philipp Blom zufolge könnte die Coronaviruskrise zu einem Umdenken führen Foto: AFP/Jure Makovec

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Die Coronaviruskrise fegt weiter über die Welt und zurzeit besonders über Europa hinweg. Doch was macht das mit den Menschen, ihren Sorgen, ihren Wünschen? Der deutsche Schriftsteller und Historiker Philipp Blom hält eine Zäsur für möglich. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Seuche das Zusammenleben der Menschen neu prägt.

Tageblatt: Haben Sie so etwas wie die Coronaviruskrise schon einmal erlebt?

Philipp Blom: Das hat noch niemand so erlebt, es sei denn, er hat in einem Ebola-Gebiet gelebt. Der Eindruck entsteht, unbekanntes Gebiet betreten zu haben. Auf einmal bricht so viel eigentlich Selbstverständliches weg. In Apotheken fehlen bestimmte Produkte, Veranstaltungen werden abgesagt, es gibt Einschränkungen im Verkehr. Und was ja noch kommen wird, ist der wirtschaftliche Schaden. Das ist eine neue Situation für uns alle.

Wird uns jetzt vor Augen geführt, wie abhängig wir alle voneinander sind?

Wir haben uns in der Nachkriegszeit dieses großartige globalisierte System gebaut, das nur funktionieren kann, wenn es dauernd mit voller Kapazität läuft. Wenn alles genau zum richtigen Zeitpunkt zum genau richtigen Ort gebracht werden kann, mit völlig unwahrscheinlich langen Wegen. Und wir sehen jetzt, wie verwundbar dieses System ist, wenn ein Virus, der auf einem Markt in China ausbricht, tatsächlich den ganzen Weltmarkt ins Stottern bringen kann. Nichts ist mehr abgrenzbar.

Wird uns das jetzt erst richtig bewusst?

Das ist eine Lektion, die, glaube ich, eine wichtige ist und die selbstverständlich auch die Klimakatastrophe betrifft. Wenn in Brasilien, wie im Moment der Fall, 30 Fußballfelder Regenwald pro Minute gefällt werden, wird uns das in Europa genauso unmittelbar betreffen. Das ist die große Regenmaschine der Welt und der Sauerstoff, der dort hergestellt wird, den atmen wir mit. Diese unmögliche Abriegelung sehen wir auch an dem, was wir in Menschengestalt vor den europäischen Grenzen haben in Form von Migrantinnen und Migranten, die eigentlich durch unseren Begriff von Menschenrechten geschützt sein müssten, denen wir eigentlich helfen müssten, die wir aber nur als Angstfiguren draußen halten. Das sehen wir auch durch die völlig unkontrollierbare Migration anderer Dinge, seien es Viren, seien es Insekten oder Pflanzen, die sich verschieben, seien es Terrorismus oder Finanzströme. Die Unabgrenzbarkeit unserer Welt ist etwas, das wir alle sehr unterschätzt haben. Und etwas, das einem Angst macht, weil man sehr deutlich vor Augen geführt bekommt, dass man keine Kontrolle mehr hat und auch das Hochziehen einer hohen Mauer nichts mehr ändert an dieser Frage. Ich glaube, wir bekommen gerade eine Rechnung für die Globalisierung.

Die allerdings schwer wieder umkehrbar sein wird …

Die wird umgekehrt werden müssen. Im Moment hat man wirklich das Gefühl, dass sich diese Globalisierung gegen uns zu kehren beginnt – weil sie darauf aufbaut, dass wir eine Wachstumsökonomie mit immer steigendem fossilem Brennstoffverbrauch haben, und den werden wir nicht aufrechterhalten können. Diese Globalisierung mit Produktionsketten und Transportwegen, die wirklich jeder Beschreibung spotten, wird sich die Welt nicht mehr leisten können. Das war ein sehr kurzes Vergnügen, hat einige Jahrzehnte gedauert. Wir produzieren so viel, so billig dort, wo die Menschen arm sind und weder Natur noch Menschenrechte respektiert werden. Was danach an natürlichen Katastrophen kommt, was an Bevölkerungskatastrophen kommt, steht auf einem anderen Blatt. Diese Art von Globalisierung wird zu Ende sein und dazu wird dieses Virus beitragen, natürlich auch durch die Aufmerksamkeit jetzt, weil es die Zusammenhänge klarer zutage treten lässt, diese Verwobenheit und Verbundenheit über Kontinente hinweg. Das Virus zeigt uns, wie groß das geworden ist, wie groß die Auswüchse davon sind.

Aber die Menschheit hat eine lange Erfahrung mit Seuchen und Epidemien, können wir nicht daraus schöpfen?

Seuchen waren ein fester Bestandteil des Lebens bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, eigentlich bis zur Spanischen Grippe von 1918, der bis zu 50 Millionen Menschen zu Opfer fielen. Und natürlich hatten der „Schwarze Tod“ im Jahr 1348 und die anderen fürchterlichen Pestepidemien während des 30-jährigen Krieges im 17. Jahrhundert großen Einfluss auf die Gesellschaften. Andererseits wurden immer wieder ausbrechende Epidemien nicht so als Zäsur begriffen, wie das in einer seuchenfreien Moderne auf einmal der Fall ist.

Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Von Blom zuletzt erschienen sind im Hanser Verlag „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914“ (2009), „Die zerrissenen Jahre. 1918-1938“ (2014), „Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt“ (2017), „Was auf dem Spiel steht“ (2017) und „Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute“ (2018). Im Paul Zsolnay Verlag erschien der Roman „Bei Sturm am Meer“ (2016), in einem Monat wird dort Bloms neuestes Buch „Das große Welttheater“ erscheinen.
Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Von Blom zuletzt erschienen sind im Hanser Verlag „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914“ (2009), „Die zerrissenen Jahre. 1918-1938“ (2014), „Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt“ (2017), „Was auf dem Spiel steht“ (2017) und „Eine italienische Reise. Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute“ (2018). Im Paul Zsolnay Verlag erschien der Roman „Bei Sturm am Meer“ (2016), in einem Monat wird dort Bloms neuestes Buch „Das große Welttheater“ erscheinen.  Foto: Kati Bruder

Heute scheint in der Coronavirus-Krise gleichwohl eine große Rationalität zu herrschen. Staaten wie China, aber auch Italien reagieren mit drastischen Methoden, um das Virus einzudämmen. Hat die Vernunft über Aberglaube und Religion triumphiert?

Früher kannten die Menschen die Krankheitserreger nicht. So war die Reaktion eine kirchliche, die Bevölkerung wurde zur Buße aufgerufen, aber keine hygienische oder medizinische. Heute scheint die zentrale Vernunft zu funktionieren, das ist in gewisser Weise beruhigend. Aber sehen Sie sich die Verschwörungstheorien alleine dazu an, wie das mit diesem Virus angefangen hat: Aus einem amerikanischen Labor per Chemtrail über China versprüht; von einer amerikanischen Delegation gebracht; vom chinesischen Geheimdienst entwickelt. Und wenn sie dann noch schauen, wie viele Menschen mit diesen dekorativen Masken durch die Stadt laufen, als würde das was helfen. Nicht alle Reaktionen sind rational.

Im Moment haben viele Menschen Sorgen vor dem, was noch kommen könnte. Ist vielleicht das Beunruhigendste an diesem Virus, dass wir anfangen, in uns selber die größte Gefahr zu sehen?

Die Ausbreitung des Homo sapiens auf diesem Planeten, gerade in den letzten paar Hundert Jahren, ist sehr virenmäßig verlaufen. Wir haben einen Kontinent nach dem anderen infiziert und übernommen. Das Problem ist, dass ein Virus nur florieren kann, solange sein Wirt noch am Leben ist. Und solange es neue Individuen gibt, auf die es überspringen kann, ist das überhaupt kein Problem. Aber wir haben nur einen Planeten. Das Virus Mensch wird versuchen müssen, sich anders zu verhalten, denn die maximale Ausbeutung und maximale Ausbreitung, die wir bis jetzt betrieben haben, ist an ihre Grenzen geraten. Da ist die Virus-Metapher durchaus angebracht: Wir sind das Virus.

Sie halten eine Abkehr von der Volldampfglobalisierung für eine mögliche Konsequenz aus dieser Virenkrise. Ließen frühere Epidemien die Menschen auch umdenken?

Sie ließen sie vor allem umkommen. Denken Sie nur an den „Columbian Transfer“, daran, wie die Europäer ihre Krankheiten mit nach Amerika gebracht haben, wo die Menschen nicht resistent waren, und dort ganze Gesellschaften zerstört, ganze Kulturen beendet wurden. Das haben wir nicht so im Blickwinkel, weil es nicht sehr hübsch ist und diese Kulturen wenige schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben. Anders war das im Mittelalter in Europa. Im Zuge des Schwarzen Todes, der Pest, gab es einen kulturellen Wechsel, einen Demokratisierungsschub. Hier haben wir das Motiv des Totentanzes, dieses künstlerischen Genres, wo es darum geht, dass der Tod Leute aller sozialen Klassen mit ins Grab zieht, von Bettlern und Huren bis zu Bischöfen und Königen. Niemand war mehr sicher. Mit anderen Worten: Es war ein starkes Argument für die Gleichheit der Menschen und hat sicherlich seine Resonanzen gehabt 300 Jahre später, als die Aufklärung begann. Auch wurden die Arbeiter aufgewertet. Durch die vielen Toten gab es weniger, und so hatten sie eine bessere Verhandlungsposition und wurden besser bezahlt.

Wie schützt man sich am besten vor einer Ansteckung?

Die Schutzmaßnahmen sind die gleichen wie bei anderen Infektionen der Atemwege: Hände regelmäßig und gründlich waschen, in den Ellbogen oder in ein Papiertaschentuch niesen und das Taschentuch sofort in einem abgedeckten Mülleimer entsorgen, Händeschütteln und Küssen vermeiden, engen Kontakt mit kranken Menschen vermeiden, zu Hause bleiben, wenn man krank ist, und vermeiden, das Gesicht mit den Händen zu berühren.

Seit dem 2. März ist eine Hotline für die Öffentlichkeit unter der Nummer 8002 8080 in Betrieb.

Menschen mit Symptomen einer Infektion oder solche, die aus einem Risikogebiet zurückkehren, sollen nicht zum Arzt oder in die Notaufnahme gehen, sondern die Nummer 8002 8080 (oder im Notfall 112) anrufen.

Das Coronavirus im Steckbrief

– Name: Coronavirus, Covid-19
– Übertragungsweg: Tröpfcheninfektion
– Am meisten betroffene Körperregion: Lungen
– Symptome: trockener Husten, Fieber, Atemnot
– Inkubationszeit: bis zu 14 Tagen
– Gefährlich besonders für ältere Menschen oder Personen, die schon (schwere) gesundheitliche Probleme haben

Graucho
24. März 2020 - 15.17

Das Grippevirus ist so alt wie die Welt.Nur,wir hatten es vergessen oder,wie im Fall der normalen Grippe, uns daran gewöhnt. Durch Mutationen verändert es sich mehr oder weniger und kann wie im Fall der "Spanischen Grippe" oder wie eben jetzt das Corona,sehr aggressiv werden. In Deutschland sind dieses Jahr 145000 Ansteckungen und 150 Tote registriert-bei der "normalen" Influenza wohlgemerkt.70% der Toten waren nicht geimpft. Darüber spricht niemand mehr. Dasselbe gilt für die Millionen Malariaopfer.Aus den Augen aus dem Sinn.Hinzu kommt eine Vergreisung unserer Gesellschaft und sehr enge Wohnverhältnisse.(Überbevölkerung und schlechte Hygiene sind ein gefundenes Fressen für Viren und Bakterien). War alles schon einmal da,nur anders. Alles wird noch schlimmer bevor es besser wird.Aber es wird besser werden.

de bouferpapp
21. März 2020 - 10.17

Mit diesen Vergleichen ist niemandem geholfen. Wir sind nun einmal mit einer Pandemie, einem tödlichen Virus konfrontiert und müssen zusehen, wie wir diese Krise vernünftig und diszipliniert bewältigen. Dabei ist jeder Einzelne gefordert und verantwortlich. Es ist eine harte, schmerzvolle Prüfung aus der wir zu lernen haben, die uns ganz klar unsere Grenzen aufzeichnet und uns hoffentlich demütiger werden lässt.

Claude
20. März 2020 - 15.37

@Kinnen. M. "Und im Vergleich zu andern Viren ist diese noch Harmlos 3% Sterberate (Ebola 90%)" Bei der gegenwärtigen Ebola-Krise sind trotz massivem WHO-Einsatz 2600 Menschen gestorben im Kongo. In der gleichen Zeit starben im Kongo 7000 Kinder an Masern, weil sie nicht geimpft waren.

Kinnen M
20. März 2020 - 9.36

Leider ist es unvermeidlich das die nächste Pandemie kommen wird ! Nur haben wir jetzt hoffentlich gelernt damit umzugehen, und im Ernstfall unsere Freiheiten einzuschränken. Und im Vergleich zu andern Viren ist diese noch Harmlos 3% Sterberate (Ebola 90%)

titi
19. März 2020 - 20.02

De Mensch huet schons eng Daseinsberechtigung, wann hi sech bewosst ass, dass hien een Deel vun der Natur ass a wann hien géint d'Naturgesetzer verstéisst an d'Ëmwelt futti mecht, dat dramatesch Folgen huet. Wa sech un deem Verhalen an Zukunft näischt ännert, ass dës schrecklech Pandemie den Ufank vum Enn.

winston
16. März 2020 - 8.44

elo mierkt,hoffentlech,de Mensch dass hien net infaillible ass .Hien hält sech fir iwer Alles erhaben.Elo geseit een wei schnell et kann goen.Vleicht klemmt den Mensch elo vun sengem heijen Paerd erof a verle'ert un Arroganz.Mais et ass schon richteg ze soen dass hien den Virus ass.Wat huet de Mensch schon e Misère op der Welt gemat...geigeniwer sech selwer an virun allem geigeniwer vum Planet an Natur.Eigentlech huet hien keng Daseinsberechtegung.

de Schmatt
14. März 2020 - 9.43

Jede Krise ist eine Chance. Man muss sie nur zu nutzen wissen. Es ist ein fundamentales Umdenken erforderlich. Anscheinend lernen manche Menschen nur durch Leid und Schmerz dazu und die meisten sind nicht imstande , die Wirklichkeit zu akzeptieren. Das ganze Leben ist ein einziger Lernprozess und nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Beim Coronavirus sind Einsicht, Disziplin und Solidarität gefragt. Es gilt nicht nur, sich selbst zu schützen, auch seine Mitmenschen. Egoismus ist keinesfalls die Lösung, im Gegenteil. Diese Pandemie zeigt uns ganz klar unsere Grenzen auf.

florentf
12. März 2020 - 18.57

@Leila "Diese unhygienischen Märkte gehören abgeschafft!" 1 Milliarde Muslime sagen unsere Schweinefleischmärkte gehören abgeschafft. 1 Milliarde Hindus sagen unsere Rinderfleischmärkte gehören abgeschafft. usw.

J.Scholer
12. März 2020 - 17.24

Selten bringt das Tageblatt ein solch gutes Interview. Ein Wermutstropfen bleibt, wollen wir eine Änderung der Globalisierung , dies beinhaltet unsere Spaßgesellschaft wie auch die Politik, das Kapital und die werden nicht mitziehen, mit kleinen Verhaltensänderungen vortäuschen das Problem in den Griff zu bekommen. Um eine Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen ,beherzigen wir uns den Ausspruch von Euripides:“ Nicht sagen dürfen, was man denkt, ist Sklavenlos.“

Leila
12. März 2020 - 14.52

Diese unhygienischen Märkte gehören abgeschafft! Wie und welches Fleisch dort verkauft wird, ist für unsere Kultur einfach nur ekelerregend. Immun sind sie aber auch nicht - obwohl daran gewöhnt...