GastbeitragWarum Männer sich das Leben nehmen: Wir müssen über Männlichkeit reden!

Gastbeitrag / Warum Männer sich das Leben nehmen: Wir müssen über Männlichkeit reden!
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Manon Diederich arbeitet in der politischen Bildung im Bereich Antidiskriminierung. In einem Gastbeitrag macht sie sich Gedanken über die psychischen Belastungen und Erwartungshaltungen, die Männer überfordern können.

Vor ein paar Tagen wurde ich gefragt, ob ich einen bestimmten Mann kannte. Die Frage bereitete mir augenblicklich Sorgen. Ich stolperte über das „kannte.“ Ja, ich kannte ihn. Ich habe ihn gekannt, Vergangenheitsform, weil dieser Mann nun nicht mehr lebt. Er hat sich vor zwei Wochen das Leben genommen. Er sieht nun morgens nicht mehr die Sonne aufgehen und sie abends auch nicht mehr untergehen. Er ist mit ihr untergegangen und wird nicht wieder auftauchen. Es ist traurig, tragisch, erschütternd. Für die Familie, Freund*innen und all jene, die diesem Menschen nahestanden, wird nichts mehr sein wie zuvor. Nie wieder. Ein Mensch ist gegangen, die Fragen werden bleiben. Die Fragen und der Konjunktiv, das hätte: Hätte man? Hätten wir?

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Ja, wir hätten. Und ja, wir müssen. Wir müssen hinschauen und wir müssen darüber reden. Mehr denn je! Und mit „wir“ meine ich nicht die Familie, ich meine nicht die Freund*innen und all jene, die diesem Menschen nahestanden. Ich meine uns alle, uns als Gesellschaft. Wenn es Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die das Leben nicht länger ertragen, die den Alltag als so große Herausforderung und Last empfinden, dass sie das Gefühl haben, diesem nicht länger gewachsen zu sein und die einzige Möglichkeit darin sehen, ihr Leben zu beenden, dann müssen wir darüber sprechen! Denn das haben wir bisher zu wenig getan.

Ich bin aufgewachsen mit Kommentaren über Menschen, deren Söhne, Brüder, Väter oder Partner sich das Leben genommen haben. Die Kommentare waren kurz, sie waren beiläufig. Vor allem aber umgab sie eine Schwere, die einen als Zuhörer*in innehalten ließ. Man wusste nicht wohin mit den diffusen Gefühlen der Ohnmacht, des Unverständnisses und der Betroffenheit, die das Gehörte in einem auslösten. Man schluckte sie, teilte sie vielleicht mit ein paar Freund*innen und machte dann weiter. Was sollte man auch sonst tun? Es gab keine – offenen – Gespräche über psychische Gesundheit. Depressionen, Ängste, Gefühle der Entfremdung, all diese Empfindungen hatten keinen Platz, weder in öffentlichen Debatten noch in privaten Gesprächen.

„Männer weinen nicht …“

Seitdem hat sich zum Glück einiges getan. Nichtsdestotrotz bleiben zu viele Themen ein Tabu. Wir trauen uns nicht, darüber zu sprechen, und wüssten auch nicht wie. Doch genau das müssen wir tun: lernen, unseren Gefühlen, Empfindungen, Ängsten und Sorgen Bedeutung zu schenken und ihnen Namen zu geben. Wir müssen eine Kultur schaffen, in der es möglich ist, über unsere emotionalen Bedürfnisse zu reden. Eine Kultur, in der nicht Härte – gegenüber sich selbst und anderen – Verdrängen und Verleugnen als sozial anerkannte Formen der Emotionsbewältigung gelten, sondern eine, in der es in Ordnung und vollkommen normal ist, zu weinen, die Hilfe anderer zu benötigen und diese auch in Anspruch zu nehmen. Wir brauchen eine Kultur der Verletzlichkeit!

Denn wir leben in einem System, welches sich an anderen Werten als denen des Menschseins bemisst; einem System, in dem Leistung und das tägliche Funktionieren über dem menschlichen Wohlbefinden stehen. Wenn wir das nicht verstehen und nicht anfangen, aktiv daran zu arbeiten, unseren Umgang mit uns selbst und den Menschen um uns herum zu verändern, dann werden Selbstmorde weiterhin als individuelle, tragische Schicksale, als das Scheitern einzelner Menschen an ihrem Leben wahrgenommen. Und dann wird es immer und immer wieder passieren. Dann werden immer und immer wieder Menschen gewaltsam aus dem Leben scheiden und nicht nur die Angehörigen und Freund*innen, sondern wir alle mit unseren Fragen und den belastenden Konjunktiven zurückbleiben.

… und was, wenn doch?

Denn wir machen uns alle schuldig, wenn wir nicht anfangen, über psychische, d.h. mentale und emotionale Gesundheit, zu sprechen. Wenn wir nicht anfangen, unsere Kinder zu fragen, wie es ihnen geht, und ihnen beizubringen, ihre Gefühle zu erkennen, sie ernst zu nehmen und sie auch zu artikulieren. Denn aus Kindern werden Jugendliche und aus diesen werden schließlich Erwachsene. Und einige dieser Erwachsenen werden die Söhne, Brüder, Väter oder Partner sein, die in kurzen, beiläufigen Kommentaren Erwähnung finden. Jenen Kommentaren, die ein diffuses Gefühl der Schwere und Betroffenheit in uns hinterlassen. Und ja, ich schreibe hier bewusst von Männern*. Nicht weil andere Menschen nicht ebenfalls unter Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken leiden und diese traurigerweise auch ausführen, sondern deshalb, weil die vorherrschenden Vorstellungen von Männlichkeit die meisten jener, die als Mann* in unserer Gesellschaft aufwachsen, von Kind an in ein Korsett zwängen, das wenig Raum lässt für Gefühle, Ängste und Sorgen. Und noch weniger Raum, diese zum Ausdruck zu bringen.

Männer weinen nicht. Und was, wenn doch? Was, wenn wir endlich Raum schaffen und die Grenzen weiten: Kindern, unabhängig von ihrem Geschlecht, die Möglichkeit geben, ihre Emotionen zuzulassen, und ihnen die Fähigkeiten vermitteln, diese auszudrücken. Damit aus ihnen Jugendliche und Erwachsene werden, die leben möchten. Weil sie es können.

Suizid ist ein heikles Thema in der Öffentlichkeit. Eine sensible Berichterstattung aber kann durchaus auch präventiv wirken. Haben Sie Selbstmordgedanken? Benötigen Sie Hilfe? Dann wenden Sie sich bitte an SOS Détresse (+352 45 45 45), ans Kanner- a Jugendtelefon (+352 116 111) oder an www.prevention-suicide.lu.