EditorialToleranz ja, aber am Ende entscheidet in einer Demokratie die Mehrheit

Editorial / Toleranz ja, aber am Ende entscheidet in einer Demokratie die Mehrheit
 Foto: Editpress/Alain Rischard

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Wäre die Lage nicht so ernst, könnte man fast über die Skurrilität der Situation lachen: Auf einem Video in den sozialen Medien über eine Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen ist eine Frau zu sehen, die sich beim Vorbeifahren der Polizeifahrzeuge empört: „Wir sind in einer Diktatur, Heil Hitler!“ Immerhin hat die Frau den Hitlergruß neu erfunden und an dessen Stelle das Friedenszeichen gemacht. Liebe Impfgegner, wenn ihr unbedingt Vergleiche mit dem Nationalsozialismus wollt, hier, bitte: Ihr dürft durch die Straßen ziehen und lautstark eure Meinung sagen, zwischen 1933 und 1945 kostete eine eigene Meinung viele Menschen den Kopf. Von einem autoritären Staat zu schwafeln, ist also einfach nur lächerlich.

Am Montagmorgen sagte die Präsidentin der Nationalen Ethikkommission, Julie-Suzanne Bausch, in einem RTL-Interview, sie befürchte, dass sich die Fronten zwischen Impfbefürwortern und -gegnern verhärten. Das Schlimmste, was passieren könne, sei, wenn beide Seiten nicht mehr miteinander reden würden. Reden und diskutieren beinhaltet allerdings, dass man Argumente austauscht. Leider sind fanatische Impfgegner offensichtlich gegen jede Art von Argumentation geimpft.

Eines der Probleme mit den Protestlern ist, dass es sich bei ihnen um eine heterogene Ansammlung von Rechtsextremisten und Impfskeptikern handelt. Die Ersteren benutzen dabei die Letzteren, um ihre politische Agenda voranzutreiben. Ist die Absicht der rechten Hetzer klar gegen den demokratischen Staat gerichtet, ist die Sache mit den Impfskeptikern etwas komplizierter. Ihre Angst vor der Spritze beruht oft auf wirren Verschwörungstheorien. Unter anderem wollen sie nicht, dass „Gift“ in ihren Körper gelangt. Ob sie wohl alle die gleichen Bedenken haben, was Alkohol und Zigaretten betrifft? 

Zuweilen hört man von ihnen auch Verallgemeinerungen wie: „Glaubst du denn, dass man uns die Wahrheit sagt?“ Nun, wenn ich wählen soll zwischen Wissenschaftlern, die sich seit Jahren mit der Materie befassen, und Unbekannten in den sozialen Medien, fällt es mir leicht, mich für den Fachmann zu entscheiden.

Julie-Suzanne Bausch hat auf einen wichtigen Punkt hingewiesen, den Impfgegner in der Debatte um eine eventuelle Impfpflicht willentlich ignorieren: Impfpflicht ist nicht gleich Impfzwang. Auch bei einer Impfpflicht wird die Polizei niemandem mit Gewalt eine Spritze setzen: Die freie Entscheidung bleibt, aber man muss wie bei allem die Konsequenzen tragen, fügt man jemand anderem Schaden zu.

Impfgegner sehen ihre persönliche Freiheit und damit die Demokratie in Gefahr, weil ihr Wille nicht geschieht. Demokratie bedeutet Meinungsfreiheit, und der wird auch bei uns Rechnung getragen. Sie bedeutet aber nicht, dass die Minderheit ihre Meinung mit Gewalt durchsetzt. Bei jedem Spiel hält man sich an die Regeln, ansonsten spielt man erst gar nicht mit oder man fliegt vom Platz. Demokratie bedeutet auch Toleranz; die kann aber nur gegenüber Toleranten gelten, ansonsten schaufelt sich diese Demokratie ihr eigenes Grab.