Mittwoch5. November 2025

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ArmutSozialhilfen: Niedrige Inanspruchnahme trotz wachsender Not

Armut / Sozialhilfen: Niedrige Inanspruchnahme trotz wachsender Not
Nicht jeder kann sich einen gedeckten Tisch leisten – aus unterschiedlichen Gründen. Ein Foto von der Weihnachtsfeier der „Stëmm“ 2019. Foto: Editpress-Archiv/Julien Garroy

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Viele Bedürftige nehmen soziale Leistungen etwa von „Allocation de vie chère“, Mietbeihilfen und Krediten für Alleinerziehende oder anderen Hilfen nicht wahr oder scheuen vor dem Gang in eine „Epicerie sociale“ zurück. Dafür gibt es verschiedene Ursachen, die sowohl bei den Menschen selbst als bei den Verwaltungen liegen. Eine Studie und eine „Table ronde“ gaben Aufschluss darüber.

Paula wusste nicht mehr ein und aus, wie sie über die Runden kommen sollte. Die Alleinerziehende hätte Anrecht auf eine Wohnungsbeihilfe gehabt, doch diese nicht beantragt. Als sie es tat, war es zu spät. „Niemand hatte mir etwas gesagt“, erzählt die Mittvierzigerin. „Und als ich davon sprach, sagten Freunde von mir, sie hätten gedacht, dass ich von der staatlichen Hilfe gewusst hätte.“ Sie hatte aber nie zuvor davon gesprochen. Paula, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hatte sich angesichts ihrer finanziellen Notlage geschämt.

William hatte von einer „Allocation de vie chère“ nichts gewusst. Und als er erfuhr, dass man sie für seine Familie beantragen konnte, überlegte er lange, ob er es tun sollte. „Ich war zu stolz, schließlich hatte bis jetzt niemand sie in unserer Familie gebraucht“, sagt er. „Bis mich meine Frau überredete.“ In anderen Fällen sind es oft Sozialarbeiter, die die Bedürftigen darauf aufmerksam machen, dass sie eine „Subvention loyer“, einen „Crédit monoparental“ oder eine „Subvention pour ménage à faible revenu“ beantragen können. Oder es sind in der Tat Freunde oder Bekannte, die sie darauf aufmerksam machen.

Es gibt unzählige Beispiele von Menschen, die ohne Beihilfe nicht mehr die Miete für ihre Wohnung bezahlen können. Laut Statec-Angaben war im Jahr 2023 fast ein Fünftel der Einwohner Luxemburgs von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Quote der Armutsgefährdung erreichte im selben Jahr sogar 24 Prozent, wobei es jedoch aufgrund der „Chèques services“ vier Prozentpunkte weniger waren. Die Armutsquote ist mit 44 Prozent besonders bei Haushalten von Alleinerziehenden ausgeprägt.

Gefährdete Gruppen

Weiter besonders Gefährdete sind Menschen mit einem niedrigen Bildungsgrad, Ausländer, alleinstehende Jugendliche und Arbeitslose. Eine Person galt als armutsgefährdet, wenn sie mit weniger als 2.382 Euro auskommen muss. Im Jahr 2023 sind nicht nur die Einkommen im Vergleich zu 2022 um 5,6 Prozent gestiegen, was auf die Indexierungen zurückzuführen war, sondern auch die Armutgefährdungsschwelle auf 2.518 Euro im Monat. Zugleich ist die Risikoquote auf 18,3 Prozent gefallen.

Doch in Luxemburg erhalten Personen, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, nicht immer das, was ihnen zusteht: Weil sie verzichten, weil sie nichts von ihrem Anspruch wissen oder aus anderen Gründen. Dies war das Thema eines von der „Plateforme immigration et intégration Luxembourg“ (PiiLux) mit der Unterstützung der „Chambre des salariés“ (CSL) organisierten Rundtischgesprächs.

Es ist ein „unsichtbarer“ Teil der Bevölkerung, sagte Anne Franziskus, Forschungsbeauftragte beim nationalen statistischen Institut Statec, das zusammen mit dem Forschungsinstitut Liser dieses Jahr eine von der CSL in Auftrag gegebene Studie darüber herausbrachte, warum so viele Menschen hierzulande nicht auf die angebotenen Sozialhilfen zurückgreifen. Dabei wurden 35 Interviews mit Betroffenen geführt, die über ihre Erfahrungen mit dem sozialen System hierzulande berichteten. Es kristallisierten sich vor allem vier hauptsächliche Ursachen heraus: ein schwieriger Zugang zu Informationen, Probleme bei der Anfrage und der Nachverfolgung der beantragten Hilfe, die Zulassungsbedingungen und schließlich psychologische Barrieren.

Stolz und kraftlos

Bei manchen Menschen sei es ihr Stolz, der sie davon abhält, eine Hilfe anzufragen, weiß Alexandra Oxacelay, Direktionsbeauftragte der „Stëmm vun der Strooss“. „Manche schämen sich“, sagt sie und berichtet von dem wachsenden Zulauf bei ihrer Hilfsorganisation. Mehr als 700 Essen werden pro Tag in den Anlaufstellen der „Stëmm“ ausgegeben. „Wir arbeiten ‚en urgence‘“, sagt Oxacelay und fügt hinzu: „Das Leben auf der Straße macht die Menschen krank. Viele werden psychisch krank. Sie haben irgendwann keine Kraft mehr, sich durchzuschlagen.“ Das bedeute schließlich auch, dass sie keine Kraft mehr haben, Anträge zu stellen.

Auch Jean-Paul Reuter, „Chef de service“ vom Differdinger Sozialamt, weiß, dass viele nicht mehr in der Lage sind, die komplizierten administrativen Gänge zu bewältigen. Einig sind sich die Diskussionsteilnehmer in vielerlei Hinsicht, vor allem darin, dass es zu administrativen Vereinfachungen vor allem für die Schwächsten in der Gesellschaft kommen muss.

Alexandra Oxacelay weiß, „dass arm sein in Luxemburg anders ist als arm sein in anderen Ländern“, in denen zum Beispiel die Mieten niedriger seien. Jean-Paul Reuter pflichtet ihr bei, dass die Armut hierzulande lange Zeit versteckt war, was nicht zuletzt mit der geringen Größe des Landes und dem ländlichen Charakter vieler Gemeinden zu tun habe. Lange blieb vieles verborgen. Doch dies ist immer weniger der Fall.

Immer wieder Logement

Nathalie Georges, „Conseillère de direction“ bei der CSL, fragt sich, warum nicht mehr für die Betroffenen getan wird und nennt den direkten Bezug von Armut und Wohnproblematik, dem Bereich des Logements. Dass ein nicht geringer Teil des Einkommens für Mieten ausgeben wird, sei bezeichnend. Die Wohnsituation trägt einen großen Teil dazu bei. Für Sozialwohnungen gibt es lange Wartelisten. Die Soziologin erhofft sich nicht zuletzt, dass mit der genannten Studie Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausgeübt werden könne.

Informationen in leichter Sprache, eine verbesserte Sensibilisierung der Sachbearbeiter in den Behörden für die Belange der Antragsteller, kürzere Wartezeiten und mehr Übersicht in dem administrativen Dschungel gehören zu den Lösungsansätzen. Zwar verfügt Luxemburg über eine Reihe von Instrumenten zur Unterstützung von Haushalten mit niedrigem Einkommen. Doch die Nichtinanspruchnahme ist eklatant: etwa 40 Prozent für die „Allocation de vie chère“ und 80 Prozent für Mietzuschüsse.

Für die anderen Subventionen seien keine quantitativen Informationen verfügbar, so Anne Franziskus. Wenn Luxemburg sein Ziel, Armut und soziale Ausgrenzung bis 2030 zu verringern, erreichen will, ist es wichtig, sich der Frage der Nichtinanspruchnahme so weit wie möglich anzunähern. Die Hoffnung auf die digitale Vereinfachung zu setzen, ist trügerisch. „Viele Betroffene haben keinen Computer“, weiß Alexandra Oxacelay. Anderen wiederum seien die Prozeduren oder die in den Behörden verwendeten Erklärungen zu kompliziert. „Eine einfachere Sprache wäre dabei schon hilfreich“, so die „Stëmm“-Leiterin.

Zu diesem Zweck und um den bisher vor allem quantitativen Ansatz zu ergänzen, wurde die qualitative Studie durchgeführt. So wurden Personen, die Hilfen in Anspruch genommen, teilweise in Anspruch genommen oder nicht in Anspruch genommen hatten, in ausführlichen Interviews befragt. Diese Personen hatten unterschiedliche sozioökonomische Profile: Die Hälfte von ihnen war erwerbstätig, die andere Hälfte war Rentner, Student oder bezog Sozialleistungen.

Die von Statec und Liser geführten Interviews ermöglichten ein besseres Verständnis der Wege, die die Teilnehmer in die Prekarität führten. Diese sind vielfältig. Während sich einige der Befragten am unteren Ende der Einkommensskala befinden, sind andere aufgrund von Ereignissen wie Krankheit, Trennung oder Verlust des Arbeitsplatzes dorthin gelangt. Die Folgen ihrer schwierigen finanziellen Situation sind vielfältig und manchmal sehr schwerwiegend. Die meisten Teilnehmer verzichten auf Freizeitaktivitäten; einige opfern ihre Gesundheit oder ihre Grundbedürfnisse, indem sie sich etwa schlechter ernähren.

Finanzielle Schwierigkeiten führen bei vielen Befragten zu permanenten Stresssituationen, die sie zwingen, alle Ausgaben so gut wie möglich zu antizipieren und jederzeit Angst vor unvorhergesehenen Ausgaben zu haben. Die prekäre Lage nagt an der psychischen Gesundheit der Befragten. Die Angst vor der Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung sowie dem gesellschaftlichen Abstieg sei weit verbreitet, weiß Anne Franziskus. Damit verbunden ist die Scham. Die ständigen materiellen Sorgen führen zu Müdigkeit, einem Gefühl der Hilflosigkeit und einer schädlichen emotionalen Überlastung. Einige Menschen wiederum besitzen jedoch eine besondere Resilienz, eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit. Nicht zuletzt diese gilt es zu stärken.