Erstmals konkrete ZahlenSozialarbeiter zählen 197 Obdachlose im Laufe eines Abends in der Hauptstadt

Erstmals konkrete Zahlen / Sozialarbeiter zählen 197 Obdachlose im Laufe eines Abends in der Hauptstadt
Die stellvertretende Direktorin von Inter-Actions, Virginie Giarmana, Familienministerin Corinne Cahen und Stéphanie Goerens Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Vorigen Oktober führte die Vereinigung Inter-Actions zusammen mit Mitarbeitern anderer sozialer Einrichtungen eine Zählung der Obdachlosen auf dem Gebiet der Hauptstadt durch. 197 obdachlose Menschen wurden dabei angetroffen. Familienministerin Corinne Cahen stellte die Ergebnisse der Aktion am Dienstag vor.

Bisher gab es keine exakten Zahlen über die Anzahl der Obdachlosen in der Hauptstadt. Politiker und Sozialarbeiter mutmaßten, es seien wohl „Hunderte“, doch die Schätzungen lagen bisweilen relativ weit auseinander. Im Auftrag des Familienministeriums hat die Vereinigung Inter-Actions vorigen Oktober mithilfe anderer sozialer Organisationen zum ersten Mal die Obdachlosen systematisch gezählt.

Das Resultat: 197 Obdachlose trafen Sozialarbeiter am 26. Oktober zwischen 17.00 Uhr und Mitternacht in den Straßen von Luxemburg-Stadt an. Dies sei allerdings nur eine Momentaufnahme, unterstrich Familienministerin Corinne Cahen, die eigenen Angaben zufolge selbst bei einem der Rundgänge durch die 24 Viertel der Stadt dabei war. Die Zahl ändere wohl von Tag zu Tag, deshalb werde die Aktion dieses Jahr noch zweimal – im Mai und im Winter – durchgeführt.

Obwohl sie kaum zu übersehen sind, sei mit das Schlimmste für Obdachlose, dass sie für die meisten Menschen „durchsichtig“ seien. Viele Passanten gingen an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. „Reden Sie mit ihnen“, fordert Cahen die Öffentlichkeit auf. Sie rät zwar auch davon ab, Obdachlosen Geld zu geben, eher etwas zu essen, aber man sollte sie in dem Fall schon vorher fragen, was sie essen wollten, anstatt sofort etwas vom nächsten Bäcker zu holen.

Hintergrund der Zählung ist die Lissabonner Konvention von 2021, in der sich die EU-Länder verpflichten, die Obdachlosigkeit bis 2030 auszuradieren. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse man aber erst wissen, wie viele Menschen auf der Straße leben und was genau ihre Probleme und Bedürfnisse seien, erklärte Cahen. Um das herauszufinden, gingen 66 Sozialarbeiter und Helfer nicht einfach durch die Straßen und zählten die Menschen durch, sondern jeder Obdachlose wurde anhand eines vorher festgelegten Fragebogens zu seiner Situation befragt. Von den 197 waren allerdings nur 130 bereit, Fragen zu ihrer Person zu beantworten.

Befragt wurden diejenigen Menschen, die entweder auf der Straße lebten oder sich zu dem Zeitpunkt in einer Notunterkunft wie z.B. dem Abrigado aufhielten bzw. in einem Krankenhaus befanden. Personen, die sich nur tagsüber in der Hauptstadt aufhalten, aber in einer anderen Gemeinde übernachten, wie auch solche, die zeitweise anderswo übernachten, sind in der Zählung nicht berücksichtigt. Am Tag der Aktion lebten 142 auf der Straße, 38 in Notunterkünften und 17 befanden sich im Krankenhaus. Dass die meisten Obdachlosen in der Oberstadt, Bahnhofsviertel und in Bonneweg angetroffen wurden, dürfte kaum überraschen.

Vielfältige Gründe

Die Gründe, warum Menschen auf der Straße leben, sind vielfältig, doch rund ein Drittel der Befragten gab an, nach Luxemburg gekommen zu sein, ohne eine Wohnung zu haben; ein Viertel gab finanzielle Probleme an. Andere Gründe sind Familientrennung, Zwangsräumung der Wohnung, Arbeitslosigkeit, aber auch gesundheitliche Probleme. Allerdings waren nur 96 Personen bereit, Auskunft über ihren Gesundheitszustand zu geben. Obwohl fast 28 Prozent angaben, keine Probleme zu haben, müsse diese Zahl doch nuanciert betrachtet werden: Man könne davon ausgehen, dass sich viele Obdachlose ihres Gesundheitszustandes gar nicht bewusst seien. 26 Prozent gaben an, mentale Probleme zu haben. Dies würde mit Berichten von Streetworkern und Mitarbeitern der „Wanteraktioun“ und „Premier Appel“ übereinstimmen, die eine Zunahme an psychischen Problemen unter Obdachlosen feststellten.

Zahlen sind eine Sache, was die Regierung konkret unternehmen wird, etwas anderes. Wird es z.B. spezielle Hilfen für die „Working Poor“ geben, lautete eine Frage auf der Pressekonferenz. 16,5 Prozent der befragten Obdachlosen gaben an, einer Arbeit nachzugehen und trotzdem auf der Straße zu leben. Es gebe keine bestimmten Gruppen oder Kategorien, meinte Corinne Cahen, deshalb könne man keine pauschale Lösungen anbieten. Jeder Betroffene habe ganz individuelle Gründe für seine Situation.

90 Personen gaben als vorrangiges Ziel für ihre Zukunft an, eine Wohnung finden zu wollen, erst dann komme die Arbeit. „Der Obdachlose braucht vor allem eine Wohnung, der Rest folgt später“, so Cahen. Eines der Projekte, das Obdachlosen helfen soll, eine Bleibe zu bekommen, ist das Konzept „Housing First“. Es richtet sich an alleinstehende Menschen, die seit längerer Zeit obdachlos sind bzw. in schlechten Wohnverhältnissen leben und daneben noch ein Krankheitsbild aufweisen. Das „Housing First“-Konzept werde noch ausgebaut, so Cahen. Hierfür könne bald ein ehemaliges Servior-Gebäude benutzt werden. Darüber hinaus werde voraussichtlich noch in diesem Jahr in Berburg, in der Gemeinde Maternach, eine Art Altersheim für Obdachlose mit einer Kapazität von 22 Betten eröffnet, kündigte die Ministerin an.

Die Eckdaten der Zählung

– 197 gezählte Obdachlose (169 Männer, 28 Frauen), 130 gaben Auskunft über ihre Lage
– 59,24 Prozent leben seit mehr als fünf Jahren in Luxemburg
– 33,85 Prozent sind seit mehr als fünf Jahren obdachlos, 24,82 Prozent seit mehr als einem Jahr
– 34,65 Prozent leben vom Betteln
– 30,71 Prozent haben überhaupt kein Einkommen
– 12,60 Prozent erhalten das Einkommen zur sozialen Eingliederung („Revis“)
– 7,87 Prozent gehen einer angemeldeten Arbeit nach
– 5,51 Prozent arbeiten schwarz
– 3,15 Prozent prostituieren sich