Militärökonom erklärtSo killt man Putins Kriegskasse

Militärökonom erklärt / So killt man Putins Kriegskasse
Das „Z“ als Symbol des faschistischen Angriffskriegs Russlands in der Ukraine Foto: Pixabay

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Wie legt man Russlands Kriegskasse trocken? Wie effizient ist Luxemburgs Kampf gegen Oligarchen? Der Militärökonom Dr. Marcus Matthias Keupp (ETH Zürich) überrascht mit seinen Antworten. Ein Interview.

Tageblatt: Was halten Sie von der Idee eines Öl-Embargos gegen Russland?

Dr. Marcus Matthias Keupp: Bisher gibt es ja kein Embargo. Es gibt Vorstellungen der EU-Kommission, wie man möglicherweise ein Embargo umsetzen könnte. Vorausgesetzt, man bringt alle 27 EU-Mitgliedstaaten auf eine Linie. Es gibt also lediglich Ideen der EU-Kommission. Sie sehen, dass bereits die ersten Widerstände dagegen entstehen. Die kommen aus Staaten, die sehr abhängig sind von russischem Öl. Die hängen direkt an der „Druschba“-Pipeline (verbindet russische Öl-Felder mit ost- und mitteleuropäischen Raffinerien, Anm. d. Red.). Insbesondere die Slowakei und Ungarn. Das sind sogenannte „landlocked countries“: Länder ohne Zugang zur Hochsee. Für die wird es sehr schwierig, diese Öl-Importe zu ersetzen.

Wie hoch wären die Kosten?

Die Kosten dieses Öl-Embargos sind für den Westen hoch. Das Oxford Institute of Energy Studies schätzt im Moment, dass dadurch eine Minderversorgung von einer Million Barrel am Tag eintreten wird. Und zwar auf längere Frist. Das ist das Volumen, das dann mindestens verloren geht. Das muss man klar sagen: Der Markt kauft diese Idee des Öl-Embargos im Moment nicht. Im Gegenteil. Der Preis für Brent ist in den letzten drei Tagen um fast sieben Prozent gestiegen – auf jetzt ungefähr 106 US-Dollar (Stand 6.5.2022).

Was bedeutet das?

Das heißt, man kann das mit dem Öl-Embargo machen. Aber die Kosten sind hoch, weil dadurch die Kapazität an russischer Produktion am Weltmarkt verringert wird. Das ist das Letzte, was sie jetzt benötigen: Sie haben jetzt schon eine Energiekrise. Mit Embargo werden sie die noch verschärfen. Deswegen habe ich ja immer wieder gesagt, man sollte das Gegenteil tun …

… den Markt mit Öl fluten …

… nämlich den Markt mit Öl zu fluten, genau. Ich sage das immer wieder: Nichts tut Russland so weh, wie ein tiefer Öl-Preis. Viele sagen, Russland kann Öl nur mit einem großen Discount am Markt verkaufen. Das stimmt. Russisches Öl wird gerade mit einem Abschlag von 30 US-Dollar am Markt gehandelt. Aber weil die Öl-Preise hoch sind, macht das Russland überhaupt nichts aus. Nehmen Sie 105 US-Dollar minus 30 US-Dollar, dann sind Sie bei 75 US-Dollar: Das sind die russischen Einnahmen. Um das Staatsbudget auszubalancieren, benötigt Russland Öl-Preise von ungefähr 50 US-Dollar pro Barrel. Russland ist mit dem Embargo immer noch im Plus.

Wie schwer ist es, Märkte mit Öl zu fluten?

Das ist ökonomisch überhaupt nicht kompliziert. Im Gegenteil. Niedrige Energiepreise sind nicht nur das, was Russland am meisten wehtut. Es ist auch für den Westen die beste Inflationskontrolle. Das Problem ist nicht nur die Energiekrise. Die Energiekrise treibt auch die Inflation an. Das sehen Sie jetzt schon im Westen: An der Tankstelle, bei den Lebensmittelpreisen und bald werden wir das dann auch in der Kerninflation haben (bei der Kerninflation werden spezifische Güter nicht im Indexwarenkorb berücksichtigt, um externe Schocks besser auszuklammern, Anm. d. Red.). Dann fordern die Leute höhere Löhne und Gehälter. Und dieser Anstieg der Kerninflationsrate wird nicht so schnell verschwinden.

Was tun?

Man muss Produzentenländer wieder an den Weltmarkt holen. Und zwar insbesondere …

… den Iran nennen Sie immer wieder. Das ist doch auch politischer Selbstmord …

… den Iran …

… dann tun wir doch genau das Gleiche, was wir mit Russland in anderer Form getan haben: Einen autoritären Staat ökonomisch aufwerten?

Das Atomabkommen mit dem Iran ist der Schlüssel. Stellen Sie es sich vor: Mit dem Öl-Embargo fehlen uns durchschnittlich eine Million Barrel pro Tag. Das ist ziemlich genau die Menge, die der Iran vor der Trump-Administration nach Europa exportiert hat. Der Iran fördert momentan nur einen Bruchteil der Menge, die er eigentlich fördern und exportieren könnte. Das liegt an den Sanktionen der USA. Trump hat 2018 gesagt: Wir steigen jetzt aus dem Nukleardeal mit dem Iran aus. Dieses Atomabkommen, das gerade in Wien verhandelt wird, ist der Schlüssel. Wenn dieses Abkommen durchkäme, dann könnte der Iran in kürzester Zeit seine Produktion wieder ausweiten. Und könnten dann genau die Mengen, die nicht mehr aus Russland kommen, am Weltmarkt wieder liefern. Das würde den Öl-Markt gewaltig entspannen. Es gäbe auch andere Produzentenländer, z.B. Trinidad und Tobago in der Karibik, oder auch die afrikanischen Nationen. Die könnten durchaus mehr liefern. Das wäre für mich der Schlüssel.

Inwiefern?

Durch das Embargo verschärfen Sie eigentlich die Angebotskrise. Das ist ökonomisch unsinnig. Man soll den Energiemarkt entspannen. Damit sinken die Energiepreise. Und damit kontrolliert man die Inflation.

Warum macht das niemand?

Warum die Politiker das nicht machen, weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Es gibt in den unterschiedlichen europäischen Ländern auch unterschiedliche Diskussionen. Deutschland ist sehr, sehr exotisch: Die Diskussion ist kaum ökonomisch. Sie ist eigentlich … (keucht, nimmt kurz Luft) …sehr, sehr deutsch. Mit gesundem kaufmännischem Sachverstand wie in Luxemburg oder wie in England hat das nichts zu tun …

… ich weiß nicht, ob wir als Luxemburg deswegen besonders stolz sein müssen …

… ja …

… wie umschiffen wir das Problem, mit Staaten arbeiten zu müssen, die alles außer lupenrein sind?

Mal im Ernst: Glauben Sie, dass Russland eine weiße Weste hat?

Natürlich nicht.

Aber trotzdem importiert Deutschland eine halbe Million Barrel pro Tag von Russland über die „Druschba“-Pipeline. Niemand von denen hat eine weiße Weste. Sie müssen auch bei den USA fragen. Das „Shale Oil“, das die USA produzieren – ist das umweltfreundlich? Oder was Kanada aus Ölsanden produziert? Ist das so umweltfreundlich? Das könnten Sie alles fragen. Aber wir sind nun mal in einer Weltlage, wo wir uns fragen müssen: Was ist nun wichtiger, Energiesicherheit oder Klimaziele? Da gibt es keine einfachen Antworten. Aber gerade, wenn Sie den Iran anschauen, dann stelle ich folgende Frage: Was ist Ihnen lieber? Ein Iran ohne Nuklearabkommen? Das heißt, ein Iran, der konfrontativ sein wird. Und der seine Atomanlagen entwickeln wird, egal, was kommt. Oder ein Iran, der mit der internationalen Gemeinschaft kommuniziert. Und sich zumindest an gewisse Regeln hält.

Sie haben es teilweise angeschnitten: Wie schadet man der russischen Kriegskasse am effizientesten?

Ich gebe Ihnen eine einfache Antwort. Wie kann man die russische Kriegskasse oder den russischen Kriegsverlauf durch Boykott schädigen? Antwort: überhaupt nicht. Ich wiederhole: überhaupt nicht. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum ersten: Das russische Rüstungsmaterial ist bereits vorhanden, also gebaut. Es stammt teilweise aus Sowjetzeiten. Es kommt aus der russischen Reserve. Russland hat riesige Bestände an solchen konventionellen Landsystemen, wie z.B. Kampfpanzer, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie usw. Diese einfachen Landsysteme produziert Russland vollständig selber: Es ist nicht abhängig von westlicher Technologie. Das zweite Thema ist der Treibstoff: Was brauchen diese Truppen, um mobil zu machen? Diese Treibstoffe kommen aus der russischen Eigenproduktion. Man darf ja nicht vergessen: Russland fördert ungefähr 3 Millionen Barrel Öl pro Tag für seine eigene Wirtschaft, und aus dieser Inlandsproduktion werden auch die russischen Streitkräfte versorgt. Der Krieg wird momentan als mechanisierter Krieg geführt, also mit diesen einfachen Landsystemen. Sie schauen eigentlich in die Vergangenheit: Der Krieg ähnelt sehr dem Koreakrieg (1950-1953, Anm. d. Red.) oder den klassischen Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Gerade die Waffensysteme, die eigentlich teuer sind – also z.B. die strategische Luftwaffe oder die Marine –, spielen im Kriegsverlauf bisher gar keine Rolle. Und wenn Sie die Bezahlung anschauen der russischen Soldaten: Die hat sich auch nicht verändert – ihr Gehalt ist nach wie vor das gleiche. Das kommt in Rubel aus dem russischen Staatshaushalt. In anderen Worten: Dieser Krieg ist für Russland sehr, sehr günstig. Er ist auch unabhängig von westlicher Technologie.

Sie sagen oft, die russische Rüstungsindustrie sei nicht auf Devisen und technologische Kooperation mit dem Westen angewiesen. Können Sie das genauer erklären?

Man muss zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist die russische Eigenproduktion, sprich die Rüstungsindustrie, die Systeme herstellt für die russischen Streitkräfte selber. Dort sprechen wir eigentlich von alten sowjetischen Technologieplattformen. Die sind natürlich modernisiert worden und haben Updates erfahren, aber dort ist die russische Industrie überhaupt nicht abhängig von westlicher Technologie. Um Ihnen ein paar Zahlen zu geben: Das Konglomerat „Rostec“, eine gewaltige Staatsholding, hat 1.300 Firmen unter Kontrolle. Diese Firmen beschäftigen zusammen etwa zwei Millionen Menschen. Das gibt eine Idee der Größenordnung.

Wie steht es um Rohstoffe?

Russland hat auch die nötigen Rohstoffe, also die Metalle, Energie usw., um diese einfachen Landsysteme auch weiterhin zu produzieren. Russland ist überhaupt nicht abhängig vom Westen und kann auch noch lange den Krieg weiterführen. Aber: Schauen Sie sich auch das russische Exportgeschäft an. Russland ist auch der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt. Die russischen Rüstungsgüter konkurrieren also mit anderen Staaten am Weltmarkt. Bei der Flugzeugtechnologie, bei Kampfhubschraubern, bei gewissen Marinetechnologien sind sie angewiesen auf internationale Technologien. Da bekommen sie sicher Probleme. Aber, angenommen, Sie sind jetzt Indien oder Ägypten …

… diese Staaten importieren viele Rüstungsgüter aus Russland …

… ja, da kommt jetzt der Punkt: Wenn Sie Indien sind und russische Rüstungssysteme haben, dann könnte das sogar dazu führen, dass Indien jetzt stärker mit Russland zusammenarbeitet. Denn Indien und Ägypten tragen die westlichen Sanktionen ja nicht mit. Sondern, im Gegenteil, sie könnten sagen: „Wir helfen euch jetzt, neue Komponenten oder Ersatzteile herzustellen, um die Technologie, die ihr vom Westen bekommt, zu ersetzen. Die Rüstungsgüter der Russen haben kein westliches Technologieniveau: Sie sind nicht so leistungsfähig, aber dafür sind sie auch viel, viel billiger. Deswegen kaufen Staaten wie Indien, Ägypten oder Algerien diese Rüstungssysteme. Außerdem ist die russische Technologie sehr robust. Sie ist technologisch nicht besonders sophistiziert, aber sehr, sehr robust. Das sind durchaus Wettbewerbsvorteile. Es könnte ironischerweise dazu führen, dass eben solche Staaten ihren Ersatz selber organisieren und sagen „wir brauchen den Westen jetzt nicht“. Das könnte passieren.

Welche Rolle spielt Korruption innerhalb der russischen Streitkräfte? Ein Problem scheint z.B. zu sein, dass z.B. Lkws mit Holz statt z.B. Stahl oder Eisen verstärkt werden. Oder auch Fahrzeuge zu lange in Lagern standen und die Reifen deswegen defekt waren beim Kampfeinsatz.

Das ist definitiv so. Korruption ist generell ein großes Problem bei den russischen Streitkräften. Eigentlich schon sehr lange. Das war schon zu Zeiten der Sowjetunion so. Ein großes Problem ist z.B. der Diebstahl von Treibstoff. Es gibt in der russischen Armee ein Sprichwort: „Der Rubel ist die eine Währung, der Treibstoff die andere.“ Wenn Sie die russische Presse lesen: Es gibt immer wieder Prozesse gegen Offiziere, die Öl und Diesel in großem Stil aus Depots stehlen und auf dem Schwarzmarkt verkaufen – wir reden über Mengen von 50 bis 100 Tonnen. Das ist kein Gerücht, das gibt es wirklich. Vielerorts wandert das Budget, das eigentlich vorgesehen ist für Instandhaltung, in die Taschen korrupter Kommandeure. Das heißt, diese Kommandeure müssten das Geld eigentlich für die technische Instandhaltung der Systeme einsetzen. Sie tun das aber nicht, sondern kassieren das Budget im Prinzip für sich selbst. Sie verwenden es dann für ihre privaten Zwecke. Das haben Sie jetzt im Krieg gesehen.

Gibt es dafür eine Größenordnung? Gibt es Zahlen?

Eine konkrete Zahl habe ich nicht. Das ist auch hochgradig spekulativ. Man kann aber sagen: Es vermindert die militärische Leistung der Russen sehr. Das haben wir im Krieg gesehen: Schwere Fahrzeuge, denen die Reifen einfach abreißen. Das liegt nicht daran, dass die Reifen aus China kommen. Das sind Falschmeldungen. Das darf man nicht verbreiten, sondern das Problem ist: Man muss diese Fahrzeuge bewegen. Gerade weil sie so schwer sind. Sonst verteilt sich der Luftdruck asymmetrisch im Reifen, d.h. der Reifen wird nicht gleichmäßig belastet. Wenn Sie so ein Fahrzeug Monate stehen lassen und dann plötzlich bewegen, dann führt das zu unglaublicher Torsion auf den Reifen und der kann dann leicht abreißen. Vieles, von dem, was Sie in diesem Krieg gesehen haben, ist einfach dilettantische Operationsführung: unterlassene Instandhaltung, unterlassene Wartung. Wenn Sie diese Systeme dann einsetzen und damit durchs Gelände fahren wollen, dann passiert genau das. Diese Korruption, die sie in den Streitkräften hatten, die rächt sich jetzt im Operationsverlauf.

Wenn Ihre Analyse stimmt, bleibt eine bittere Feststellung: Sind selbst Sanktionen gegen russische Oligarchen Kosmetik, um Putin zu stoppen?

Man muss natürlich fragen: Was will man mit dem Sanktionieren der Oligarchen erreichen? Man muss zunächst eins sehen: Die heutigen Oligarchen haben zwar sehr viel Geld, aber sie haben keine politische Macht. Das ist ein wichtiger Punkt: Das war unter Boris Jelzin anders. Unter Jelzin hatten die Oligarchen sehr viel politische Macht. Sie konnten die russische Politik beeinflussen. Putin hat damit aufgehört. Der Deal unter Putin war: „Ihr könnt sehr, sehr reich werden …

… aber haltet euch raus …

… aber nur, wenn ihr euch mit meinem Kreml, mit meinen ,Silowiki‘ – also mit meinen Geheimdienstleuten – gut stellt. Dann könnt ihr so reich werden, wie ihr wollt. Aber wehe, ihr rückt von mir ab: Dann mache ich euch fertig.“ Das war z.B. im Fall Michail Chodorkowski mit dem Yukos-Konzern so. Chodorkowski wurde etwas zu selbstbewusst und hat gedacht, er könnte sich mit Putin anlegen. Und dann hat Putin ihn wirklich fertiggemacht. Das ist die heutige Welt der Oligarchen: Sie haben zwar sehr viel Geld, aber ihre produktiven Assets – ihre Firmen, ihre Konzerne – sind in Russland. Jetzt sagt Putin: „Entweder seid ihr für mich oder aber gegen mich. Das heißt, ich lasse euch, wenn es darauf ankommt, im Ausland ermorden.“ Das ist die Sicht für die Oligarchen im Moment. Wenn Sie also die Oligarchen jetzt sanktionieren, dann ist das zunächst politisch ohne wirkliche Konsequenzen. Sie können den Oligarchen ihr Vermögen wegnehmen, ja. Das wird aber in Putins Russland, das von den „Silowiki“ kontrolliert wird, nichts verändern.

Wie könnten die Oligarchen Verantwortung übernehmen?

Sie können natürlich sagen: Die Oligarchen sind verantwortlich für Putins Aufstieg. Sie haben lange mit ihm kollaboriert. Auf der anderen Seite muss man sagen: Die Oligarchen haben bereits Großteile ihres Vermögens aus dem Westen abgezogen. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen in Luxemburg ist, aber wir beobachten hier in der Schweiz, dass eine Kapitalflucht russischen Geldes stattfindet: Das Geld, das die Russen früher hier in der Schweiz hatten, fließt im Moment nach Dubai, nach Israel und in die Türkei – also in die Staaten, die die Sanktionen nicht mittragen und wo die Russen problemlos Immobilien und Firmeneigentum kaufen können. Wenn die Oligarchen also vom Westen sanktioniert werden, gibt es durchaus Möglichkeiten, ihr Vermögen in andere Weltregionen umzuleiten. Es wirkt sicher in der Presse gut, wenn man eine dicke Oligarchen-Jacht konfisziert …

… ja, da müssen wir uns an der eigenen Nase nehmen …

… und das ist dann in allen Medien und das ist gute Propaganda – aber ich denke, der wirtschaftliche Effekt wird recht begrenzt sein. Und vor allem: Man wird am Kriegsverlauf nichts ändern. Die Frage stellt sich meiner Ansicht nach mehr für eine Nachkriegsordnung. Also wenn der Krieg irgendwann vorbei ist und man verhandelt z.B. über die Reparationsfrage: Also wer muss bezahlen, um die Zerstörung in der Ukraine zu finanzieren? Dann könnte man schon sagen: „Die Oligarchen sind mitschuldig an diesem ganzen Krieg. Wir enteignen jetzt das Auslandsvermögen der Oligarchen.“ Das wäre eine Möglichkeit. Aber diese Frage stellt sich erst in der Zukunft.

Wie kompliziert wäre so eine Enteignung rechtlich?

Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine ist, dass die russischen Oligarchen freiwillig beim Wiederaufbau der Ukraine beitragen. Weil man zu ihnen sagt: „Entweder spendet ihr jetzt ein paar Milliarden – oder wir enteignen euch.“ Schauen Sie sich Abramowitsch an. Der hat bereits gesagt: „Ich verkaufe meinen Fußballclub Chelsea und spende den Erlös für den Wiederaufbau der Ukraine.“ Dadurch versucht Abramowitsch, seine eigene Haut zu retten. Weil man könnte ihn ja schon fragen: „Sag mal, lieber Abramowitsch, warst du nicht 20 Jahre lang der Freund von Putin?“ Man könnte auf die Idee kommen, ihn genauer zu untersuchen. Man könnte den Oligarchen einen Deal anbieten: „Ihr bezahlt eine Strafe und finanziert damit den Wiederaufbau der Ukraine – dann lassen wir euch in Ruhe.“

Und die rechtliche Frage?

Ich halte diese für viel, viel komplexer. Wir haben ja in Europa immer noch eine Rechtsordnung. Wenn man jetzt beliebig hingeht und sagt „Du böser russischer Oligarch, wir nehmen dir jetzt dein Vermögen weg“, da stelle ich mir die Frage: Bekommt man das vor den Gerichten durch? Also nur, weil jemand Russe ist, heißt das noch lange nicht, dass man ihn einfach so enteignen kann. Es braucht schon eine gesetzliche Grundlage. Man müsste also erst eine solche Grundlage schaffen, bevor man die Oligarchen entsprechend enteignen kann. Das stelle ich mir eher schwierig vor.

Was wir also momentan machen – das Einfrieren russischer Oligarchen-Vermögen – ist europäisch abgesichert, aber eine Enteignung könnte mit Blick auf die europäische oder internationale Rechtslage noch schwierig werden?

Ja, richtig. Was durch die Sanktionen momentan getan wird, ist das sogenannte „asset freeze“: Die „assets“, also die Vermögenswerte, sind nach wie vor da. Die russischen Oligarchen können einfach nicht darauf zugreifen. Aber trotzdem: Eine Enteignung, das wäre etwas ganz anderes. Das müsste eine gesetzliche Grundlage haben.

Die Schweiz wurde jüngst im Rahmen der amerikanischen Helsinki-Kommission als „Putins Gehilfin“ bezeichnet. Luxemburg wird nicht ganz so hart kritisiert. Ist das, Ihrer Ansicht nach, eine ähnlich oberflächliche Kritik? Also etwas, das den Kriegsverlauf nicht verändert?

Die Schweiz trägt sämtliche EU-Sanktionen mit. Und das ist auch gut so. Weil, wenn die Schweiz nicht die gleichen Sanktionen ergreifen würde wie die EU, dann würde sie ja eine Art schwarzes Loch sein, über das man von russischer Seite die Sanktionen umgehen kann. Damit würde die Schweiz ihrer Reputation als Finanzplatz unwiderruflich schaden. Das darf sie auf keinen Fall tun. In der Schweiz gibt es das sogenannte Embargo-Gesetz. Aufgrund dieses Gesetzes kann die Schweiz keine eigenständigen Aktionen fahren, sondern sie vollzieht das, was andere Staaten machen, nach. Das heißt: Die EU hat jetzt Sanktionen erlassen und wir als Schweiz wenden diese ebenfalls an. Man nennt das autonomen Nachvollzug. Das hat mit der schweizerischen Rechtslage zu tun. Die Schweiz kann nicht selbstständig hingehen und sagen: „Wir erlassen jetzt Sanktionen.“ Das geht nicht mit dem schweizerischen Embargo-Gesetz. Aber ausnahmslos jede Sanktion, die die EU erlassen hat, trägt die Schweiz bisher mit. Das muss man auch klar sagen.

Wie erklären Sie sich in dem Fall die Bezeichnung der Schweiz als „Putins Gehilfin“?

Einerseits mit Unkenntnis der Schweizer Rechtslage. (lacht) Zweitens: Schauen Sie sich mal auf correctiv.org an, welches Land welche Sanktionen erlassen hat. Wenn Sie schauen, was die Schweiz alles erlassen hat, sehen Sie, dass in der Schweiz genauso viele Sanktionen bestehen wie in der EU. Dass auch die gleichen Personen sanktioniert werden. Ich erkläre das zunächst mal mit Unkenntnis. Ein weiterer Grund ist, dass die Leute an die Schweiz des Zweiten Weltkriegs denken. Die Schweizer haben im Zweiten Weltkrieg keine gute Figur gemacht, weil sie sich zur Verfügung gestellt haben: für den Devisenhandel, für Transportleistungen zwischen dem faschistischen Deutschland und dem faschistischen Italien, Beihilfe zum Kunstraub, Fluchthilfe für prominente Nazis – das hat man der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg sehr, sehr übelgenommen. Gerade vonseiten der USA. Aber das ist nun mal die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die moderne Schweiz hat sich ja weiterentwickelt. Die Menschen haben noch diese alten Bilder im Kopf.

Was ist das politische Interesse der amerikanischen Helsinki-Kommission, die Schweiz in dieser Hinsicht zu kritisieren?

Das müssen Sie die Leute fragen, die so etwas sagen. Ich kann mir vorstellen, dass Politiker so etwas sagen, weil es gerade opportun ist. Aber man muss in diesen Zeiten klar unterscheiden: Was ist Propaganda? Und was ist Fakt? Das gilt übrigens für alle Seiten gleichermaßen. Man darf sich bei der Diskussion nicht in solche Propaganda-Argumente hineinziehen lassen. Man muss ganz nüchtern und neutral schauen: Wie ist die Rechtslage? Was steht in den Gesetzen? Wie sind die Fakten? Wie die Historiker sagen: „Sine ira et studio“ – ohne Zorn und Eifer. Ruhig und neutral die Sache beurteilen. Ich kann mir schon vorstellen, dass es Politiker gibt, die unbedingt ihre Sichtweisen durchbringen wollen: Weil gerade Wahlen sind, weil sie ihre Klientel bedienen müssen. Aber ich bin nun mal nur Wissenschaftler.

Was halten Sie vor diesem Hintergrund vom Argument, dass ein Gas-Embargo zum wirtschaftlichen Kollaps Deutschlands und damit zur sozialen Misere Europas führen würde?

Auch hier: Das ist keine Frage einzelner Staaten. Wir haben in der EU einen einheitlichen Gasmarkt. Und wir haben die EU-Verordnung 2017/1938 über den gemeinsamen Gasmarkt. Diese Richtlinie besagt, private Verbraucher sind bevorzugt. Das heißt, wenn Gas rationiert werden muss – wenn es wenig Gas gibt –, dann sind private Verbraucher bevorzugt. Zweitens enthält diese Richtlinie die sogenannte Solidaritätsklausel. Das heißt, wenn ein EU-Mitgliedstaat zu wenig Gas hat, dann sind die anderen Mitgliedstaaten verpflichtet, diesem Staat, der zu wenig Gas hat, zu helfen. Sie können sich vorstellen, was dann passiert.

Nicht unbedingt, erklären Sie es.

Wenn ich Gas aus Russland importiere und nichts mehr kommt, dann muss sich z.B. Deutschland überlegen: „Wen schalten wir jetzt ab?“ Private Konsumenten kommen als Letzte dran. Da wäre dann z.B. die Stromproduktion oder es wäre die produzierende Industrie. Also z.B. die chemische Industrie, die Metallverarbeitung, die Glasindustrie. Dann haben Sie eben das Problem, Luxemburg, Deutschland oder die EU sind ja keine Insel. Sie schalten in diesen Staaten dann die Industrie ab. Aber: Dann werden sich andere, wie z.B. die USA, China oder Kanada, dieses Geschäft greifen. Das ist der große Irrtum beim Thema Gas-Embargo: Es ist nicht wie bei Corona: Wir frieren die Wirtschaft ein, warten, bis die Pandemie vorbei ist und dann starten wir alles wieder neu – genau das wird nicht funktionieren. Weil die EU nun mal keine Insel ist und kein Lockdown in allen Staaten der Welt gleichzeitig passiert. Abgesehen davon, können Sie auch die Menge gar nicht ersetzen. Nehmen Sie Deutschland: Es importiert ungefähr 50 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr aus Russland. Das ist mehr als die Hälfte des deutschen Verbrauchs. Jetzt frage ich Sie: Wo kommt diese Menge her, wenn sie nicht mehr aus Russland kommt? Jetzt kommen die Deutschen und sagen: „Ja, aber schwimmende Flüssiggas-Terminal usw.“ Dann sage ich: „Moment, ab 2024. Also in zwei Jahren.“ Oder sie sagen: „Das kommt vom Weltmarkt.“ Aber von welchen Kapazitäten? Die Flüssiggaskapazität am Weltmarkt ist bis 2025 ausgebucht. Sie können so schnell die Produktion gar nicht steigern. Ein Boykott von Gas …

… ist also unrealistisch …

… das würde z.B. in Deutschland eine schwere Rezession auslösen. Und sie könnten diese Menge auch nicht verwenden. Dieses Problem setzt sich dann in anderen Staaten Europas fort: Wenn aus Russland nichts ankommt, kann Deutschland auch nichts weiterschicken. Oder nehmen Sie Polen: Es bekommt gerade kein russisches Erdgas. Polen will bis nächstes Jahr seine Erdgasimporte durch Flüssiggas ersetzen, u.a. aus der „Baltic Pipe“. Deren polnischer Anschluss wird aber erst im Dezember dieses Jahres fertig sein. Wenn alles gutgeht. Jetzt frage ich Sie: „Wo bekommt Polen im Moment sein Erdgas her?“ Antwort: aus Deutschland. Weil die Jamal-Pipeline (aus Russland nach Deutschland, Anm. d. Red.) bidirektional ist. Sie können durch Jamal nicht nur von Osten nach Westen …

… sondern auch von Westen nach Osten …

…, sondern von Westen nach Osten. Im Moment beliefert Deutschland Polen mit Erdgas. Sie sehen: Sobald Sie ein wenig an der Oberfläche kratzen, dann fallen Ihnen diese Konzepte recht schnell auseinander. Man soll daher nicht darüber reden, wie viel Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) uns das möglicherweise kosten sollte. Die Frage ist eine ganze andere: Wenn das Erdgas nicht mehr aus Russland kommt, von wem kommt es dann? Aus welchen Ländern? Über welche Wege? In welcher Zeit? In welchem Volumen? Es ist eine logistische Frage. Solange sie diese logistische Frage nicht klar und eindeutig beantworten, solange glaube ich das nicht.

Sie sagen, die USA und China würden von dieser Situation profitieren. Können Sie das präzisieren?

Ich denke, man sollte sich vom Gedanken verabschieden, China wird kommen, um Russland zu retten. China kauft im Moment noch verbilligtes russisches Öl, also mit großem Discount. Aber es sind nicht mehr die großen chinesischen Staatsunternehmen, sprich „China Petroleum & Chemical Corporation“ (Sinopec) und „China National Petroleum Corporation“ (CNPC) – also riesige Öl-Konzerne. Es sind mittlerweile nur noch kleine, unabhängige Firmen. Die großen Öl-Konzerne machen das Geschäft nicht mehr. Nehmen Sie Union Pay, das chinesische Zahlungssystem. Sie haben vielleicht davon gehört?

Es soll als Alternative in Russland dienen.

Es soll Mastercard und Visa ersetzen. Jetzt hat aber Union Pay diese Zusammenarbeit einstweilig beendet. Union Pay wird einstweilen in Russland nicht eingeführt: Es handelt sich um 146 Millionen Karten, die sie in ganz Russland ausgeben müssten. Das ist ein bewusstes politisches Signal. Ich schaue mir gelegentlich chinesisches Staatsfernsehen an: Dort sendet China, wie es gerade zum Ausland steht. Letzte Woche hat das chinesische Staatsfernsehen einen Beitrag gezeigt, wo kurz Dymtro Kuleba – der ukrainische Außenminister – aufgetreten ist und über den Krieg berichtet hat. Wenn so etwas im chinesischen Staatsfernsehen kommt – der ukrainische Außenminister wird gezeigt, wie er Russland kritisiert –, dann ist das ein deutliches Signal: nicht nur an die Welt, sondern auch an Russland.

Inwiefern?

Man beobachtet momentan ganz kleine, schwache Signale, dass China beginnt, abzurücken von Russland. Sie müssen Folgendes sehen: Wir haben jetzt in Europa eine Energiekrise. Das heißt, die Preise steigen an der Tankstelle und im Supermarkt. Die Leute müssen also mehr von ihrem Einkommen für Lebensmittel, Diesel und Benzin ausgeben. Und zwar vor allem die Leute, die nicht so viel Geld haben. Denen es also ökonomisch nicht so gut geht, weil sie den Hauptteil ihres Einkommens für ihr Auto und Lebensmittel ausgeben. Diese Leute haben also immer weniger Geld für Konsumgüter übrig. Das trifft auch den Absatz chinesischer Konsumgüter: Von den Exporten Chinas gehen zwei Drittel in die westliche Welt – also Europa plus USA –, aber nur zwei Prozent nach Russland.

Was bedeutet das für China?

Dann kommen sie als China langsam auf die Idee (mit ironischem Unterton): „Na ja, wenn der Krieg zu einer Energiekrise in Europa führt und diese dazu führt, dass die Leute weniger chinesische Konsumgüter kaufen, vielleicht ist das für uns keine so gute Idee, den Krieg zu unterstützen – oder zumindest gutzuheißen.“ Ich war 2008 Gastprofessor in China. Wenn ich etwas mitgenommen habe aus China, dann den klaren Eindruck: China ist ein pragmatisches Regime – ganz unabhängig betrachtet von der Kommunistischen Partei. Für China zählen in erster Linie die eigenen chinesischen Interessen. China wird sich sehr genau überlegen: „Ist das in unserem Sinne, dass dieser Krieg noch lange weitergeht?“

Wartet China ab, dass die Russen weiter geschwächt sind und kauft dann ihre Assets als Schnäppchen ab?

Ich halte das schon für möglich, dass China sagt: „Ja, wir warten jetzt noch ein wenig ab, bis die russische Real- und Energiewirtschaft große Probleme bekommen – und dann übernehmen wir einfach die Assets.“ Das heißt, wir bringen neues Kapital, aber dafür eignen wir uns die Firmen an. Das halte ich für möglich. Der kurzfristige schmerzvolle Effekt für China ist eben, dass diese Energiekrise Europas sich auch gegen China auswirkt.

Und wie sehen Sie die amerikanischen Interessen mit Blick auf die Energiekrise?

Es sollte im Interesse der USA sein, den Iran wieder als Produzenten an Bord zu bringen: Die Energiekrise wirkt sich auch in den USA aus. Wenn Sie dort auf die Tankstellen schauen, was eine „gallon of gas“ kostet: Wir sind mittlerweile bei über 4 US-Dollar (etwa 3,79 Euro, Anm. d. Red). Das heißt, viele Amerikaner können sich das kaum noch leisten. Wenn Sie jetzt daran denken, dass amerikanische Autos nicht gerade energieeffizient sind, ist das auch für Amerika ein großes Problem. Und die USA haben seit Anfang März Kontakt zu Venezuela. Sie sind bisher nicht sehr erfolgreich darin, Venezuela wieder als neuen Produzenten an den Markt zu bringen. Aber das sollte eigentlich das große amerikanische Interesse sein. Es ist ironisch: Seit Ronald Reagan haben die Amerikaner die Europäer gewarnt: „Macht euch nicht so abhängig von russischer Energie.“ Die Amerikaner hatten immer ein großes Projekt, den sogenannten „southern corridor“.

Wobei handelt es sich darum?

Also die Idee, Energie direkt aus Zentralasien – Kasachstan, Turkmenistan – über Aserbaidschan und die Türkei südlich an Russland vorbei nach Europa zu leiten. Das Motiv kommt jetzt wieder sehr stark zurück. Wir sollten in Zukunft viel stärker auf den zentralasiatischen Raum schauen, also auf das Kaspische Meer. Diese alte Idee sollte das Interesse der Amerikaner sein: diese gewaltigen Reserven Zentralasiens nach Europa zu leiten. Wenn Sie das nicht tun, wird China sie am Ende bekommen. Es gibt ja heute schon eine Pipeline von Kasachstan nach China. Es gibt auch Pipelines von Kasachstan nach Russland. Aber diese direkte Verbindung von Aserbaidschan bis nach Europa ist sehr schwach. Sie ist aber im Kommen: Es gibt die transanatolische Pipeline und die transadriatische Pipeline. Aber das müsste man insgesamt deutlich ausbauen.

Was machen wir mit Russland? Am Ende könnte der Staat politisch und wirtschaftlich gekillt sein. Ist das nicht auch irgendwo gefährlich?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Russland wird wieder eine Sowjetunion 2.0. Also, dass es sich vollständig zurückzieht von den Weltmärkten und seine enormen Reserven dann nur noch für sich selber verwendet. Das ist der alte sowjetische Traum der Autarkie: „Wir sind hier in unserem „Russkij mir“ – also in unserem Imperium. Wir stehen für uns: Wir haben alle unsere Lebensmittel selber, wir haben alle unsere Treibstoffe, wir brauchen keinen Handel mit dem dekadenten Westen. Wir sind glücklich.“ (leicht ironischer Ton) Die andere Möglichkeit ist: Man wird auch mit einem Nachkriegsrussland vielleicht wieder Handel treiben, vielleicht auch wieder Öl und Gas kaufen. Also sicher nicht mit Putins Russland, aber vielleicht in zehn Jahren nach einem Regimewechsel. Aber diese enorme Intensität der Energieabhängigkeit wird es nicht mehr geben. Russland wird dann ein Lieferant unter vielen sein: Es wird im Wettbewerb stehen mit Kasachstan, Turkmenistan, Katar, Australien und Kanada. Und man wird dann sagen: „Joa, vielleicht kaufen wir jetzt noch ein bisschen russisches Öl. Aber nur, wenn es gerade billig ist – abhängig sind wir aber nicht.“ Ich denke, das ist die wahrscheinlichere Variante: Russland als Wettbewerber unter vielen, der enormem Wettbewerbsdruck ausgesetzt ist.

Zerstört Russland seine Ökonomie?

Das ist ökonomischer Selbstmord. Im Moment hatte Russland ja quasi kein Risiko mit seinen Energiegeschäften. Sie haben die Pipelines, sie haben das Volumen, sie haben die Abnehmer: Sie hätten einfach nur 20 Jahre so weitermachen müssen, bei hohen Energiepreisen. Sie hätten enorme Gewinne erzielt, sie hätten die Volkswirtschaft entwickeln können – alles wunderbar. Aber momentan zerstört Russland seine eigene Marktposition. Und: Auch in den schlimmsten Zeiten des Kalten Kriegs war die Sowjetunion immer ein zuverlässiger Lieferant. Öl- und Gaslieferungen wurden nie eingestellt: Auch nicht in den 1980er Jahren, als jeder vom Atomkrieg geredet hat. Öl und Gas – immer zuverlässig. Und Putin ist jetzt zum ersten Mal vertragsbrüchig geworden. Er hat gesagt: „Von heute auf morgen drehe ich Polen den Gashahn zu.“ So zerstören Sie Ihre Reputation am Markt. Bei der Sowjetunion hat man immer gesagt: „Ideologischer Gegner, aber hey, die Sowjets sind zuverlässig und vernünftig.“ Das kann man von Putins Russland nicht mehr sagen: Oder würden Sie von so jemandem Öl oder Gas kaufen?

Zur Person

Keupp ist seit 2013 Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Versorgungssicherheit und der Schutz kritischer Infrastrukturen. In seinem Buch „Militärökonomie“ erörtert Keupp „die ökonomischen Probleme militärischer Organisationen aus institutioneller Perspektive“. In „Die Illusion der Abschottung“ (2021) kommt Keupp mit Blick auf die Pandemie zu einer bitteren Erkenntnis: „Eine Rückkehr ins zwanzigste Jahrhundert ist nicht undenkbar. Die Welt hat erfahren, was es bedeutet, wenn international arbeitsteilige Wertschöpfungsketten zerbrechen, Grenzübergänge plötzlich geschlossen werden, die Exekutive durchregiert.“ Keupp wurde in Deutschland geboren und wanderte 2004 in die Schweiz aus.

Marcus Matthias Keupp ist ein gern gesehener Gast in internationalen Medien
Marcus Matthias Keupp ist ein gern gesehener Gast in internationalen Medien Foto: Screenshot ZDF

zuang
11. Mai 2022 - 11.33

Da die EU kein Öl hat mit dem man den Markt fluten kann, ist das Ganze ein Witz.

rczmavicrom
11. Mai 2022 - 7.59

Jetzt dreht Russland Mal den Gashahn zu! Nur zum Klimaschutz.

w.d.
11. Mai 2022 - 7.29

Plötzlich ist der Iran wieder gut genug!!! Was für moralische Wendungen es doch gibt. Die werden aber den Teufel tun...und diesen auch noch unterstützen und bei nächster Gelegenheit wieder eine von auf den Turban zu bekommen.