KommentarPutins lautes Schweigen

Kommentar / Putins lautes Schweigen
Putin entzündet eine Kerze für die Opfer des Terroranschlags: ein Foto der nationalen Nachrichtenagentur Sputnik Foto: Mikhail Metzel/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

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19 Stunden hatte es gedauert, bis der Mann, den vor einer Woche angeblich fast 90 Prozent seines Volkes wieder einmal zum Präsidenten gekürt hatten, zu eben diesem Volk sprach – nach einem wohl schlimmsten Terroranschlag der vergangenen 20 Jahre. 19 Stunden Stille, während die Menschen in der verrauchten Konzerthalle „Crocus City Hall“ vor den Toren Moskaus um ihr Leben schrien. Mehr als 130 von ihnen überlebten das Attentat nicht. Putin telefonierte derweil mit dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, ließ sich offenbar allerlei Berichte von den Ermittlungsarbeiten bringen – und sagte erst etwas, als andere Staatenlenker längst ihr Entsetzen kundgetan und ihr Beileid für die Hinterbliebenen ausgedrückt hatten.

Es ist ein typisches Verhalten Putins, der sich bei Katastrophen erst einmal Zeit verschafft. Das ließ sich beim Untergang des U-Bootes „Kursk“ 2000 genauso beobachten wie bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 oder bei der Geiselnahme in der Schule von Beslan 2004. Das Beileid-Bekunden ist nicht Putins Element. Der 71-Jährige zeigt sich vor allem dann entschlossen, wenn er die Situation kontrollieren kann. Entgleitet ihm die Kontrolle, sucht Putin erst einmal das Weite.

Propagandistisches Getöse um „ukrainische Spur“

Dabei war der Mann gerade in den Tagen nach seiner „Wahl“ so redselig. Ein Team seien sie, eine Einheit, hatte er nach seinem als fulminant bezeichneten Sieg ans russische Volk ausrichten lassen. Er ließ sich von seinen Gegenkandidaten huldigen und brachte sie gar auf die Bühne bei seiner Feier von zehn Jahren „Rückkehr in den Heimathafen“, wie der Kreml die Annexion der Krim bezeichnet. Er sprach vor den Duma-Fraktionen, sprach vor seinen Vertrauenspersonen, und vor allem tat er das vor dem FSB, seiner früheren Wirkungsstätte. Die Warnungen der USA vor möglichen Anschlägen schoss er in seiner Rede in der Lubjanka verächtlich in den Wind. Die Amerikaner wollten lediglich für Unsicherheit und Verwirrung sorgen, sie „erpressten“ sie, behauptete er.

Nun ist die Unsicherheit wieder verstärkt da in Moskau. Doch das, was Putin nach fast 20 Stunden Schweigen von sich gibt, wirkt so entrückt von der „Einheit Volk“, dass sein Auftritt noch mehr verunsichert, als dass er den Menschen die Antworten liefert, nach denen sie verlangen: Wie konnten die Attentäter überhaupt in die Halle kommen? Warum ist der so aufgeblähte Sicherheitsapparat sofort zur Stelle, wenn ein paar Bürger Blumen für einen toten Oppositionspolitiker ablegen wollen, aber offenbar abwesend, wenn bewaffnete Terroristen in einer Menschenmenge um sich schießen?

Während Russlands Behörden in den vergangenen zwei Jahren nahezu täglich Andersdenkende wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ jagten, hatten sie den Blick für echte Gefahren aus Islamistenkreisen vernachlässigt. Um nun nicht allzu viele Fragen dazu beantworten zu müssen, verschärft der Kreml das propagandistische Getöse um eine „ukrainische Spur“ beim jüngsten Terroranschlag und lässt die Menschen vollkommen im Ungewissen, was in den kommenden Tagen auf sie zukommen wird.