Luxemburg„Putin wird nie mehr vertrauenswürdig werden“: So hat die Chamber nach Selenskyjs Rede debattiert

Luxemburg / „Putin wird nie mehr vertrauenswürdig werden“: So hat die Chamber nach Selenskyjs Rede debattiert
 Foto: Editpress/Julien Garroy

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Donnerstag in einer bewegenden Rede an die Abgeordneten appelliert, sein Land auch weiterhin im Krieg gegen Russland zu unterstützen und sich für eine beschleunigte Prozedur bei der Aufnahme der Ukraine in die EU einzusetzen. Premierminister Xavier Bettel sicherte der Ukraine die volle Unterstützung Luxemburgs zu. Er bot sich als Vermittler an, um ein Treffen zwischen dem ukrainischen und russischen Präsidenten zu ermöglichen. Von einigen Zwischentönen abgesehen, schlossen sich sämtliche Sprecher von Fraktionen und politischen Sensibilitäten in der sich anschließenden Debatte den Äußerungen des Regierungschefs an. Das Parlament hatte sich in den vergangenen Wochen bereits mehrmals mit dem Krieg in der Ukraine befasst.

Wolodymyr Selenskyj blickte von einem großen Bildschirm hinter dem Präsidentenpodium auf die Regierung und die Abgeordneten. Nur ein Teil der Regierung konnte dabei wegen der außergewöhnlichen Anordnung im Sitzungssaal präsent sein. Chamber-Präsident Fernand Etgen (DP) hatte den Platz des Premierministers auf der Regierungsbank eingenommen, Xavier Bettel selbst saß daneben. Eine ukrainische Delegation und Diplomaten folgten von der Parlamentstribüne aus den Ausführungen des ukrainischen Präsidenten, des Parlamentspräsidenten und des Luxemburger Regierungschefs.

Erstmals in der Geschichte des Parlaments empfange man den Präsidenten eines Landes, das sich im Kriegszustand befindet, so Fernand Etgen. Luxemburg leide mit dem ukrainischen Volk und werde stets an seiner Seite stehen, sagte er. „Euer Kampf ist ein Kampf zur Verteidigung der europäischen Werte.“ Der Wunsch der Ukraine, der EU beizutreten, sei legitim. Es müssten Wege gefunden werden, die Partnerschaft mit der Ukraine zu stärken, so Etgen verschwommen. An Russland richtete er den Appell, sich dem Internationalen Recht zu fügen. Kriegsverbrecher müssten vor Gericht. Er habe bereits im März in einem Brief an das russische Parlament das Einfrieren sämtlicher Beziehungen zwischen der Chamber und der Duma ankündigt.

„Wir kämpfen, damit wir bleiben, was wir sind, freie und unabhängige Menschen.“ Wolodymyr Selenskyj griff die Devise der Luxemburger auf, als er sich am Donnerstag an das Abgeordnetenhaus und die Regierung richtete. Der Krieg gegen sein Land habe nicht erst vor hundert Tagen mit dem Einmarsch der russischen Truppen am 24. Februar begonnen, sondern bereits 2014 mit der Besetzung der Krim und eines Teils des Donbass, so Selenskyj. Seit acht Jahren würden die Feindseligkeiten anhalten, unterbrochen von kurzen Waffenstillständen.

Täglich schlagen russische Raketen ein

Selenskyj warf Russland eine expansionistische Politik vor. 20 Prozent des Landesterritoriums seien inzwischen besetzt: rund 127.000 Quadratkilometer, eine Fläche größer als die Benelux-Staaten. Das Ausmaß der Tragik veranschaulichte er mit weiteren Zahlen. Rund zwölf Millionen ukrainische Binnenflüchtlinge, fünf Millionen Menschen, die das Land verließen. Die Frontlinie verlaufe auf rund 1.000 Kilometer. Täglich würden russische Raketen einschlagen. Allein am Mittwoch seien es 15 Marschflugkörper, 2.078 seit Kriegsbeginn, gewesen. Die meisten seien gegen zivile Objekte gerichtet.

Die Verluste auf russischer Seite bezifferte Selenskyj auf 30.000 Soldaten. Das sei mehr als in den zehn Jahren Krieg der Sowjetunion in Afghanistan oder in den beiden Tschetschenienkriegen. Der Donbass sei komplett zerstört.

Selenskyj wiederholte seine Forderung nach Waffenlieferungen. Sein Land benötige moderne Waffen. Man müsse den Druck auf Russland weiter erhöhen. Nach der rezenten Annahme des sechsten Sanktionspakets in der EU sollte bereits ein siebtes ausgearbeitet werden. Alle Aktiva russischer Unternehmen und von Privatpersonen, die den Krieg ermöglichen, sollten eingefroren und als Kompensation für die Kriegsopfer genutzt werden.

Die Ukraine sei de facto bereits ein Mitglied der EU, so Selenskyj. Sie entspreche bereits den europäischen Kriterien. Als Gründungsmitglied der Union sollte sich Luxemburg für eine beschleunigte Aufnahmeprozedur aussprechen. Selenskyj lud Chamber-Präsident Fernand Etgen und Premierminister Xavier Bettel (DP) nach Kiew ein, um vor der Rada, dem ukrainischen Parlament, zu reden.

Wir befinden uns nicht im Krieg gegen das russische Volk. Die politische Führung hat den Krieg ausgelöst. Wir dürfen nicht in Russophobie verfallen.

Xavier Bettel, Premierminister

Bettel dämpft Erwartungen eines zügigen EU-Beitritts

Bettel erinnerte an die Hilfe, die Luxemburg bereits geleistet habe. Proportional zur Landesgröße zähle es zu den größten Unterstützern der Ukraine. Erstmals in seiner Geschichte würde Luxemburg tödliche Waffen liefern. Die Erwartungen Selenskyjs über einen zügigen EU-Beitritt dämpfte Bettel ab. Man warte auf das Gutachten der EU-Kommission, ob der Ukraine der Status als Beitrittskandidat erteilt werde. Es gebe keine Eilprozedur. Als Kandidat sei man keinesfalls EU-Mitglied. Wichtig sei jedoch, der Ukraine eine Perspektive zu geben. Bettel sprach noch von vielen bestehenden Defiziten. Sollte der Ukraine der Kandidatenstatus verwehrt werden, sollte man Frankreichs Vorschlag nach einer erweiterten EU-Ukraine-Partnerschaft aufgreifen.

Bettel erinnerte daran, dass man sich nicht im Krieg gegen das russische Volk befinde. Die politische Führung habe den Krieg ausgelöst. Man dürfe nicht in Russophobie verfallen. Eine Friedenslösung könnten nur die zwei Präsidenten vereinbaren. Falls Selenskyj der Ansicht sei, dass er, Bettel, versuchen sollte, eine Unterredung mit Putin zu vermitteln, werde er das tun.

Nach einer kurzen Pause, bei der die Online-Verbindung nach Kiew gekappt und die Leinwand hinter dem Präsidentensitz weggeräumt wurde, äußerten sich die Abgeordneten zum eben Gehörten. Die härtesten Worte gegen den Aggressor fand der CSV-Abgeordnete Claude Wiseler. Gewinne Putin in der Ukraine, werde er weitermachen. Daher fühlten sich Moldawien, Georgien und die baltischen Länder unsicher. Putin würde eine Hungersnot in Afrika herbeiführen, indem er Getreidespeicher bombardiere und Häfen blockiere. Er versuche damit, Migrationsströme auszulösen und die EU zu destabilisieren. Selenskyj müsse die Hilfe bekommen, die er fordere. Wiseler sprach sich zudem für ein komplettes Embargo auf Kohle, Erdöl und Gas aus. Diplomatie und Dialog seien gescheitert. Wie könne man da mit jemandem reden, der weiterhin Menschen kaltblütig massakriere, der die Zeit des Dialogs nutze, um den Krieg weiterzuführen. Das Ziel müsse sein, darüber nachzudenken, wie die Ukraine diesen Krieg gewinnen könne.

Ein einziger Mann habe Europa in Schrecken versetzt

Gusty Graas (DP) zufolge werde Wladimir Putin nie mehr vertrauenswürdig werden. Man müsse weiterhin hart gegenüber Russland bleiben. Auch der letzte Pazifist müsse nun anerkennen, wie wichtig eine NATO sei. Es gebe in der EU mit Österreich und Irland noch neutrale Länder. Doch auch sie müssten sich fragen, ob das weiterhin so bleiben soll. Für den Wiederaufbau der Ukraine sollte ein neuer Marshall-Plan erstellt werden.

Ein einziger Mann habe ganz Europa in Schrecken versetzt, meinte seinerseits der LSAP-Abgeordnete Yves Cruchten. Nicht das russische Volk sei der Feind. Der Krieg sei im Kopf eines Despoten entstanden. Doch Putin habe seine Ziele nicht erreicht, im Gegenteil. Die NATO wurde gestärkt und noch nie zuvor sei die EU so vereint wie heute. Luxemburg werde helfen, die Ukraine wieder aufzubauen. Heute sei nicht der Zeitpunkt für eine Analyse, was in der Vergangenheit in den Beziehungen mit Russland falsch gemacht wurde. Dieser Frage müsse man sich jedoch in naher Zukunft zuwenden, wie auch der nach neuen Standards bei Geschäften mit einzelnen Ländern.

Kritischere Töne schlug hingegen Fernand Kartheiser (ADR) an. Auch seine Partei verurteile die militärische Aggression und sei mit der Ukraine solidarisch. Die ADR wolle jedoch die Situation ohne Demagogie analysieren. Die Ukraine war bisher ein multiethnischer Staat mit verschiedenen Sprachen. Das Experiment sei jedoch misslungen. Die Ukraine sei seit Jahren ein zerrissenes Land. Das Russische wurde als Regionalsprache verboten. Das Massaker von Odessa sei niemals aufgeklärt worden. Die Situation habe sich nicht aus heiterem Himmel am 24. Februar verschärft. Der Donbass, das industrielle Aushängeschild der Ukraine, sei nun zerstört. Aber das Assoziationsabkommen der Ukraine mit der EU setzte auf europäische Standards, während im Donbass noch weitgehend sowjetische Standards galten. Nicht zu Unrecht fürchteten die Menschen dort um ihre Arbeit.

Strategische Fehler der westlichen Politik

Kartheiser zufolge seien Friedensverhandlungen die einzige Möglichkeit, Menschenleben zu retten und ukrainisches Territorium zu erhalten. Es sei unrealistisch, dass die Ukraine verlorene Gebiete zurückgewinne, so seine Einschätzung. In Selenskyjs Rede habe er eine Perspektive für die Ukraine als multiethnisches Land vermisst. Zweifel äußerte Kartheiser ebenfalls bezüglich der Wirksamkeit der Sanktionen. Diese würden den Krieg nicht entscheiden. Und es werde kein siebtes Paket geben. Alle Redner hätten starke Worte gegen Russland benutzt, man müsse aber auch an die Zukunft denken. Die aktuelle Politik führe in einen neuen Kalten Krieg, zu einer China-Russland-Allianz. Was Kartheiser als einen strategischen Fehler der westlichen Politik bezeichnete.

Für Nathalie Oberweis („déi Lénk“) könnten steigende Getreidepreise zu einer neuen Hungersnot führen. Leidtragende des Krieges seien auch Menschen, die bereits heute unter prekären Bedingungen leben würden, weltweit aber auch in Europa und in Luxemburg. Oberweis sprach sich dafür aus, das eingefrorene Vermögen russischer Oligarchen zu mobilisieren. Die EU sollte einen Rechtsrahmen schaffen, damit dieses Vermögen konfisziert und der Ukraine zur Verfügung gestellt werden könne. Wie die Regierung dazu stehe, wollte sie wissen.

Die Antwort kam am Ende der Debatte von Bettel. Vermögen anderer konfiszieren und an andere weiterreichen, müsse rechtlich abgesichert sein, sagte der Premierminister. Er wolle den Ukrainern keine falschen Hoffnungen machen. Ein siebtes Sanktionspaket und insbesondere ein Gas-Embargo sehe er skeptisch. Da gebe es nicht viel Hoffnung.

Filet de Boeuf
2. Juni 2022 - 20.44

Laut neusten Umfragen scheint unsere Regierung auch nicht sehr vertrauenserweckend zu sein

JJ
2. Juni 2022 - 19.06

Wie vertrauenswürdig kann ein Ex-KGB Mann denn sein der sein Land so regiert. Auch ohne Krieg.