RusslandPutin im Siegesrausch: Kremlführung wähnt sich nach der „Wahl“ vollends bestätigt

Russland / Putin im Siegesrausch: Kremlführung wähnt sich nach der „Wahl“ vollends bestätigt
Wladimir Putin redet den Menschen in Russland ein, das ganze Land sei geeint Foto: Natalia Kolesnikova/Pool/AFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Russlands Offizielle feiern „historisch nie dagewesene Ergebnisse“. Sie feiern berauscht sich selbst und verkaufen dem Volk den Mythos einer „konsolidierten Gesellschaft“. Diese ist tief gespalten, fügt sich jedoch den Manipulationen und Repressionen.

So sieht einer aus, der sich politisch unangreifbar fühlt. Wladimir Putin tritt kurz vor Mitternacht, nachdem die Wahllokale quer durch Russland seit Stunden geschlossen sind, ans Rednerpult im Moskauer Gostiny Dwor und spricht plötzlich den Namen aus, den er Jahre bewusst nicht in den Mund genommen hatte, den Namen seines größten politischen Widersachers: Alexej Nawalny. Nun, da dieser tot ist, erlaubt sich Putin einen Kommentar. Es sei „immer ein trauriges Ereignis“, wenn einer aus dem Leben gehe. Aber so sei das Leben eben, meint der 71-Jährige, dessen menschenverachtendes System Nawalny das Leben nahm, und fährt in gewohntem Zynismus fort: „Wir hatten auch andere Fälle, bei denen Menschen in Gefängnissen aus dem Leben schieden. Hat es das etwa in den USA nicht gegeben? Hat es! Und nicht nur einmal.“

Selbst hier, kurz nachdem klar geworden ist, dass Putin bei seiner inszenierten Präsidentenwahl mehr als 87 Prozent aller Wählerstimmen bekommt – „historisch nie dagewesene Ergebnisse“, wird die Wahlkommissionsleiterin Ella Pamfilowa diese am Morgen danach nennen – arbeitet er sich an den USA ab. Denn genau darum geht es dem manipulativen Diktator in seiner immer hemmungsloseren und hysterischeren Hetze: seinen geradezu zum Epos erhobenen Kampf gegen den Westen. Russland sei sich einig darin, das zeigen für Putin die Wahlergebnisse, dass es zusammenstehe, um seine Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu bewahren.

„Wir alle, wir, die gewählt haben, sind ein Team. Wir sind Gefährten. Und Gefährten, so war das im Alten Russland, sind Krieger“, sagt er noch vorher in seinem Wahlstab. „Russland, Russland“, rufen seine „Krieger“ im Stab, für sie ist Putin Russland, etwas dazwischen gibt es nicht. Keinen Zweifel, kein Infragestellen, nur das Schlucken dessen, was das Regime als das einzig Wahre verkauft: Die rohe Gewalt ist das zentrale Motiv der russischen Politik. Die kommenden Jahre werden weitere Zerstörungen, weitere Verheerungen zu Tage fördern. Das Land hat politisch, wirtschaftlich und auch moralisch „alles für den Krieg“ umgebaut. Ohne den Krieg, so macht Putin stets deutlich, werde es Russland nicht mehr geben. Ohne den Krieg gibt es vor allem ihn selbst nicht mehr. Der Krieg ist sein Überleben.

Die Mär einer „konsolidierten Gesellschaft“

Die Wahl, so manipuliert, unfrei und unfair sie auch abgelaufen sein mag, gibt dem alt-neuen Präsidenten noch mindestens sechs weitere Jahre, sich als Oberkrieger zu fühlen, im Kampf in erster Linie gegen die Ukraine, vor allem aber gegen den Westen, den der Kriegsherrscher als dekadent betrachtet. Die 87 Prozent erlauben ihm eine weitere Radikalisierung, wie nach außen so auch nach innen. Er fühlt sich legitimiert und unterstützt von einem Volk, bei dem kaum einer für jemand anderen gestimmt zu haben scheint als für ihn: den allmächtigen Kriegsherr.

Was für eine Zukunft blüht hier meiner kleinen Tochter? Wir haben nun erst recht keine Zukunft.

Eine Frau

Der Kreml verkauft erfolgreich die Mär von einer „konsolidierten Gesellschaft“ und lässt bewusst beiseite, wie gespalten diese ist. Die Rechte seiner Untertanen sind für das Regime Putin reine Verfügungsmasse, einsetzbar je nach Lage der Dinge. Will jemand zum politischen Subjekt werden, wird er ausgelöscht, manchmal ist das wörtlich gemeint. Am Sonntag stellten sich in vielen russischen Städten Tausende von Menschen in Schlangen vor Wahllokalen, um den Mächtigen zu zeigen: „Wir sind da, und wir sind unzufrieden.“ Für den Kreml sind diese Menschen lediglich Fußabtreter, sie sind „Verräter“ und „Extremisten“. Die Aktion habe „keinen wirklichen Effekt“ gezeigt, lässt denn Putin im Gostiny Dwor mitteilen. Für diese Unzufriedenen dürfte es in den kommenden Jahren noch unangenehmer werden, denn der Staat fordert ganz klar „die Einheit des Volkes“ ein: ein Land, ein Präsident, eine Meinung. Es gibt kaum kritische Medien im Land, es gibt keine organisierte Opposition.

Nie verarbeitete Vergangenheit

Bereits an den drei Wahltagen gab es mehr als 70 Festnahmen wegen Störung des Wahlverfahrens. Es dürften mehr dazukommen. Russland hat eine ausgefeilte Gesichtserkennung. Selbst auf dem Friedhof, wo Menschen täglich Blumen für Nawalny ablegen, hängen mehrere Kameras. „Ich war so beschwingt gestern, als ich vor meinem Wahllokal so viele Menschen sah, die meine Werte teilen, ich fühlte mich endlich nicht mehr allein. Heute aber bin ich wieder trostlos, denke doch wieder ans Auswandern. Was für eine Zukunft blüht hier meiner kleinen Tochter? Wir haben nun erst recht keine Zukunft“, sagt eine, die „unglaublich zittert vor der Repressionsmaschine unseres Landes“, wie sie sich beschreibt.

Dass fast 90 Prozent für einen Kandidaten nicht gerade ein Anzeichen eines gesunden politischen Systems sind – in manchen russischen Regionen bekam Putin 99 Prozent –, kümmert den russischen Staat nicht. Für ihn ist der – erzwungene und inszenierte – Wahltriumph eine Legitimation zur weiteren Unterdrückung von Massen, im Geiste einer Vergangenheit, die Russland nie verarbeitet hat.

Das Echo auf Putins Sieg

Der Westen hat die Wiederwahl des russischen Staatschefs Wladimir Putin einhellig als Ergebnis seines unfairen und undemokratischen Wahlprozesses verurteilt. Aus anderen Teilen der Welt kamen jedoch viele Glückwünsche für den Kreml-Chef.
Europäische Union: „Dies waren keine freien und fairen Wahlen“, konstatierte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Putin sei aufgrund von „Unterdrückung und Einschüchterung“ wiedergewählt worden. Ukraine: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete Putin als „machttrunken“ und als „Diktator“ und sprach ihm „jegliche Legitimität“ ab: „Jedem in der Welt ist klar, dass diese Person – so wie es in der Geschichte oft passiert ist – einfach krank vor Macht ist und alles tun wird, um für immer regieren zu können.“
China: Der chinesische Staatschef Xi Jinping hingegen gratulierte Putin und bezeichnete dessen Wahlsieg als Ausdruck der „vollkommenen Unterstützung“ der Russen für ihren Staatschef.
Indien: Der indische Regierungschef Narendra Modi sandte dem Kreml-Chef „herzliche Glückwünsche“ und äußerte die Erwartung, dass Russland und Indien ihre „bewährte besondere und strategische Partnerschaft in den kommenden Jahren weiter verstärken“.
Iran, Kuba, Venezuela: Der iranische Präsident Ebrahim Raisi gratulierte Putin zu seinem „soliden Sieg“. Der kubanische Staatschef Miguel Díaz-Canel nannte Putins Wiederwahl einen „glaubwürdigen Hinweis“ darauf, dass die russische Bevölkerung dessen Amtsführung gutheiße. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro sagte: „Unser älterer Bruder Wladimir Putin hat triumphiert, und das verheißt Gutes für die Welt.“ (AFP)