Anwaltskammer-Präsidentin„Prozesse müssen öffentlich sein“: Valéry Dupong blickt auf das ablaufende Justizjahr

Anwaltskammer-Präsidentin / „Prozesse müssen öffentlich sein“: Valéry Dupong blickt auf das ablaufende Justizjahr
Prozesse müssen öffentlich sein, sagt Anwältin und „Bâtonnière“ Valéry Dupong: „Der Bürger muss zuschauen und kontrollieren können, ob die Justiz unabhängig ist, wie der Prozess abläuft. Das aber war zeitweise nicht mehr überall möglich.“ Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Valéry Dupong ist seit 1987 Anwältin. Seit September 2020 und noch bis Herbst 2022 ist sie „Bâtonnière“, also Präsidentin der Anwaltskammer. Dem Anspruch, der Gerechtigkeit Gehör zu verschaffen, fühlt sie sich nach wie vor verpflichtet. Ihren Beruf würde sie deshalb auch wieder ergreifen, auch wenn die Zeiten und damit auch der Umgang unter Berufskollegen etwas geändert haben. Im Gespräch, kurz vor Schluss des Justizjahres, nennt sie die vergangenen Monate speziell und anstrengend.

Tageblatt: Was war die letzten Monate über anstrengend?

Valéry Dupong: Es war speziell, weil wir hier in der Anwaltskammer nicht unseren üblichen Rhythmus hatten. Vieles konnte nicht erledigt werden. Kontakte mit ausländischen Anwaltskammern fanden nicht statt. Es war alles etwas schwerfälliger …

Konnten Sie als Anwältin arbeiten wie immer oder gab es erschwerende, pandemiebedingte Einschränkungen?

Das war schon etwas komplizierter. Besonders vor Gericht. Viele meiner Kollegen haben sich beklagt, dass sie beim Plädieren eine Maske tragen mussten. In einem Fall habe ich zwei Stunden ohne Unterbrechung geredet. Mit Maske. In einem geschlossenen Raum. Das ist nicht so einfach. Man musste sich auch anpassen, weil vor Gericht spezielle Pandemie-Regeln galten, die wir respektieren mussten.

Und Ihre Arbeit im Dienste Ihres Mandanten?

Auch da waren wir aufgrund der sanitären Maßnahmen etwas eingeschränkt. Wir konnten zum Beispiel immer nur einen Klienten in der Kanzlei empfangen. Vor Gericht ist es so, dass bei Strafprozessen die Leute gerne ihre Angehörigen dabei haben, weil sie sich dann sicherer spüren. Das ging aber nicht immer.

Der Bürger muss zuschauen und kontrollieren können

Valéry Dupong

Das Publikum war in der Tat das eine oder andere Mal etwas eingeschränkt.

Ja, und darauf haben wir als Anwaltskammer in unseren Gutachten zu den Covid-Gesetzen immer wieder hingewiesen. Nämlich, dass man, auch in Covid-Zeiten, anhand der Prozesse zeigen muss, dass die Justiz funktioniert. Das heißt, das Publikum ist sehr wichtig. Seit dem Mittelalter sind Prozesse öffentlich. Zu gewissen Zeiten der Pandemie hatten wir aber ein System, wir mussten da auch mitmachen, bei dem das Publikum nicht zum Prozess zugelassen war. Dabei ist es unentbehrlich, dass die Arbeit der Justiz beobachtet werden kann. Das ist ein Teil des Justizbetriebes. Der Bürger muss zuschauen und kontrollieren können, ob die Justiz unabhängig ist, wie der Prozess abläuft. Das aber war zeitweise nicht mehr überall möglich.

Ab nächster Woche funktioniert das Gerichtswesen etwas reduzierter. Urlaub braucht jeder. Sie auch?

(lacht) Aber ja!

Was hat Sie denn die letzte Zeit am meisten in Anspruch genommen?

(denkt nach) Schwer zu sagen. Es ist so viel passiert. Wir waren sehr beschäftigt mit dem Brexit und seinen Auswirkungen, also zum Beispiel was unsere englischen Freunde in der Anwaltskammer anbelangt. Der angekündigte Besuch des Gafi („Groupement d’action financière“, Anm. d. Red.) hat uns beschäftigt. Dann noch Gespräche mit dem Justizministerium über papierlose Justiz und über eine Reform der Rechtshilfe. Die soll auf einem breiteren Spektrum angeboten werden und sich am Verdienst der Leute orientieren, welche die Hilfe eines Anwalts, vor Gericht beispielsweise, in Anspruch nehmen. Das ist ein sehr bürgernahes Projekt.

Gab es etwas, das Sie besonders begeistert oder gar gefreut hat?

Ja. Eines der schönsten Projekte, die wir im Begriff sind zu machen, hat die Verbesserung des „Service juridique“ zum Ziel. Das ist ein Dienst, der es den Bürgern erlaubt, gratis juristischen Rat einzuholen. Im Moment läuft das immer nur samstagmorgens in der „Cité judiciaire“. Das findet enormen Anklang bei den Leuten. Diese Beratung ersetzt nicht den Anwalt, hilft aber zum Beispiel bei Entscheidungen, ob man Klage einreichen soll oder nicht, einen Anwalt hinzuziehen soll oder nicht. Es ist eine Orientierungshilfe. Es geht zum Beispiel auch um die Frage, ob und in welcher Form sie Anrecht auf vorhin erwähnte Rechtshilfe haben, wie und wo sie beantragen können.

Das wird jetzt ausgebaut?

Ja, wir denken darüber nach, die Beratung zwei- bis dreimal die Woche anzubieten.

Und sie wird wirklich gebraucht?

Ja! Ich habe diese Beratung selber gemacht und muss sagen, da war niemand dabei, der nicht in irgendeiner Form juristischen Rat gebraucht hat. Das ist wirklich ein tolles Projekt, die Generalstaatsanwaltschaft macht auch mit, das Justizministerium ebenso.

Die Doppelrolle als Anwältin und Präsidentin der Anwaltskammer erledigen Sie mit links?

(lacht) Ich bin immer froh, dass sie mich in der Kanzlei noch haben wollen.

„Bâtonnière“ sein fordert also viel Zeit?

Ja, sehr viel, rund drei Viertel.

Woraus besteht denn die Arbeit?

Meine Hauptaufgabe ist es, die Anwaltskammer und ihre Mitglieder nach außen zu vertreten. Wenn es sich um eine Problematik dreht, die alle Anwälte etwas angeht, dann vertrete ich dort unsere Meinung. Ich bin auch die Vorsitzende des „Conseil de l’ordre“. Dieses Gremium verfasst Gutachten, entscheidet in Disziplinarfällen.

Im Vorgespräch sagten Sie, dass die Anwaltskammer jetzt 3.105 Mitglieder zählt. Ganz schön viele.

Die Zahl muss man genauer unter die Lupe nehmen. Mit unserem großen Finanzbereich haben wir in Luxemburg schon eine etwas speziellere Situation. Dort arbeitet ein großer Teil der Anwälte und die treten nicht unbedingt in Streitsachen vor Gericht auf. Sie sind eher in einer beratenden Funktion tätig, zum Beispiel als Spezialisten für Banken und Finanzinstitute, unter anderem bei Steuerfragen. Das ist ein Bereich, den es sonst nicht gab.

Sie deuteten auch an, dass es einigen Kollegen finanziell nicht gut gehe …

… es gibt einige, die pandemiebedingt Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen. Denen versuchen wir als Anwaltskammer zu helfen.

Auf der Webseite Ihrer Kanzlei trifft man gleich zu Beginn auf einen schönen Satz: „Die Gerechtigkeit erhebt ihre Stimme, aber sie hat Mühe, sich im Aufruhr der Leidenschaften Gehör zu verschaffen“. Der Satz spornt Sie an?

Ja, der Satz motiviert. Er drückt aus, was ein Anwalt eigentlich machen soll, nämlich der Gerechtigkeit Gehör zu verschaffen.

Es ist bestimmt nicht immer leicht, sich im Aufruhr der Leidenschaften durchzusetzen. Es kommt ja auch nicht oft vor, dass Sie, wie jüngst bei einem Prozess, vom vorsitzenden Richter gebeten werden, Ihre Kollegen zur Ordnung zu rufen?

Dabei ist das „zur Ordnung rufen“ eigentlich die Pflicht der „Bâtonnière“. Wenn es zum Beispiel vor Gericht einen Konflikt zwischen zwei Anwälten gibt, dann werde ich gerufen, um zwischen den beiden zu schlichten. In dem Zusammenhang muss man sagen, dass wir einen Eid geleistet haben, demzufolge wir die Gerichte zu respektieren und brüderlich miteinander umzugehen haben. Wir sollen ehrenhaft bleiben, eine gewisse Distanz halten, Würde. Wenn die Kollegen sich nicht daran halten, werden sie zur Ordnung gerufen und riskieren in schlimmeren Fällen ein Disziplinarverfahren. Manchmal reicht aber auch meine Anwesenheit, damit sie sich an ihre Pflicht erinnern.

Sie sind nicht die erste „Bâtonnière“ in der Geschichte der Luxemburger Anwaltskammer?

Nein, bereits die sechste.

Beim eben erwähnten Prozess musste sich vor zwei Wochen ein Anwalt verteidigen, weil er einen Untersuchungsrichter bedrängt oder dessen Arbeit behindert haben soll. Gebeten einzuschreiten, wurden Sie, weil sich zahlreiche Anwälte aus Solidarität zu ihrem beschuldigten Kollegen versammelt hatten und es im Saal etwas hoch herging. Sie wirkten da etwas hin- und hergerissen? „Bâtonnière“ oder Anwältin?

Nein, eigentlich nicht. Der „Conseil de l’ordre“ hatte mich beauftragt, ein paar Worte im Gerichtssaal zu sagen, um zu beruhigen und zu erklären, warum dieser Prozess uns Anwälte und auch die gesamte Anwaltskammer stark interessiere.

Das heißt?

Weil es beunruhigend ist, wenn ein Anwalt, der eigentlich seine Arbeit macht, wegen etwas, was er während seiner Arbeit gemacht hat, vor ein Strafgericht zitiert wird. Das macht Angst.

Aber ein Anwalt darf doch auch nicht alles machen?

Nein, er darf nicht alles machen, aber im Gesetz steht: „Il est libre de ses moyens.“ Er muss natürlich die Gesetze respektieren, hat aber eine gewisse Unabhängigkeit in seinem Handeln. Das gehört zu einer Diskussion, die momentan sehr aktuell ist, nämlich über die Unabhängigkeit der Justiz und die der Anwälte. Nicht umsonst hat sich die Europäische Kommission das jetzt auf die Fahne geschrieben. Zu dieser Unabhängigkeit gehört, dass ein Anwalt den Mund auftun und auf Missstände hinweisen kann. Denn wenn er ob verschiedener Äußerungen jedes Mal vor ein Strafgericht zitiert würde, was soll er dann machen? Dann äußert er sich nicht mehr. Das schadet in erster Linie seinem Mandanten. Wenn der Anwalt nicht mehr unabhängig ist, wenn er Angst haben muss, dann verteidigt er seinen Mandanten nicht mehr oder nicht mehr, wie er soll. Dann denkt der Anwalt an sich und nicht mehr an seinen Mandanten. Ich weise darauf hin, dass dem betreffenden Anwalt hier in dieser Sache kein deontologischer Fehler nachgewiesen wurde.

Es ist ja nicht Ihr erster Kampf um den Berufsstand des Anwalts. Vor geraumer Zeit ging es um das Berufsgeheimnis bei Steuerdossiers. Ist das geregelt?

Das spezifische Dossier, um das es damals ging, ist geregelt. Wir merken aber immer wieder und wir müssen immer wieder erklären, wie wichtig dieses Berufsgeheimnis ist. Wozu ist es gut? Warum ist es wichtig, dass sich der Klient seinem Anwalt in aller Intimität anvertrauen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass das, was er sagt, an die Öffentlichkeit gerät? Das ist etwas, wo wir das eine oder andere Mal Schwierigkeiten haben, den Ministerien oder der Öffentlichkeit zu erklären, warum das so ist. Das Berufsgeheimnis schützt ja nicht den Anwalt, sondern den Klienten. Es ist die Basis unseres Berufes, unserer Unabhängigkeit und in fine jene der Justiz … Wenn wir das nicht haben, dann haben wir kein Gleichgewicht mehr zwischen der Justiz und den anderen Gewalten. Es scheint natürlich sehr verlockend, je nachdem, einfach auf das Dossier des Anwalts zuzugreifen, um an Informationen zu gelangen. Aber nein, so einfach darf das nicht sein!

Der Satz um Gerechtigkeit und Leidenschaft stammt von Montesquieu. Dessen Name ist eng mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verbunden. Auch mit dem Begriff der Gewaltentrennung. Ist die im Fall Anwalt/Untersuchungsrichter gegeben? Der Anwalt hat ja immerhin gleich zwei Minister angeschrieben sowie die Generalstaatsanwältin in Kopie gesetzt?

Die Gewaltentrennung ist ein Prinzip, das wir hier in Luxemburg haben und auch pflegen. Der Anwalt ist aber weder ein Teil der Justiz noch der Exekutive und auch nicht der Legislative. Das heißt, der Anwalt ist nicht gebunden an irgendwelche Regeln der Gewaltentrennung.

Aber dass sich ein Untersuchungsrichter auf den Schlips getreten fühlt, weil ein Anwalt einen Brief an Minister schreibt, kann man das nicht nachvollziehen?

Wir haben dazu unsere Meinung gesagt. Es ist jetzt auch schwierig, mehr zu sagen, da dieser Prozess noch nicht vorbei ist.

Anderes Thema. Es ist ein Gefühl, ein Eindruck: Erleben wir einen Generationswechsel unter den Akteuren vor Gericht, gar eine Veränderung des Justizwesens?

Wir haben meiner Meinung nach immer mehr Akteure. Wir haben deutlich mehr Richter, mehr Anwälte. Die Zahl ist enorm gestiegen und die Leute kennen sich nicht mehr. Früher haben Gruppen von vielleicht 30 bis 50 Leuten gemeinsam ihre Juristenkarriere begonnen. Die einen wurden Richter, die anderen blieben Anwalt oder wurden später Notar, fanden einen Arbeitsplatz bei der Regierung oder im Privatsektor, wie auch immer, aber die Leute haben sich gekannt. Das ist heute anderes. Vielleicht ist dadurch auch das Verständnis zwischen Anwälten und Richtern und umgekehrt etwas verloren gegangen. Es gibt auch weniger Austausch unter den Anwälten selber. Gute Kontakte haben früher vielleicht dazu beigetragen, im Interesse des Kunden einiges zu beschleunigen oder gar zu einer außergerichtlichen Einigung zu gelangen. Ich möchte aber auch sagen, dass Anwälte und Richter heute extrem gut zusammenarbeiten. Zum Beispiel gibt es gemeinsam mit dem Zentrum für politische Erziehung ein Projekt, wo Schüler einen ganzen Tag aufs Gericht kommen können, sich einen Prozess anschauen, selber einen Prozess vorbereiten und durchspielen sowie sich anschließend mit Vertretern der verschiedenen Berufsgruppen unterhalten.

Stichwort moderne Gesetze: Die Justizministerin ist ja dabei, den „Code civil“ zu überarbeiten – wo müsste Ihrer Meinung nach allgemein der Hebel angesetzt werden?

Einiges ist ja bereits passiert. Es hat Vereinfachungen von Prozeduren gegeben. Andere werden folgen. Damit wir Sachen schneller über die Bühne bekommen, die Leute schneller eine Antwort erhalten. Wichtig ist auch die Idee, den Richtern eine Art Fachberater zur Seite zu stellen, um beispielsweise Nachforschungen anzustellen. Das ist besonders wichtig, wenn sie in verschiedenen komplexen Affären einer ganzen Armada von hoch spezialisierten Anwälten gegenübersitzen. Das muss man unterstützen, denn es geht in die richtige Richtung. Was den „Code civil“ angeht, so ist es wichtig, ihn zu reformieren, da er schon lange nicht mehr reformiert wurde. Da bedarf es eines neuen frischen Blickes. Die moderne Welt muss jetzt auch ins Zivilrecht und ins Strafrecht hineinkommen. Wir sind froh, als Anwaltskammer mit unseren Gutachten zu dieser Entwicklung beitragen zu können.

Würden Sie den Beruf der Anwältin noch einmal wählen?

Ja, sofort! Ich übe einen liberalen Beruf aus, da darf ich so viel arbeiten, wie ich mag. Also nach oben besteht keine Grenze, wie ich immer sage. (lacht)

Die Anwaltskammer in Zahlen

– 3.105 Anwälte
– 48% Frauen und 52% Männer
– 196 Kanzleien
– 44% Franzosen, 26% Luxemburger, 12% Belgier, 7% Deutsche und 46 andere Nationalitäten
An der Spitze der Anwaltskammer stehen die „Bâtonnière“ und 14 weitere Mitglieder des „Conseil de l’ordre“.
Die „Maison de l’Avocat“ zählt 21 Mitarbeiter.