Nach den Wahlen droht im Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina eine neue Verfassungskrise

Nach den Wahlen droht im Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina eine neue Verfassungskrise
Im Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina bleibt trotz Wahlen das politische Zusammenleben schwierig

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Fast 7.500 Kandidaten für 518 Ämter: Trotz eines sehr aufwendigen Stimmenstreits um die zahlreichen Fleischtröge ist im Staatslabyrinth von Bosnien und Herzegowina auch nach den Wahlen kaum mit einem Aufbruch in bessere Zeiten zu rechnen. Im Gegenteil: Es droht eine neue Verfassungskrise.

Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Belgrad

Egal, wer sich nach den Wahlen in Bosnien und Herzegowina als Sieger feiert (Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor): Das Ende der Dauermisere ist im krisengebeutelten Vielvölkerstaat auch 23 Jahre nach Kriegsende nicht in Sicht. Arbeitslosigkeit, Armut, Vetternwirtschaft und Perspektivlosigkeit sind es, die stets mehr Bosnier auf Emigration als einzige Option auf ein besseres Leben setzen lässt. „Unzufriedene kämpfen hier nicht mehr um Veränderungen, sondern verlassen das Land“, sagt der Analyst Srdjan Puhalo in Banja Luka: „Und das kommt den politischen Eliten entgegen.“

Fast 7.500 Kandidaten buhlten bei den Wahlen mit einer aufwendigen Materialschlacht um 518 Ämter auf Landesebene, in den Teilstaaten und Kantonen. Doch obwohl die Stimmenjäger mit Versprechen auf ein besseres, sicheres und wohlhabenderes Bosnien nicht geizten, scheinen die Zentrifugalkräfte in dem von bewusst geschürten ethnischen Spannungen geplagten Staatskonstrukt weiter stärker als dessen Zusammenhalt.
Das Wohl des gesamten Staats hat in der geschäftstüchtigen Politikerkaste bei der Hatz nach den einträglichen Fleischtrögen niemand im Blick: In dem geteilten Land wurde der Wahlkampf von den Politikern der muslimischen Bosniaken, bosnischen Serben und Kroaten zwar wieder mit gegenseitigen Vorwürfen, aber erneut völlig getrennt voneinander geführt.

Außer den gewohnten Drohungen einer Sezession des Teilstaats der Republika Srpska brachte deren starker Mann Milorad Dodik dieses Mal gar den Anschluss ans serbische Mutterland ins Spiel. Unklar war bis zur Schließung der Wahllokale allerdings die Frage, wie sich die anhaltenden Proteste zur Aufklärung des von der Polizei offensichtlich vertuschten Mords an dem Studenten David Dragicevic auf seine Kandidatur für den serbischen Sitz im dreiköpfigen Staatspräsidiums ausgewirkt haben.

Wahlverlierer wird Gültigkeit anfechten

Während der kroatische Platzhirsch Dragan Covic im Wahlkampf auf die Schaffung eines eigenen Teilstaats für die bosnischen Kroaten pochte, drohte sein muslimischer Gegenspieler Bakir Izetbegovic mit der Verteidigung der Staatsintegrität unter allen Umständen. Sollte Covic seine angestrebte Wiederwahl als kroatischer Vertreter ins dreiköpfige Staatspräsidium gegen den auch von muslimischen Bosniaken unterstützten Gegenkandidaten Zeljko Komsic verpassen, hat er bereits die Blockade der Regierungsbildung auf Landesebene und im Teilstaat der muslimisch-kroatischen Föderation angedroht.

Da vor dem Urnengang die vom Verfassungsgericht angeordnete Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes ausgeblieben ist, könnten auch andere Wahlverlierer die Gültigkeit der Wahlen anfechten lassen – und das Land in eine neue und tiefe Verfassungskrise stürzen. Doch auch wenn diese vermieden werden sollte, ist auf fast allen Staatsebenen mit schwierigen und monatelangen Koalitionsverhandlungen zu rechnen.

Wer die Verantwortung für Missstände trage, könne von den Wählern angesichts der Tatsache, dass fast jede Partei auf irgendeinem Niveau an der Macht beteiligt sei, in Bosniens Politlabyrinth kaum mehr ausgemacht werden, erklärt Puhalo Apathie und Politikverdruss. Nicht nur wegen der zahlreichen Überläufer und Koalitionswechsel hätten viele das Gefühl, dass im Parteienstaat „alle Politiker gleich“ seien. Egal, ob Regierung oder Opposition, ob frühere oder heutige Machthaber – Korruption und Vetternwirtschaft präge fast alle Parteien: „Diejenigen, die an die Macht gelangen, verhalten sich sehr schnell so wie die von ihnen kritisierten Vorgänger. Auch das schreckt die Leute von Wahlen ab.“