UkraineMoskau erkennt „Kriegszustand“ an – Massive russische Angriffe auf zivile Infrastruktur

Ukraine / Moskau erkennt „Kriegszustand“ an – Massive russische Angriffe auf zivile Infrastruktur
Feuerwehrleute versuchen nach einem russischen Angriff ein Feuer in einem Elektrizitätswerk bei Charkiw zu löschen Foto: Sergej Bobok/AFP

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Russland hat mehr als zwei Jahre nach seiner Invasion in der Ukraine erstmals eingeräumt, dass es sich „im Kriegszustand“ befindet.

In einer massiven Angriffswelle schoss Russland in der Nacht zum Freitag fast 90 Raketen und mehr als 60 Kampfdrohnen auf das Nachbarland ab und traf Dutzende Energieanlagen in der Ukraine. Hunderttausende Menschen waren dort daraufhin ohne Strom. Moskau sprach von „Vergeltung“ für die jüngsten ukrainischen Angriffe auf russische Einrichtungen. Mindestens fünf Menschen wurden nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums und lokaler Behördenvertreter durch die russischen Angriffe getötet, mehr als 20 weitere verletzt.

„Wir befinden uns im Kriegszustand“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in einem am Freitag veröffentlichten Interview mit der russischen Wochenzeitung Argumenty i Fakty: „Ja, das hat als militärische Spezialoperation begonnen, aber seit (…) der gesamte Westen auf Seiten der Ukraine beteiligt ist, ist es für uns ein Krieg geworden.“

Bisher hatte die russische Führung es abgelehnt, den Ukraine-Konflikt als „Krieg“ zu bezeichnen. Stattdessen nannte der Kreml die im Februar 2022 begonnene Offensive eine „militärische Spezialoperation“. „Rechtlich betrachtet ist es eine militärische Spezialoperation, aber de facto ist es zu einem Krieg geworden“, betonte der Kreml-Sprecher später. Moskau wirft dem Westen immer wieder eine direkte Kriegsbeteiligung vor, weil er die Ukraine mit Waffen beliefert.

Das Verteidigungsministerium in Moskau bezeichnete die Angriffe vom Freitag als „Vergeltung“ für die jüngsten ukrainischen Angriffe. Sie hätten „Energieanlagen, Anlagen der Rüstungsindustrie, Eisenbahnknotenpunkten und Waffenlagern“ gegolten. „Alle Ziele des massiven Angriffs wurden erreicht“, erklärte das Ministerium.

Das staatliche Energieversorgungsnetz Ukrenergo sprach von dem bislang „größten bekannten“ Angriff auf das Energienetz der Ukraine. In mindestens drei Regionen des Landes waren hunderttausende Menschen ohne Strom.

US-Republikaner blockieren weiter Militärhilfe

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ersuchte den Westen erneut um mehr Waffen und kritisierte, Ukrainer müssten die politische „Unentschlossenheit“ mit ihrem Leben bezahlen. Die Ukraine benötigt Nachschub sowohl bei der Luftabwehr als auch bei der Munition für die Kämpfe am Boden. Im US-Kongress wird seit Monaten ein Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 60 Milliarden Dollar (rund 55 Millionen Euro) blockiert. „Russische Raketen haben keine Verspätung wie Hilfspakete für unser Land. Die Schahed(-Drohnen) sind nicht unschlüssig wie manche Politiker“, erklärte Selenskyj.

Das Weiße Haus rief die oppositionellen Republikaner auf, dem Hilfspaket im Kongress endlich zuzustimmen. Die Republikaner müssten ihre „unentschuldbare“ Blockade der Militärhilfen für Kiew beenden, forderte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson.

Die ukrainische Luftwaffe fing in der Nacht eigenen Angaben zufolge 37 von 88 Raketen und 55 von 63 Drohnen ab. Durch die Angriffe fielen in der nordöstlichen Großstadt Charkiw Strom und Heizung komplett aus, wie der Bürgermeister mitteilte. In der westlichen Region Chmelnyzky waren mindestens 200.000 Menschen und in der südlichen Region Odessa rund 260.000 Menschen von Stromausfällen betroffen.

Russland versuche „wie im vergangenen Jahr ein umfassendes Versagen des Energiesystems“ der Ukraine zu verursachen, erklärte de ukrainische Energieminister German Galuschtschenko. Im vergangenen Winter hatte Russland täglich Luftangriffe auf das ukrainische Energienetz geflogen. Millionen Menschen waren bei Temperaturen unter null Grad Celsius immer wieder stundenlang ohne Strom und Heizung gewesen. In diesem Jahr hielt das Energienetz des Landes weitgehend stand. Ministerpräsident Denys Schmyhal sagte am Freitag, die Lage im Energiebereich sei weiter „unter Kontrolle“. Dem Energieminister zufolge halfen Rumänien, die Slowakei und Polen mit Strom aus.

Wasserkraftwerk schwer beschädigt

Durch die Angriffe wurde vorübergehend auch eine von zwei Hochspannungsleitungen durchtrennt, die das Atomkraftwerk Saporischschja im Südosten der Ukraine mit Strom versorgen. Das Atomkraftwerk in Saporischschja ist das größte Europas. Es war kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine von russischen Truppen besetzt worden, wird aber von ukrainischen Leitungen mit Strom versorgt. Seit Kriegsbeginn gab es zahlreiche Stromausfälle in dem AKW, bei denen auf Notgeneratoren und Sicherheitssysteme zurückgegriffen wurde.

Das Wasserkraftwerk am Dnipro, das größte des Landes, wurde von acht Raketen getroffen, die „sehr schwere Schäden“ verursacht hätten, teilte die ukrainische Staatsanwaltschaft mit. Ein Dammbruch drohe aber nicht, für die Bevölkerung bestehe keine unmittelbare Gefahr.

Der Kommandeur des ukrainischen Heeres hält eine russische Offensive im Sommer für möglich. Die russischen Streitkräfte seien dabei, „eine Gruppe von mehr als 100.000 Personen zusammenzustellen“, sagte General Oleksander Pawljuk.

Dutzende Tote bei „terroristischem Attentat“

In einem Konzertsaal am Rande der russischen Hauptstadt ist nach Darstellung Moskaus ein „blutiges terroristisches Attentat“ mit dutzenden Toten und Verletzten verübt worden. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB sprach am Freitagabend von mindestens 40 Toten und mehr als hundert Verletzten. Zunächst hatten russische Medien berichtet, in dem Veranstaltungsort im Vorort Krasnogorsk hätten Unbekannte in Tarnkleidung das Feuer eröffnet, anschließend sei ein Feuer ausgebrochen.

„Die gesamte Weltgemeinschaft muss dieses verabscheuungswürdige Verbrechen verurteilen“, schrieb die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa im Onlinedienst Telegram. Bürgermeister Sergej Sobjanin sprach von einer „schrecklichen Tragödie“. Laut der Nachrichtenagentur Tass griff eine „unbekannte Zahl von Menschen“ mit Schüssen in der Halle an, in der die russische Rockgruppe Piknik gerade ein Konzert gab. Der Veranstaltungsort sei evakuiert worden. Ein Reporter der Nachrichtenagentur Ria Nowosti vor Ort sprach von „automatischem Gewehrfeuer“, das Bewaffnete in Tarnkleidung abgegeben hätten. Auslöser des Feuers sei eine Granate oder eine Brandbombe gewesen. Die Schüsse hätten 15 bis 20 Minuten angedauert, hieß es demnach weiter.

Viele Besucher des Konzerts hätten sich ins Freie retten können. Nach Angaben des russischen Katastrophenschutzministeriums konnte die Feuerwehr rund hundert Menschen durch den Keller in Sicherheit bringen. Die den Sicherheitskräften nahestehenden Kanäle Basa und Masch im Onlinedienst Telegram veröffentlichten Videos, auf denen große schwarze Rauchschwaden und aus dem Gebäude schlagende Flammen zu sehen waren. Laut der Nachrichtenagentur Tass stand ein Drittel des Gebäudes in Flammen. Die USA erklärten, dass es aus ihrer Sicht „derzeit keine Anzeichen“ für eine Verwicklung der Ukraine in das Geschehen gebe. „Es gibt derzeit keine Anzeichen darauf, dass die Ukraine oder Ukrainer in den Schusswaffenangriff verwickelt sind“, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby. „Ich würde Ihnen zu einem so frühen Zeitpunkt davon abraten, irgendeine Verbindung zur Ukraine herzustellen“, fügte er hinzu.

Russland war in der Vergangenheit unter anderem Ziel von Anschläge islamistischer Gruppen, aber auch von Angriffen, die psychisch gestörten Menschen zugeschrieben wurden. Im Jahr 2002 hatten tschetschenische Kämpfer im Moskauer Dubrowka-Theater 912 Menschen als Geiseln genommen, um den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien zu fordern. Die Geiselnahme endete mit einem Angriff von Spezialeinheiten und dem Tod von 130 Menschen, von denen fast alle an dem vom Militär verwendeten Gas erstickten. (AFP)